Stadt ohne Gott?
Ein Buch von Harvey Cox, das 1965 zum ersten Mal in englischer und kurz danach in deutscher Sprache erschienen ist, gab viel zu reden. Der amerikanische Originaltitel des Buches lautete ins Deutsche übertragen Die säkulare Stadt. Säkularisation und Urbanisation in theologischer Perspektive. In Deutschland hat das Buch den etwas reißerischen, aber prägnanten Titel Stadt ohne Gott? bekommen. Harvey Cox war Theologieprofessor an der Harvard Divinity School und gehörte zu denjenigen amerikanischen Theologen, die dem Zusammenhang von Religion, Kultur und Gesellschaft besonders intensiv nachgespürt haben. Cox zeichnet in seinem Buch ein eindrückliches Bild der Stadt in der Moderne. Wie ein Fanfarenstoß muten die ersten Sätze seines Buches an: „Die Heraufkunft einer urbanen Zivilisation und der Zusammenbruch der traditionellen Religionen sind die beiden bestimmenden Kennzeichen unserer Zeit … Heute steht die säkularisierte Großstadt sowohl als Muster unseres Zusammenlebens da wie als Symbol unseres Weltverständnisses.“
Cox verstand das Zeitalter der säkularisierten Stadt als ein Zeitalter der völligen Religionslosigkeit. Fragen der Moral oder des Lebenssinns lassen sich nicht länger durch religiöse Regeln oder Rituale beantworten. Die Säkularisierung sei ein Faktum und wenn wir überhaupt unsere Zeit verstehen und auf sie eingehen wollen, müssten wir lernen, sie in ihrer unaufhaltsamen Säkularisierung zu lieben.
Stadt mit Religion?
Ich habe ein wenig gemogelt. Nicht ich, sondern mein inzwischen emeritierter und geschätzter Kollege Albrecht Grözinger aus Basel hat vor 20 Jahren Harvey Cox wieder ausgegraben – um ihm zuzustimmen und zu widersprechen! Denn es sei unübersehbar, so Grözinger, dass in das Buch grandiose Irrtümer eingeschrieben sind, was die Zukunft der Religion angeht. Cox habe zwar 1965 hellsichtig erkannt, dass der Vorgang der Verstädterung ein umfassender kultureller Vorgang sei, der in seiner Tragweite kaum überschätzt werden könne. Geirrt habe sich Cox aber darin, dass er kulturelle Urbanisierung und Globalisierung nahezu bruchlos mit einem Abnehmen der Religiosität in diesem neu entstehenden globalen Kulturraum gleichgesetzt hat.
„Heute können wir beobachten, dass diese gegenläufige Korrelation mit Sicherheit eine Fehlprognose war. Religion boomt heute geradezu. Urbanisierung und Globalisierung sind in ihren Folgen weniger religionskritisch oder religionszersetzend als vielmehr religionsproduktiv. Globalisierung und Urbanisierung produzieren Religion.“
Grözinger argumentiert mit einem funktionalen, offenen und anthropologisch fundierten Religionsbegriff. Was er Passagenreligiosität nennt, zeige sich auch in der modernen Stadt. Aus der Religionszerstörerin wird eine Religionsproduzentin. Stadtarchitektur sei immer auch Ausdruck des impliziten und expliziten Lebensentwurfs der Menschen. Und dieser habe sich geändert. Grözinger erinnert an das Ideal des städtebaulichen Kahlschlags in den 1960er und 1970er Jahren, das Cox‘ Wahrnehmung bestimmte. Es war das Ideal der durchrationalisierten Stadt, das städtebauliche Konzept Ausdruck einer ökonomischen Gesellschaft, die effiziente Produktions- und Konsumationsbereiche brauchte. Ende der 1980er Jahre änderte sich das. Stichworte, die Grözinger nennt, sind: Museums-Boom, verkehrsberuhigte Zonen, neue Plätze und Passagen sowie ökologisches Bauen. Der Gesichtspunkt der Ökonomie war nicht mehr konkurrenzlos wichtig. Im Städtebau wurde die alte Weisheit wiederentdeckt, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt. „Die Menschen entdeckten sich neu in ihren sozialen, geselligen und kulturellen Bedürfnissen. Deshalb werden plötzlich die Museen wieder wichtig. Deshalb braucht es menschenfreundliche Plätze der Begegnung“, so Grözinger.
