Der Kniefall von Warschau

Neue Ostpolitik im Zeichen der Entspannung

As part of the event "Historical Days 2019", 06.03.2019

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Als Bundeskanzler Willy Brandt am 6. Dezember 1970 mit einer offiziellen Delegation der Bundesregierung nach Warschau flog, um im Rahmen seiner „neuen Ostpolitik“ den Warschauer Vertrag mit der Volksrepublik Polen zu unterzeichnen, fühlte er, wie er später in seinen Memoiren schrieb, dass er sich – stellvertretend für seine Landsleute – „auf einen Prüfstand der Geschichte zu begeben hatte“. Für den nächsten Vormittag sah das Programm vor der Unterzeichnung des Vertrages zwei Kranzniederlegungen vor: zunächst am Grabmal des Unbekannten Soldaten, dann vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos. Dort verharrte Brandt nach dem Richten der Kranzschleife nicht, wie üblich, stehend, sondern kniete für etwa eine halbe Minute nieder. Das Bild ging um die Welt: Es war eine Geste der Demut, eine Bitte um Vergebung – nicht für eigene Schuld, sondern für die Schuld aller Deutschen, die im „Dritten Reich“ Verbrechen begangen hatten.

Hermann Schreiber, der die Szene beobachtete, schrieb dazu eine Woche später im Nachrichtenmagazin Der Spiegel: „Wenn dieser nicht religiöse, für das Verbrechen nicht mitverantwortliche, damals nicht dabei gewesene Mann nun dennoch auf eigenes Betreiben seinen Weg durchs ehemalige Warschauer Ghetto nimmt und dort niederkniet – dann kniet er da also nicht um seinetwillen. Dann kniet er, der das nicht nötig hat, da für alle, die es nötig haben, aber nicht da knien – weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland.“

Dieser „Kniefall von Warschau“ vom 7. Dezember 1970, den man in der ganzen Welt zur Kenntnis nahm, war nicht geplant. Die Geste kam überraschend: für die deutsche Delegation und die Gastgeber ebenso wie für die breitere Öffentlichkeit. Brandt selber hat dazu später bemerkt, er sei auch nicht „geplant“ gewesen. Zwar hatte er sich am frühen Morgen überlegt, dass es gelingen müsse, „die Besonderheit des Gedenkens am Getto-Monument zum Ausdruck zu bringen“. Aber er hatte darüber mit niemandem gesprochen. Unter der Last der jüngsten deutschen Geschichte tat er, wie er sagte, „was Menschen tun, wenn die Worte versagen; so gedachte ich der Millionen Ermordeter“.

Tatsächlich wurde die Geste nicht nur zu einem Zeichen der Versöhnung, sondern ebenfalls zum Symbol der Politik, für die Brandt 1971 den Friedensnobelpreis erhielt. Doch während der Kniefall international beinahe ausschließlich positiv bewertet wurde, stieß er in der Bundesrepublik auch auf Ablehnung. Günter Grass sprach sogar vom „Hass“, der damals von den politischen Gegnern „bewusst geschürt“ worden sei. In der westdeutschen Bevölkerung waren die Meinungen geteilt: Einer Umfrage zufolge fanden 48 Prozent den Kniefall übertrieben, 41 Prozent hielten ihn für angemessen, 11 Prozent hatten dazu keine Meinung. Dies galt jedoch nicht nur für den Kniefall, sondern für die gesamte Ostpolitik, die Brandt vertrat. Und diese Politik begann nicht mit Warschau, sondern hatte eine lange Vorgeschichte.

 

Der Mauerbau als Voraussetzung der neuen Ostpolitik

 

Der Bau der Berliner Mauer vom 13. August 1961 gehört zu den einschneidenden Zäsuren der deutschen Nachkriegspolitik. Brandt bemerkte dazu später, seine politischen Überlegungen seien „durch die Erfahrung dieses Tages“ wesentlich mitbestimmt worden: „Was man meine Ostpolitik genannt hat, wurde vor diesem Hintergrund geformt.“ Zwar lebten die Deutschen bereits seit 1945 in zwei unterschiedlichen Welten, die 1949 mit der Gründung der Bundesrepublik und der DDR ihren staatlichen Ausdruck gefunden hatten. Aber erst mit dem Mauerbau wurde die Hoffnung auf baldige Wiedervereinigung zu einer Schimäre. Bis dahin hatten beide deutschen Regierungen zumindest formal am politischen Ziel der Überwindung der Teilung festgehalten.

