Die gegenwärtigen nationalistischen Entwicklungen in einigen westlichen Gesellschaften fordern die Demokratien enorm heraus. Nach dem Fall der Mauer galt vielen die liberale Demokratie als das globale Erfolgsmodell schlechthin. Seit einigen Jahren mehren sich angesichts der populistischen Verzerrungen die Stimmen, die diese These anfragen. Sind Demokratien wirklich vor grundlegenden Krisen gefeit und gelten sie weiter als das beste Modell politischer Ordnung weltweit?
Vor dem Hintergrund dieser kritischen Einwürfe gilt es zuerst zwei Aspekte festzuhalten: Der Politologe Wolfgang Merkel weist in aktuellen Debatten immer wieder darauf hin, dass der Krisenbefund seit 2.000 Jahren zur Demokratie dazugehört. Seit Plato und Aristoteles wird auch über grundlegende Probleme der Demokratie diskutiert, die nicht selten in einen Krisenbefund münden. Wenn man sich diese Debatten anschaut, dann zeigt sich, dass diese Krisen um so gravierender erscheinen, je dicker das Konzept von Demokratie ist. Wenn man zu Demokratien nicht nur freie Wahlen zählt, sondern auch einen weiter gefassten Grundrechtsschutz, Narrative von Gerechtigkeit oder vielfältige Formen der Partizipation, erscheinen die Probleme größer als wenn man nur ein dünnes Konzept verwendet. In dieser zweiten Hinsicht kann man nach wie vor festhalten, dass Demokratien zu der beliebtesten Staatsform weltweit zählen.
Zweitens hat sich der Kontext der Demokratie in den vergangenen Jahren massiv verändert. Waren im 20. Jahrhundert Demokratien vor allem innenpolitisch ausgerichtet, sind sie heute besonders herausgefordert, sich in globalen Prozessen und Strukturen zu bewegen. Die gegenwärtig drängenden Themen sind globaler Natur. Die vielfältigen Krisen der letzten 20 Jahre – von der Finanzkrise über globalen Terrorismus bis hin zur Klimakrise – sind Spiegel hiervon. Die brisanten Themen der Gegenwart sind nicht mehr rein innerstaatlich, sondern haben immer auch – und oftmals sogar primär – einen globalen Aspekt.
Die politischen Antworten auf diese globalen Entwicklungen sind hoch umstritten. Sie provozieren teils eine Rhetorik, die weit jenseits der demokratischen Kultur liegt, beispielsweise wenn von „Flüchtlingslawinen“ die Rede ist oder Angst vor the kriminellen Muslimen geschürt wird. Die Frage, die sich augenscheinlich stellt, ist, wie Demokratien auf diese globalen Krisen antworten sollten, und ob sie dafür überhaupt gerüstet sind. Überfordern also globale Krisen Demokratien, und sind sie deswegen nicht mehr das globale Erfolgsmodell schlechthin?
Die These dieses Beitrages lautet: Die scheinbare Überforderung der Demokratie hängt an einer defizitären Interpretation des Politischen. Die Brille, mit der heute meist auf politische Ereignisse geblickt wird, stammt aus einer anderen Zeit, und sie ist nur bedingt geeignet, die Welt, wie sie heute ist, zu verstehen. Für die Entwicklung einer neuen Interpretationsfolie kann die Philosophie Hilfestellungen geben, um die Tiefenstrukturen und Dynamiken einer global vernetzten Welt zu verstehen und politische Antworten zu geben. Hierzu braucht es eine umfassende Reflexion des gesellschaftstheoretischen, ethischen und politischen Selbstverständnisses moderner Gesellschaften. (Den folgenden Überlegungen liegt ein Beitrag des Autors aus den Voices of the time zugrunde; 234/3, 147-158).
Die Suche nach einem angemessenen Gesellschaftsverständnis
Die Philosophie denkt seit vielen Jahrzehnten darüber nach, wie ein angemessenes Verständnis moderner Gesellschaften theoretisch gefasst werden kann. Dabei wurden unterschiedliche Gesellschaftsverständnisse entwickelt, die sich auch im politischen Alltag widerspiegeln. Exemplarisch unterscheidet Charles Taylor ein atomistisches und ein vergemeinschaftetes Gesellschaftsverständnis. In dem ersten Modell wird Gesellschaft als die Summe der in ihr handelnden Bürger interpretiert. Diese sind eigenständig und erst einmal unabhängig voneinander. Im Zentrum der Gesellschaft steht dann das atomistische Individuum; das Interaktionsgeflecht zwischen diesen wird als sekundär gedeutet. Dem klassischen Liberalismus liegt dieses Gesellschaftsmodell zu Grunde, beispielsweise in seinem Fokus auf die Freiheit des einzelnen Bürgers.