Selbst die Westintegration der Bundesrepublik, die vordergründig die Spaltung vertieft hatte, war offiziell als Voraussetzung zur Wiedervereinigung begriffen worden, wie insbesondere Bundeskanzler Adenauer immer wieder betonte: Im gleichen Maße, in dem sich der westdeutsche Teilstaat zu einem politisch stabilen und wirtschaftlich prosperierenden Gemeinwesen entwickele, so Adenauer, erhöhe sich auch seine „Magnet-Wirkung“ auf die Bürger Ostdeutschlands; diese würden dadurch entweder zum Aufstand gegen ihre Regierung oder zur Flucht in den Westen veranlasst. Die Annahme war nicht völlig abwegig: Der 17. Juni 1953 und 2,7 Millionen Flüchtlinge, die zwischen 1949 und 1961 aus der DDR in die Bundesrepublik übersiedelten, schienen Adenauer recht zu geben.

Allerdings besagten alle Bekenntnisse zur Wiedervereinigung wenig, wenn man sie mit der Realität des Ost-West-Konflikts konfrontierte. Seit Beginn des „Kalten Krieges“ 1946/47, spätestens aber mit dem NATO-Beitritt der Bundesrepublik und der Gründung des Warschauer Paktes 1955, stellten sich beide Seiten auf die dauerhafte Existenz zweier deutscher Staaten ein. Sogar Bundeskanzler Adenauer war jetzt bereit, eine Einladung der sowjetischen Regierung zu einem Besuch nach Moskau im September 1955 anzunehmen, um über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Rückführung der letzten deutschen Kriegsgefangenen zu verhandeln. Nur eine Woche nach Adenauers Moskau-Besuch billigte die UdSSR der DDR die staatliche Souveränität zu. Praktisch bedeutete dies, dass die deutsche Wiedervereinigung von der Tagesordnung der Politik zwischen den Großmächten abgesetzt war und unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts keine Aussicht auf Verwirklichung mehr besaß.

Wie sehr der Sowjetunion an der fortdauernden Existenz der DDR gelegen war, zeigte sich im Juni 1956, als der französische Außenminister Christian Pineau eine Äußerung Nikita Chruschtschows wiedergab, er habe lieber 20 Millionen Deutsche auf seiner Seite als 70 Millionen gegen sich; selbst wenn Deutschland militärisch neutral wäre, genüge dies der Sowjetunion nicht. Denn die DDR war inzwischen ein machtpolitischer Schlussstein des sowjetischen Imperiums geworden, der Moskau eine fast unbegrenzte Truppenstationierung in Mitteleuropa ermöglichte.

Die kommunistische Herrschaft in der Tschechoslowakei wurde dadurch militärisch flankiert, das unberechenbare Polen gegenüber dem Westen abgeriegelt. Wie bedeutsam diese Rolle der DDR war, sollte sich in ihrer ganzen Dramatik erst 1989/90 offenbaren, als mit dem Zusammenbruch des SED-Regimes auch die sowjetische Position in der Tschechoslowakei und Polen zerfiel. Aber bereits beim Ungarn-Aufstand und den Unruhen in Polen 1956 erwies sich die sowjetische Präsenz in der DDR als nützlicher Teil eines Einflusssphärenkonzepts, das auch vom Westen durch Nichtintervention respektiert wurde.

Durch den Exodus qualifizierter Arbeitskräfte geriet die DDR in den 1950er Jahren allerdings so stark unter Druck, dass sie schließlich nur noch mit der Zwangsmaßnahme einer physischen Abriegelung gegenüber dem Westen stabilisiert werden konnte. Nach dem Mauerbau war ein Zusammenbruch des SED-Regimes in absehbarer Zeit dann nicht mehr zu erwarten. Adenauers „Politik der Stärke“ war gescheitert. Nun galt es, pragmatische Wege für ein friedliches Nebeneinander der beiden deutschen Staaten zu finden, ohne mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in Konflikt zu geraten.

 

„Wandel durch Annäherung“

 

Der Mauerbau förderte somit die Einsicht in die Dringlichkeit einer „neuen Ostpolitik“. Man habe damals, im August 1961, „einen Vorhang weggezogen, um uns eine leere Bühne zu zeigen“, so Brandt im Rückblick. Illusionen seien abhandengekommen, die das Ende der hinter ihnen stehenden Hoffnungen überlebt hatten – „Illusionen, die sich an etwas klammerten, das in Wahrheit nicht mehr existierte“. Zwar suchte Brandt nach dem 13. August den Berlinern in der Krise politisch und moralisch Halt zu geben und kritisierte auch die Bundesregierung und die westlichen Alliierten mit bitteren Worten, weil sie der Abriegelung Ost-Berlins tatenlos zusahen.

Doch für die Westmächte kam eine Intervention jetzt ebenso wenig in Betracht wie beim 17. Juni 1953 oder beim Ungarn-Aufstand 1956. Die Zementierung des Status quo in Deutschland wurde von ihnen sogar mit Erleichterung zur Kenntnis genommen, weil damit der Frieden in Europa erhalten blieb und eine Ära der Verhandlungen begann, die zu weitreichenden Rüstungskontrollvereinbarungen zwischen den USA und der Sowjetunion sowie ab 1969 ebenfalls zu einer Entspannung in Europa führen sollte.

Für den Regierenden Bürgermeister Berlins waren solche Perspektiven 1961 allerdings noch nicht erkennbar. Die Ursprünge seiner neuen Ostpolitik liegen daher weniger in der theoretischen Durchdringung eines komplexen geschichtlichen Sachverhalts, als vielmehr in der Tatsache der physischen und politischen Nähe zum Problem. So entstand diese Politik nicht in Bonn – weder in der Bundesregierung um Adenauer noch in der SPD um Wehner –, sondern in Berlin, wo Brandt und seine Mitarbeiter, darunter sein Pressesprecher Egon Bahr und die vertrauten Gefährten Heinrich Albertz, Klaus Schütz und Dietrich Spangenberg, in den 1950er Jahren zu den „Kalten Kriegern“ und energischen Befürwortern einer nationalstaatlichen Wiedervereinigung gehört hatten und wo sie nun aus dem unmittelbaren Erleben der Spaltung zu Vorreitern einer Neuorientierung wurden, die auf eine undogmatische Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen im geteilten Europa abzielte.

Zwar sind in Brandts Reden und Schriften schon 1960 Hinweise zu finden, in denen er für einen offensiveren Umgang mit den Kommunisten plädierte. Nach dem Mauerbau nahm diese Tendenz aber deutlich zu, die er schließlich im Oktober 1962 in einer Vorlesung über „Wagnis und Chance der Koexistenz“ an der amerikanischen Harvard University zu einem programmatischen Konzept – einer „Politik der Transformation“, wie er es nannte – verdichtete.

Nicht zufällig berief sich Brandt bei der Begründung seines ostpolitischen Neuanlaufs wiederholt auf Präsident John F. Kennedy und dessen Rede vom 4. Juli 1962, in der dieser zu „internationaler Zusammenarbeit mit dem Angebot aktiver Partnerschaft und konkreter weltweiter Solidarität“ aufgerufen hatte. Es sei die „Pflicht der Europäer“, so Brandt, „hierauf eine ebenbürtige Antwort zu geben“ und nach Wegen zu suchen, „die Mauer durchlässig zu machen und die besonders lebensfeindlichen Lasten der Spaltung mildern und, wo möglich, überwinden zu helfen“.

Dies war die „Berliner Linie“, die in langen Gesprächen zwischen Brandt, Bahr, Albertz, Schütz und Spangenberg entstanden war. Seit Dezember 1961 ging es darin um Passierscheine, durch die ein Minimum an innerstädtischem Besuchsverkehr geschaffen wurde, sowie um die Regelung humanitärer Fragen, wie Familienzusammenführungen, in die schließlich auch das Gesamtdeutsche Ministerium in Bonn einbezogen wurde. Die Erfolge waren bescheiden, aber spürbar. Allein 790 000 West-Berliner nutzten die Passierscheinregelung von Weihnachten bis Neujahr 1963, um Verwandte im Ostteil der Stadt zu besuchen. Die Wirkung reichte weit über Berlin hinaus: Das Passierschein-Abkommen war ein Beweis für die Möglichkeit, allen ideologischen Unterschieden zum Trotz und ungeachtet divergierender Rechtsauffassungen zu praktischen Lösungen mit den östlichen Verhandlungspartnern zu kommen.