Das zweite Modell, das Taylor identifiziert, deutet als zentrales Merkmal der Gesellschaft das einende Band zwischen den Bürgern. Taylor nennt dies auch eine holistische Vorstellung, die sich mehr auf Gemeinschaft und weniger auf Gesellschaft im Sinne der Summe handelnder Bürger bezieht. Die vergemeinschaftete Gesellschaft wird an geteilten Werten, gemeinsamen Handlungseinstellungen oder kulturellen Traditionen festgemacht.
Beide Modelle, so die These, implizieren ein verkürztes Bild von Gesellschaft. Das erste Modell vernachlässigt die unauflösbare soziale Verwobenheit der Menschen. Diese sind nämlich immer schon eingebunden in soziale Praktiken und Diskurse, die sie erst zu dem werden lassen, was sie sind. Aber diese Vernetzungen sind auch nicht so einheitlich, wie das zweite Modell nahezulegen scheint. Denn das gemeinsame Band ist heute immer schon plural. Menschen sind Teil unterschiedlicher, sprachlich gefasster Handlungspraktiken und leben in diesen. Gesellschaft kann deshalb am besten als plurales Zusammenspiel unterschiedlicher Praktiken und Diskurse verstanden werden. Menschen sind gleichzeitig Teil unterschiedlicher (versprachlichter) Praktiken.
Von diesen unterschiedlichen Praktiken und Diskursen aus deuten Menschen Gesellschaft und die mit ihr gegebenen Problemlagen. Das zentrale Merkmal dieser Deutungen ist ihre Pluralität. Es gibt verschiedene Bezugspunkte, von denen aus Bürger auf Gesellschaft und ihre Krisen blicken und diese interpretieren. Dies gilt umso mehr in einer vernetzten und interkulturell geprägten Welt. Menschen sind Teil der Globalisierung und damit Teil eines komplexen und hochdynamischen Netzes an Verbindungen jenseits traditioneller Grenzen.
Demokratien tun sich schwer mit einem solchen global vernetzten Gesellschaftsbild. Ihre politischen Antworten auf globale Krisen sollten allerdings diese gesellschaftliche Ausgangsbedingung ernst nehmen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Gesellschaften können heute weder als homogene Blöcke noch als Summe atomisierter Bürger verstanden werden. Beide Deutungen gehen an der (welt-) gesellschaftlichen Realität vorbei. Angesichts globaler Krisen sollte diese Einsicht auch im politischen Alltag mehr Beachtung geschenkt werden als bisher. Der Philosoph Stephen Toulmin stellte deshalb bereits Ende der 1980er Jahre fest: Menschen leben heute in einer Kosmopolis, ob sie es wollen oder nicht.
Ethik jenseits nationalstaatlicher Begrenzungen
Philosophen reflektieren als Ethiker menschliches Handeln hinsichtlich seiner normativen Dimension. Die Leitfragen der traditionellen Ethik sind dann, welche (soziale) Formierung Normativität aufweist, wie sie sich in der Sprache ausdrückt und schlussendlich, ob es allgemeingültige moralische Prinzipien zur Beurteilung menschlichen Handelns gibt. Diese universale Stoßrichtung der (normativen) Ethik ist wichtig und in weiten Teilen auch überzeugend. Viele Ansätze weisen dabei dennoch zwei grundsätzliche Probleme auf, die sich wiederum auch in gesellschaftlichen Debatten widerspiegeln.