Doch was Brandt und seine Mitarbeiter jetzt anstrebten, war eine grundsätzliche Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Ost und West – zumindest in Deutschland und Europa. Dabei kam ihnen wiederum Präsident Kennedy zu Hilfe, der bei seinem Besuch in Berlin Ende Juni 1963 in der Freien Universität erklärte, es sei „wichtig, dass für die Menschen in den stillen Straßen östlich von uns die Verbindung mit der westlichen Gesellschaft aufrechterhalten wird – mittels aller Berührungspunkte und Verbindungsmöglichkeiten, die geschaffen werden können, durch das Höchstmaß von Handelsbeziehungen, das unsere Sicherheit erlaubt“. Kennedy wurde damit zu einer zentralen Instanz, auf die sich die Befürworter einer neuen Ostpolitik berufen konnten.

Für Brandt war dies in doppelter Hinsicht von Bedeutung: Zum einen befand er sich dadurch – im Gegensatz zu Adenauer – mit seinen Auffassungen im Einklang mit dem wichtigsten Repräsentanten der westlichen Politik. Zum anderen ergab sich aus der beginnenden amerikanisch-sowjetischen Annäherung ein zunehmender Sachzwang in Richtung Entspannung, um eine internationale Isolierung zu vermeiden.

Auch Egon Bahr berief sich daher im Juli 1963 auf Kennedys gerade proklamierte „Strategie des Friedens“, als er in der Evangelischen Akademie Tutzing zum ersten Mal die Paradoxie aussprach, von der die neue Ostpolitik nach 1969 lebte: „Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll.“ Jede Politik zum direkten Sturz des Regimes auf der anderen Seite sei aussichtslos, so Bahr. Der ostdeutsche Staat müsse daher von der Bundesrepublik und den Westmächten als Realität respektiert werden, ohne ihn juristisch anzuerkennen.

Unterhalb der juristischen Anerkennung gebe es noch viel Bewegungsraum. Nicht-Anerkennung dürfe die Politik nicht lähmen. Wenn die Mauer ein Zeichen der Angst und des kommunistischen Selbsterhaltungstriebes sei, dann wäre zu fragen, ob es nicht Möglichkeiten gebe, „diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, dass auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist“. Das sei eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: „Wandel durch Annäherung“. Bahrs prägnanter Slogan, nicht Brandts hölzerne Vokabel von der „Transformation“, sollte nun bald zum vielfach missverstandenen Schlüsselbegriff für die Diskussion um die neue Ostpolitik werden.

 

Die Ostpolitik der Großen Koalition

 

Die Phase zwischen dem Mauerbau 1961 und dem Machtantritt der sozialliberalen Koalition 1969 war demzufolge eine Periode des Übergangs, in der die neue Ostpolitik allmählich Gestalt annahm, ohne bereits zum Zuge zu kommen. Dazu, dass sie zunehmend bessere Chancen für ihre Realisierung gewann, trugen nicht nur Brandt und seine Mitstreiter in der SPD, sondern eine Vielzahl von Einzelpersonen und Institutionen bei, die sich um eine Versachlichung und Entideologisierung des Verhältnisses zum Osten bemühten. Persönlichkeiten wie Karl Jaspers, Marion Gräfin Dönhoff, Golo Mann, Carl Friedrich von Weizsäcker und Sebastian Haffner, der liberale Teil von Presse, Funk und Fernsehen, aber auch die Evangelische Kirche sowie einzelne Wagemutige und Gruppierungen in den Parteien traten nun mit eigenen Vorschlägen und Plänen für eine Modifizierung der Ost- und Deutschlandpolitik hervor.

Indem sie in wechselnder Schwerpunktsetzung zu verstehen gaben, dass die deutschen Ostgebiete verloren seien, die unvermeidbare Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze endlich vollzogen werden müsse und das Instrumentarium der Adenauerschen Deutschlandpolitik mit Alleinvertretungsanspruch, Hallstein-Doktrin und ihrem Verweis auf die Vier-Mächte-Verantwortung nicht länger brauchbar sei, ebneten sie damit politisch und psychologisch den Weg für den ostpolitischen Neuanlauf, bei dem sich in der SPD neben Brandt und Wehner nun auch Helmut Schmidt erstmals profilierte.

Die offizielle Politik kam dagegen zu dieser Zeit noch nicht über tastende Versuche hinaus, das Misstrauen der osteuropäischen Staaten gegenüber der Bundesrepublik abzubauen und eine Basis für Zusammenarbeit zu schaffen. Zwar führten Bemühungen um einen verstärkten Austausch mit den osteuropäischen Ländern auf allen Gebieten, vom Handel bis zum Sport, sowie die Errichtung von Handelsmissionen in Warschau, Budapest, Bukarest und Sofia dazu, den sogenannten „Ostkontakten“ den Ruch des „halben Landesverrats“ zu nehmen. Dennoch wurde eine Wende in der Ostpolitik weder unter Bundeskanzler Ludwig Erhard noch während der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger erreicht.

Erhard konnte sich nicht dazu durchringen, die DDR einzubeziehen. Und Kiesinger beging gleich zu Beginn seiner Kanzlerschaft den strategischen Fehler, diplomatische Beziehungen mit Rumänien aufzunehmen, ohne vorher das Verhältnis zur DDR und zu Polen geklärt zu haben. Der Botschafteraustausch mit Bukarest wurde dadurch zum Bumerang: Unter dem Druck der Sowjetunion, Polens und der DDR beschloss der Warschauer Pakt im Februar 1967 eine „umgekehrte Hallstein-Doktrin“. Kein Mitglied des Paktes durfte danach sein Verhältnis zur Bundesrepublik normalisieren, ehe nicht die bilateralen Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik auf eine vertragliche Grundlage gestellt waren.

Zwar hatte Kiesinger in seiner Regierungserklärung am 13. Dezember 1966 gefordert, man müsse „ohne Scheuklappen sehen, was ist“. Aber unter dem bremsenden Einfluss konservativer Parteigänger wie Karl Carstens und Karl Theodor Freiherr zu Guttenberg – seiner beiden Staatssekretäre im Kanzleramt – war er nicht in der Lage, grundsätzliche Positionen seiner Vorgänger zu revidieren. Dies galt für die Oder-Neiße-Frage ebenso wie für den Anspruch, „für das ganze deutsche Volk zu sprechen“. Auch wenn Kiesinger am 17. Juni 1967 feststellte, man könne „das Zusammenwachsen der getrennten Teile Deutschlands nur eingebettet sehen in den Prozess der Überwindung des Ost-West-Konflikts in Europa“, und Reizworte wie „Alleinvertretungsrecht“ und „Sowjetzone“ inzwischen vermied, kam er damit über gut gemeinte Redensarten nicht hinaus.

Willy Brandt sah sich deshalb als Außenminister der Großen Koalition bald isoliert, als er sich in Anlehnung an die Praxis der Berliner Passierscheinverhandlungen bemühte, die DDR in seine „Politik der kleinen Schritte“ einzubeziehen. In der Großen Koalition stieß sein Pragmatismus, für den er in Großbritannien und den USA viel Verständnis fand, an enge Grenzen.

Während Brandt drängte, den Schritt zur Anerkennung der DDR zu wagen, um endlich aus dem Dilemma der bisherigen Ost- und Deutschlandpolitik auszubrechen, zog sich Kiesinger nach dem Rückschlag vom Februar 1967 zunehmend auf Positionen zurück, die er erst drei Monate zuvor verlassen hatte. Im Sommer 1969 war diese Resignation vollkommen, als er feststellte, solange die Sowjetunion sich nicht bereit zeige, die deutsche Frage im Wege der Verständigung zu lösen, „können wir zunächst nur die verbliebenen deutschen Positionen verteidigen“.