Das erste Problem besteht darin, dass Ethiken zwar oftmals für allgemeingültige Prinzipien argumentieren, sie aber gleichzeitig nationalstaatliche Begrenzungen implizieren, beispielsweise wenn normative Prinzipien vor dem Hintergrund einer Kultur begründet und davon ausgehend universalisiert werden. Die Diskursethik von Jürgen Habermas ist ein Beispiel hierfür. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt bei einer intersubjektiven Wendung der Kantischen Ethik. Habermas argumentiert vor dem Hintergrund des Konzeptes der kommunikativen Vernunft für einen universalen Geltungsanspruch moralischer Aussagen, und zwar wenn alle von diesen Fragen betroffenen Menschen unter fairen Diskursbedingungen zustimmen können. Die intersubjektiv konzeptualisierte Vernunft ermöglicht eine Einigung in diesen Fragen, wobei Habermas annimmt, dass sich das vernünftigste Argument durchsetzen wird. Gleichzeitig enthält sich Habermas einer ethischen Aussage über Wertvorstellungen in der privaten Lebenswelt des Menschen. Diese ethische Enthaltsamkeit im privaten Raum spiegelt seine liberale Grundhaltung wider.
Der zentrale Punkt an diesem Ansatz ist, dass die meisten als relevant eingestuften Normfragen die Bürger einer Gesellschaft betreffen – das heißt, sie sind diejenigen, die Habermas bei allem Abstraktionsniveau der Diskursethik implizit vor Augen hatte. Damit wird die theoretische Begründungsfigur der Diskursethik implizit an die nationalgesellschaftlichen Formationen gebunden. Zwar war Habermas einer der ersten führenden Philosophen, die sich seit den 1980er Jahren sehr detailliert mit der einsetzenden Globalisierung beschäftigt haben. Er scheint allerdings letztlich zurückhaltend zu sein, ob der Diskurs als ethische Begründungsfigur als ein Diskurs aller Weltbürger philosophisch angemessen konzeptualisiert werden kann.
Die interkulturelle Philosophie macht auf eine weitere Implikation der Diskursethik aufmerksam. Autoren wie Ram Adhar Mall kritisieren, dass Habermas die kulturellen Ausgangsbedingungen der (wenn auch fiktiv gedachten) Diskurse zu wenig thematisiert. Denn Diskurse als Begründung von Normen sind immer kulturell geprägt. Dies drückt sich zum Beispiel schon in der unterschiedlichen Weise des Sprechens aus, die sich in Diskursen zeigen. Interkulturell betrachtet muss deswegen das Konzept der kommunikativen Vernunft noch einmal kulturell zurückgebunden und pluralisiert werden.
Die skizzierten nationalstaatlichen beziehungsweise kulturellen Implikationen zeigen sich am deutlichsten bei den politisch-philosophischen Konsequenzen dieser Debatten, denn meist ist die liberale Demokratie die Schwester der Diskursethik. Deswegen plädieren viele Ethiker ausgehend von der Diskursethik für eine Globalisierung der westlich-liberalen Demokratie als politischem Herrschaftsmodell. Diese Debatte zeigt deutlich die nationalstaatlich geprägten Verwurzelungen einer diskursethischen Grundlegung der politischen Philosophie. Natürlich ist der Einsatz für die Demokratie als politische Ordnungsform vor unserem kulturellen Selbstverständnis her plausibel und richtig. Ob es sich dabei allerdings um die einzig legitimierbare Form handelt und wie kulturelle Alternativen aussehen können, wird meist zu wenig diskutiert.
Ein zweites Problem gegenwärtiger Ethikansätze spielt in dieses Themenfeld hinein. Dieses Problem besteht darin, dass viele Ethiken oftmals mit einer top-down-Logik argumentieren. Abstrakte Begründungsfiguren sichern zuerst die Universalität moralischer Prinzipien. Das Ziel ist die Bestimmung möglichst eindeutiger Prinzipien, die universale Geltung beanspruchen. Diese theoretisch begründeten Prinzipien werden dann in einem zweiten Schritt auf die „nicht-ideale“ Welt angewendet. Das Problem dabei ist ein Zweifaches. In einem deskriptiven Sinne werden mit dieser Methode die spezifischen Eigenheiten des jeweiligen gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Feldes zu wenig beachtet. Außerdem werden die pluralen Praktiken mit ihren unterschiedlich akzentuierten normativen Potenzialen in ihrer Bedeutung für ethische Reflexion unzureichend in den Blick genommen.