Eine erfolgversprechende neue Ostpolitik war danach in Brandts Augen nicht mehr mit der CDU/CSU, sondern nur noch gegen sie zu verwirklichen. Nicht zuletzt aus ostpolitischen Gründen arbeitete er deshalb – sehr zum Leidwesen von Helmut Schmidt und Herbert Wehner – frühzeitig auf einen Machtwechsel in Bonn hin, der auch einen Politikwechsel in Deutschland ermöglichen sollte. Zugleich gab er seinem ehemaligen Berliner Pressesprecher Egon Bahr im Auswärtigen Amt die Gelegenheit, als Leiter des Politischen Planungsstabs die „neue Ostpolitik“ im Detail vorzubereiten. Mit der Bildung der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP nach der Bundestagswahl vom 28. September 1969 wurde der Wechsel schließlich vollzogen, der damit auch zur eigentlichen Geburtsstunde der Brandtschen Ostpolitik wurde.

 

Die Verhandlungen mit Moskau

 

Mit ihrem Bemühen, die Beziehungen zu den Staaten Osteuropas, einschließlich der DDR, zu verbessern, folgte die neue Bundesregierung jetzt auch dem internationalen Trend zur Entspannung. Sogar die NATO hatte sich bereits in ihrem Harmel-Bericht vom 14. Dezember 1967 über die künftigen Aufgaben der Allianz zu einem Gesamtkonzept angemessener Rüstungsvorkehrungen und beiderseitiger, ausgewogener Rüstungskontrolle und Abrüstung im Rahmen einer politischen Entspannung zwischen Ost und West bekannt („Zwei-Pfeiler-Doktrin“). Die USA und die Sowjetunion unternahmen seit dem Amtsantritt des amerikanischen Präsidenten Richard M. Nixon und seines Sicherheitsberaters Henry A. Kissinger im Januar 1969 ebenfalls verstärkte Anstrengungen, das Ost-West-Verhältnis zu entspannen und vor allem die Rüstungskontrollverhandlungen zu intensivieren, um eine „Ära der Verhandlungen“ einzuleiten, in die bald auch China einbezogen wurde.

Wenn Bonn nicht in Gefahr geraten wollte, sich außenpolitisch zu isolieren, musste es sich in diesen Entspannungsprozess einfügen. Umgekehrt profitierte die Bundesrepublik aber auch von der allgemeinen Ost-West-Entspannung, weil die Verbesserung des politischen Klimas zwischen den Blöcken die Bereitschaft zum Entgegenkommen auf beiden Seiten förderte und somit günstige Voraussetzungen für Verhandlungen im Rahmen der neuen Ostpolitik schuf. Bereits im Sommer und Herbst 1969 – also noch vor dem Machtwechsel in Bonn – wurde diese Veränderung sichtbar. Verschiedenen diplomatischen Signalen aus Moskau folgte am 22. September 1969 ein Gespräch zwischen dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko und seinem deutschen Amtskollegen Willy Brandt – damals noch Außenminister der Großen Koalition – in New York, bei dem die beiderseitige Bereitschaft geäußert wurde, auch über „praktische Fragen“ zu sprechen.

Nach Bildung der sozialliberalen Koalition empfing der neue Bundesaußenminister Walter Scheel am 30. Oktober den sowjetischen Botschafter in Bonn, um über einen beiderseitigen Gewaltverzicht zu sprechen. Geheime Kontakte zwischen der SPD und der Kommunistischen Partei Italiens trugen ebenfalls dazu bei, das Terrain zu sondieren. Damit entstand ein Klima hoffnungsvoller Erwartungen, in dem manches möglich schien, was noch vor kurzem für undenkbar gehalten worden wäre.

So trafen der sowjetische Außenminister Gromyko und der deutsche Botschafter in Moskau, Helmut Allardt, bereits am 8. Dezember und erneut am 11. und 23. Dezember zu offiziellen Gesprächen zusammen, die später von Egon Bahr fortgeführt wurden. Bahr war durch seine Tätigkeit als Leiter des Politischen Planungsstabs im Auswärtigen Amt während der Großen Koalition gut präpariert. Das Ergebnis der Gespräche, die er von Januar bis Mai 1970 – insgesamt etwa 55 Stunden lang – mit Gromyko in Moskau führte, wurde in einer vertraulichen Vorvereinbarung festgehalten, die in zehn Punkten wesentliche Teile des späteren Moskauer Vertrages vorwegnahm.

Dieses als „Bahr-Papier“ bekannt gewordene Schriftstück enthielt zum einen die Verpflichtung beider Seiten, „sich in Fragen, die die europäische Sicherheit berühren, sowie in ihren bilateralen Beziehungen gemäß Artikel 2 der Satzung der Vereinten Nationen der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt zu enthalten“, die „territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen uneingeschränkt zu achten“ und auf jegliche Gebietsansprüche zu verzichten. Zum anderen erklärte die Bundesregierung darin ihre Absicht, entsprechende Verträge mit Polen, der Tschechoslowakei und der DDR zu schließen, die mit dem Moskauer Vertrag „ein einheitliches Ganzes bilden“ sollten.

Von völkerrechtlicher Anerkennung der DDR war nun nicht mehr die Rede, wohl aber von der Bereitschaft der Bundesregierung, mit der DDR ein Abkommen zu treffen, das die „zwischen Staaten übliche gleiche verbindliche Kraft“ haben werde wie andere Abkommen, die die Bundesrepublik Deutschland und die DDR mit dritten Ländern schließen würden. In diesem Zusammenhang versprach die Bundesregierung ebenfalls, sich für die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO einzusetzen und damit implizit die Anerkennung der DDR durch ihre westlichen Verbündeten freizugeben, sobald die deutsch-deutschen Beziehungen geregelt waren.

Die Anerkennung der bestehenden Grenzen als Grundlage für eine Normalisierung der politischen Verhältnisse in Europa bedeutete somit keinen Verzicht auf die Wiedervereinigung Deutschlands. Sie wäre ohnehin nicht mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen, so dass ein entsprechender Vertrag, selbst wenn Bahr sich mit Gromyko darauf verständigt hätte, spätestens am Einspruch des Bundesverfassungsgerichts gescheitert wäre. Im Bahr-Papier – wie auch später im Moskauer Vertrag – wurde deshalb nur davon gesprochen, dass die Grenzen in Europa „unverletzlich“, nicht aber, dass sie „unverrückbar“ seien, wie Gromyko ursprünglich vorgeschlagen hatte. Änderungen oder gar die Aufhebung von Grenzen blieben demnach möglich, sofern sie in gegenseitigem Einvernehmen der Beteiligten erfolgten. Eine deutsche Wiedervereinigung wurde damit einem rechtlichen Veto Moskaus entzogen.

Auch wenn Gromyko sich gegen den deutschen Wunsch, das Recht auf Einheit in den Vertrag aufzunehmen, unnachgiebig zeigte, akzeptierte er schließlich den Vorschlag Bahrs, einen entsprechenden „Brief zur deutschen Einheit“ als Nebenabrede formell zur Kenntnis zu nehmen. Der von Außenminister Scheel an Gromyko geschriebene Brief wurde später bei der Ratifizierung des am 7. August von den beiden Außenministern paraphierten und am 12. August von Bundeskanzler Brandt und Ministerpräsident Kossygin unterzeichneten Moskauer Vertrages durch den Obersten Sowjet berücksichtigt. Die Sowjetunion konnte danach die Wiedervereinigungsbemühungen der Bundesrepublik nicht mehr als unzulässig bezeichnen, denn in dem Brief hieß es wörtlich, dass der Moskauer Vertrag „nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland“ stehe, „auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt“.

 

Die Verhandlungen mit Polen

 

Der Meinungsaustausch über den Vertrag mit Polen begann am 5. Februar 1970 mit einem Besuch des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Ferdinand Duckwitz, in der polnischen Hauptstadt. Duckwitz war ebenfalls ein enger Vertrauter Brandts und für die Polen aufgrund seiner Gegnerschaft zu Hitler – die dänischen Juden verdankten ihm Ende des Krieges ihre Rettung – ein durchaus willkommener Gesprächspartner. Zudem brauchte Duckwitz nicht bei null zu beginnen. Noch als Außenminister der Großen Koalition hatte Brandt im Sommer 1968 seinen Vertrauten Klaus Schütz, der kurz vorher die Nachfolge von Heinrich Albertz als Regierender Bürgermeister von Berlin angetreten hatte, nach Warschau entsandt, um die Polen wissen zu lassen, dass er bereit sei, die Oder-Neiße-Grenze anzuerkennen. Zugleich hatte er Eugen Selbmann, den verschwiegenen und verlässlichen Ost-Experten der SPD-Fraktion, gebeten, seine vielfältigen Kontakte zu nutzen, um die neue Botschaft an geeigneter Stelle auszustreuen.