Globale Krisen fordern vor diesem skizzierten Hintergrund die Ethik zweifach heraus: Zum einen sollten ethische Argumentationen und Begründungsfiguren explizit die neue globale Ausgangsbedingung verarbeiten. Dies bedeutet zuerst, dass nationalstaatliche Implikationen traditioneller Ethikansätze offengelegt und kritisch diskutiert werden sollten. Die interkulturell ausweisbare Vielfalt ethischer Prinzipien und Begründungen ist ein Potenzial, keine Grenze. Ein ausschließlich aus der westlichen Tradition heraus begründeter ethischer Universalismus sollte deswegen nicht automatisch globalisiert, sondern interkulturell übersetzt und ausbuchstabiert werden. Zum anderen sollten sich Ethiker angesichts globaler Heterogenität von top-down-Modellen verabschieden, weil diese der (kulturellen) Pluralität normativer Praktiken in einer globalen Welt nicht mehr gerecht werden
Im gegenwärtigen akademischen Ethikdiskurs gibt es verschiedene Traditionen, die sich beiden Herausforderungen zu stellen versuchen. Beispielhaft hierfür können pragmatistische Debatten, beispielsweise im Anschluss an John Dewey, angeführt werden. Dieser macht in der Tradition Hegels darauf aufmerksam, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt. Philosophie sollte, so lässt sich dieser Spruch übersetzen, nicht auf die theoretische Begründung abstrakter Ideale fokussieren, sondern Normativität von der pluralen Wirklichkeit aus denken. Ethik, so ließe sich weiter folgern, sollte bei den Erfahrungswelten der Menschen ansetzen, die Teil pluraler Praktiken sind. Die normative Begründung von Demokratie zielt vor diesem Hintergrund nicht auf den Aufweis einer idealen Institution, sondern vielmehr auf die Haltung aller Bürger, sich der Vielfalt von Erfahrungen aller Menschen weltweit zu stellen und gemeinsam Praktiken zur Bearbeitung problematischer Erfahrungen zu entwickeln.
Demokratie als globales Erfolgsmodell – Drei Thesen
Die vorangegangenen Überlegungen münden noch einmal in die Frage des Beitrages: Ist die Demokratie in globalen Zeiten noch ein Erfolgsmodell, oder überfordern globale Krisen die Demokratie? Die hier vertretene These lautet: Globale Krisen überfordern die Demokratie, wenn Gesellschaft, Politik und Ethik verkürzt interpretiert werden. Es braucht deswegen ein produktives Weiterdenken des gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnisses, um angemessene politische Antworten auf globale Krisen geben zu können. Hierzu werden drei abschließende Thesen formuliert.
Das politische Subjekt sollte heute immer schon als ein globales gedacht werden.
In einer vernetzten Welt haben (politische) Handlungen an einem Ort vielfältige Folgen an anderen Orten der Welt. Das Engagement westlicher Allianzen im Nahen und Mittleren Osten hat Einfluss auf die Situation vieler Flüchtlinge. Der westlich geprägte Konsumstil hat Auswirkungen auf Klimafolgen und damit die Lebenssituationen vieler Menschen in den Ländern des globalen Südens. Und auch Kommunalpolitiker, wie beispielsweise Oberbürgermeister großer Städte, sehen sich mit Entwicklungen konfrontiert, die sie nicht ausgelöst haben. Auch kommunalpolitische Entscheidungen sind deshalb eng mit globalen Entwicklungen verbunden.
Oftmals werden diese globalen Vernetzungen in der Konzeptualisierung des politischen Subjekts jedoch nicht abgebildet. Das politische Subjekt ist heute aber immer schon ein globales. Politische Antworten greifen jedoch meist auf politische Modelle zurück, die genau diesen global vernetzten Charakter des Politischen zu wenig Beachtung schenken. Vorstellungen politischer Ordnung, die aus lokalen Modellen gewonnen werden, können jedoch nicht eins zu eins auf die globale Ebene übertragen werden, weil die weltgesellschaftliche Dynamik in ihren Eigenheiten damit nicht beachtet wird.
Natürlich entstehen aus dem Verständnis des politischen Subjektes als eines globalen auch neue Verantwortlichkeiten, denen sich Ethiker als Wissenschaftler und Menschen als Bürger stellen müssen. Entsprechend der Neuausrichtung ethischer Argumentation sollten diese Verantwortlichkeiten jedoch nicht top-down als abstrakt begründete Pflichten ausgewiesen und begründet, sondern von den pluralen und kulturell geprägten Erfahrungswelten der Menschen aus gedacht werden. Hiervon aus gilt es nach den Potenzialen der kulturellen Vorstellungen von Normativität für die politische Bearbeitung globaler Krisen zu fragen.
Wenn Gesellschaften beispielsweise ihren pluralen und globalen Charakter anerkennen und wertschätzen, ist es beispielsweise auch leichter, über Integration nachzudenken. Zentrale politische Aufgabe der demokratischen Gesellschaft ist es dann, sich immer wieder diese Pluralität und ihr gesellschaftliches Potenzial vor Augen zu führen. Bürger nur entlang eines Identitätsmerkmals zu behandeln, wird pluralen Identitätskonstruktionen nicht gerecht. Vorurteile gegenüber dem Islam oder the muslimischen Flüchtlingen sind hierfür wenig hilfreich. Sie entsprechen weder der kulturell ausdifferenzierten Realität noch dem Selbstbild dieser Gruppe.
Diese Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Selbstverständnis ist dabei keine rein theoretische und schon gar keine technisch operationalisierbare Aufgabe. Sie sollte vielmehr bei den Erfahrungswelten der Menschen ansetzen und gemeinsame Praktiken jenseits kultureller Grenzen fördern. Dazu ist es wichtig, Kontaktmöglichkeiten zu schaffen, um solche Praktiken zu ermöglichen – beispielsweise zwischen Christen, Muslimen, Juden und Atheisten. Erst das Entstehen solcher Praktiken kann auch das gesellschaftliche Selbstverständnis als Ganzes verändern.
Demokratien sind auf neue Formen demokratischer Beteiligung angewiesen.
Bei aller berechtigten Kritik gilt die Demokratie heute als die politische Herrschaftsform, in der eine faire und gleiche Beteiligung aller Bürger am besten möglich ist. Es ist Common Sense der Forschung, dass diese politische Ordnungsform auf der Idee der Partizipation beruht. In den meisten demokratischen Systemen wird diese Idee über eine (wenn auch unterschiedlich gefasste) Form von Repräsentation abgebildet. Repräsentation wird dabei verstanden als das Gegenwärtig-Machen derer, die abwesend sind. Dazu sind Demokratien auf transparente und faire Institutionen angewiesen, mit denen diese Repräsentation gesichert werden kann.
Eine zentrale Herausforderung ist heute, dass demokratisch legitimierte Entscheidungen oft weitreichende Konsequenzen für Menschen haben, die an diesen Entscheidungen gar nicht beteiligt werden, weil sie in Demokratien keinen Repräsentationsanspruch haben. Dies gilt beispielsweise für das Feld der Klimapolitik, deren Ausgestaltung massive Auswirkungen auf zukünftige Generationen haben wird, die aber diese politischen Weichen nicht mitstellen können. Von der Perspektive des All-Affected-Principle aus wird deshalb eingewandt, dass das Standardmodell von Repräsentation zu eng gefasst ist. Auch zukünftig lebende Menschen, die aktuell nicht direkt an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden können, sollten, auf Grund ihrer massiven Betroffenheit, in neuen Formen der demokratischen Beteiligung repräsentiert werden.
Sicherlich gibt es berechtigte Einwände gegen eine solche Ausweitung der demokratischen Repräsentationsidee. Trotzdem zeigt das Beispiel der Klimapolitik auch, dass Interessen zukünftiger Generationen nicht unbeachtet bleiben können. Es geht deswegen um eine produktive Weiterentwicklung demokratischer Institutionen, die diesem Spannungsverhältnis gerecht werden. Dabei gilt es angesichts der Auflösung der Unterscheidung von lokal und global auch um eine Verschränkung der institutionellen Bemühungen um Repräsentation auf allen Ebenen – insbesondere in den Themenfeldern, die ganz explizit eine globale Dimension haben.