Dennoch kamen die Gespräche, die Duckwitz mit seinem polnischen Gegenüber Jozef Winiewicz abwechselnd in Bonn und Warschau führte, zunächst nicht von der Stelle. Dies lag nicht nur an der vorsichtigen und bedächtigen Art, in der Duckwitz sich in schwierigen Situationen stets zu bewegen pflegte, sondern ebenfalls daran, dass die polnischen Gespräche mit den Sondierungen von Bahr parallel geschaltet waren. Erst nach Abschluss des Moskauer Vertrages ging es auch mit Warschau zügiger voran.

Die Polen selbst waren über diese Konstellation alles andere als glücklich. Sie wünschten sich die Sicherung der Oder-Neiße-Grenze nicht als „Geschenk“ der Russen, sondern als Ergebnis eigener Verhandlungen. Als in Punkt 3 des Bahr-Papiers ausdrücklich die „Oder-Neiße-Linie, die die Westgrenze der Volksrepublik Polen bildet“, erwähnt wurde, erklärte Ministerpräsident Jozef Cyrankiewicz in einem Brief an Bundeskanzler Brandt kategorisch, das Selbstbewusstsein der polnischen Nation ertrage es nicht, wenn Deutsche und Russen sich über die Köpfe der Polen hinweg über polnische Angelegenheiten verständigten.

Die Bundesregierung kam den polnischen Wünschen danach insoweit entgegen, als sie sich einverstanden erklärte, die im Moskauer Vertrag enthaltene Reihenfolge von Gewaltverzicht und Grenzanerkennung im Warschauer Vertrag umzukehren: Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze wurde nun bereits in den Artikel 1 aufgenommen und erhielt damit oberste Priorität, während der Gewaltverzicht in Artikel 2 um einen Platz nach hinten rückte.

Der wichtigsten polnischen Forderung, dem Vertrag unbegrenzte Gültigkeit zu verleihen, konnte die Bundesregierung jedoch nicht entsprechen, da sie nicht in der Lage war, einer späteren friedensvertraglichen Regelung bzw. der Entscheidung einer gesamtdeutschen Regierung vorzugreifen. Außerdem hätte sie damit die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte für Deutschland als Ganzes und Berlin berührt, die erst 1990 mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag aufgehoben wurden.

Strittig war ebenfalls die Regelung der Aussiedlung von Deutschen und Deutschstämmigen aus Polen. Schon die Angaben über die Zahl der betroffenen Personen schwankten stark: Nach Bonner Schätzungen lag sie bei einer Million, nach polnischen Behauptungen bei null. Erst bei den Schlussverhandlungen, die nach Beendigung der Vorgespräche zwischen Duckwitz und Winiewicz im Oktober 1970 unter der Leitung der Außenminister Scheel und Jendrychowski vom 3. bis 13. November 1970 in Warschau stattfanden, einigte man sich auf die Formel, dass noch „einige Zehntausend“ Umsiedlungsberechtigte in Polen vorhanden seien.

Der Vertrag war also bestenfalls ein erster Schritt zu einer Aussöhnung, wie sie 1963 zwischen der Bundesrepublik und Frankreich mit dem Vertrag von Rambouillet eingeleitet worden war. Insofern ist auch weniger die Unterzeichnung des Vertrages in Erinnerung, als vielmehr der Kniefall von Bundeskanzler Brandt bei der Kranzniederlegung vor dem Denkmal für die Gefallenen des Warschauer Ghettos. Denn der „Kniefall von Warschau“ symbolisierte – mehr als jeder Vertrag und alle Worte – den politisch-moralischen Versuch einer Vergangenheitsbewältigung und eines Neuanfangs. Brandt selbst schrieb darüber später im Rückblick: „Wer mich verstehen wollte, konnte mich verstehen; und viele in Deutschland und anderswo haben mich verstanden.“

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