Natürlich sind Institutionen kein Allheilmittel für globale Krisen. Der Pragmatist Dewey wiederum hat bereits Anfang des 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass Demokratie mehr ist als ein institutionelles Arrangement. „Sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsam und miteinander geteilten Erfahrung.“ (Demokratie und Erziehung) Globale Institutionen sind in dieser Perspektive deshalb in den pluralen Erfahrungswelten der Menschen zu verankern. Dabei spielt – genauso wie schon für Dewey – heute die Bildung eine besonders wichtige Rolle. Globale Krisen können nur demokratisch bearbeitet werden, wenn bereits junge Menschen ein Gespür für globale Zusammenhänge vermittelt bekommen. Eine politische Bildung über globale Zusammenhänge wird damit zu einem Kernbestandteil der Demokratie, was heute bislang in Lehrplänen oder Modulbeschreibungen oft zu kurz kommt.
Demokratie und Frieden stehen in einem ambivalenten Spannungsverhältnis, das in der gegenwärtigen Politik zu wenig beachtet wird.
Die letzte Schlussfolgerung führt zurück zu den gegenwärtigen Kriegen, denen Demokratien besonders ohnmächtig gegenüber zu stehen scheinen. Wie können Demokratien Frieden fördern, wenn dies scheinbar die Einmischung in Gewaltkonflikte verlangt, was wiederum der demokratischen Ausrichtung auf Frieden zu widersprechen scheint?
In Folge von Kants Schrift Zum Ewigen Frieden (1795) wird bis heute diskutiert, wie dieser Zusammenhang von Demokratie und Frieden zu interpretieren ist. Gerade angesichts gegenwärtiger Kriege wurde die These formuliert, dass Demokratien letztlich geeigneter sind, Frieden und Gerechtigkeit herzustellen als undemokratische Staaten. Diese These bestimmt vielfach weltpolitische Entscheidungen, beispielweise zeigt sich ihre Aktualität mit Blick auf die Begründung westlicher Militäreinsätze in den vergangenen Jahren.
Die akademische Debatte über den demokratischen Frieden in den vergangenen Jahren zeigt deutlich die Ambivalenz dieser These. Denn offensichtlich ist es dem Westen nicht gelungen, die Demokratie als Friedensprojekt in dem Maße zu globalisieren, wie er es sich vorgenommen hatte. Länder wie Afghanistan oder der Irak sind heute mehr denn je von Gewalt geprägt. Dies liegt daran, dass der militärische Einsatz von Demokratien nicht automatisch zu Demokratisierung und damit zu Frieden führt – auch deshalb, weil nicht nach Anpassungen der Demokratie an die kulturellen Gegebenheiten gesucht wurde. Gerade in der genannten Region wurde keine nachhaltige, konstruktive Bearbeitung der Tiefenstrukturen des Konflikts angestoßen. Demokratien als Friedensförderer sollten sich deshalb der grundlegenden Ambivalenz einer demokratisch legitimierten, militärischen „Friedenspolitik“ bewusst sein und die multidimensionalen Voraussetzungen für Friedensprozesse in den Blick nehmen.
Conclusion
Globale Krisen sind eine Herausforderung für Demokratien, nicht notwendig eine Überforderung. Um der Überforderung zu entgehen, muss jedoch die Art, politische Wirklichkeit zu denken, neu justiert werden. Die Gesellschaft als politisches Subjekt sollte relational, plural und global verstanden werden. Ethik sollte gleichzeitig nicht als top-down-Prozess der westlichen Tradition konzeptualisiert werden, sondern bei den kulturell vielfältigen Praktiken bzw. Diskursen und ihren normativen Potenzialen ansetzen. Auf dieser Basis kann das Demokratische produktiv weitergedacht werden.
Diese philosophischen Überlegungen machen die Welt nicht einfacher. Aber sie eröffnen eine Interpretationsfolie, die der Komplexität der Welt entspricht. Sie zeigen auch, dass Demokratie nach wie vor ein Erfolgsmodell ist – aber erst, wenn sie sich an eine globalisierte Welt anpasst. Dabei sollten allerdings auch immer die Grenzen demokratischen Handelns beachtet werden, gerade in Zeiten komplexer gewaltsamer Konflikte. In diesem Sinne ist Demokratie keine vollkommene Technik oder ideale Institution, sondern ein offener und unabschließbarer Prozess. Ein solches Bewusstsein des demokratischen Charakters kann helfen, Demokratie angesichts globaler Krisen neu zu denken, denn die eigenen Grenzen anzuerkennen, heißt human zu sein.