Es kommt in dieser Neuorientierung etwas zum Ausdruck, das Grözinger das Passage-Bedürfnis nennt. Gemeint ist damit die Erfahrung der Mehrdimensionalität der Conditio humana, die Erfahrung nämlich, dass wir Menschen an unserer Menschlichkeit Schaden nehmen, wenn wir in unserem Menschsein auf eine Funktion festgelegt oder gar reduziert werden.
„Der Mensch begegnet sich in der Passage als der Mensch in seinem Nicht-festgelegt-Sein, in seiner Übergängigkeit. Der Mensch sucht und begegnet sich in seinem Geheimnis. Und dies ist genau der Ort, wo die Religion ins Spiel kommt. Wenn die Städte unserer Gegenwart nicht mehr allein Stätten der ökonomischen Effizienz sind, sondern Stätten menschlicher Selbst-Erkundung und menschlicher Selbst-Deutung, dann werden die Museen mit ihren Bildern und Symbolen zu Kultstätten des postmodernen Menschen. Dann werden die Passagen und Orte zu rituellen Stätten der Selbst-Begegnung und Selbst-Findung. Und deshalb können wir mit gutem Grund davon sprechen, dass in unsere Städte das Heilige als Grundsymbol des menschlichen Geheimnisses zurückgekehrt ist.“
Und genau dies habe Harvey Cox vor vierzig Jahren nicht vorausgesehen, diese Rückkehr des Heiligen in die Stadt, wie sie in der Architektur und auch in der Literatur der Gegenwart unübersehbar sei. Das Defizit des Buches bestand nicht in diesem theoretischen Setting, sondern in der überzogenen Prognose beziehungsweise in dem bruchlosen Fortschreiben einer Entwicklung, die Cox zu einem bestimmten Zeitpunkt beschrieben hat.
Neue Ausgangslage
Seit dieser Relektüre sind wieder 20 Jahre ins Land gegangen und ich bin versucht, Grözingers kritische Diagnose von Cox auf seine eigene Gegenwartsdeutung anzuwenden. Mir geht es mit seiner Prognose, wie es ihm mit Cox ergangen ist. Es stimmt vieles, aber nicht ganz.
Interessant finde ich, wie Grözinger seine These begründete. Er argumentierte mit dem Wandel, der sich im städtischen Raum manifestierte. Wir sind inzwischen an einem anderen Ort in der Urbanisierungsdebatte. Da sind einerseits die regionalen Unterschiede: Stadt ist nicht Stadt und in der Stadt sind diverse Zonen. Die City unterscheidet sich von den Vorstädten und dem Agglomerationsbrei. Dasselbe gilt auch für den Religionsdiskurs. Die Spiritualisierung der Religion macht Differenzierungen nötig. Welche Substanz muss religiöses Leben haben, damit es noch als solches wahrgenommen werden kann? In welchem Aggregatszustand der Religion kann der im Begriff der Religion angelegte Rückhalt in der Tradition noch erkannt werden? Wo geht das Feste ins Fluide über? Und wann löst sich das Fluide ins Flüchtige auf, um zu verdampfen und zu verschwinden?
An beiden Enden der Verbindung von Stadt und Religion zeigen sich Auflösungserscheinungen. Sie geben Anlass zu Fragen. Was lässt sich sagen über den Gang in die Stadt? Warum suchen Menschen immer noch ein Zentrum? Wie lassen sich die unterschiedlichen Gangarten unterscheiden? Ich denke, dass die Frage nach dem Umgang mit Räumen und der Begehung im Raum einen Zusammenhang mit dem Gang zum Heiligtum haben, das einen Ort hat und Ort ist. Es geht mir um das biblische Gedächtnis der Pilgerschaft und den Ortsverlust, der in der Diaspora erfahren wird und gleichsam auf Umwegen wieder auf die Frage des Städtebaus zurückführt. Mich interessiert dabei speziell die Weggemeinschaft, die auf dem Weg zum Tempel und bei Begegnungen im Tempel entstehen kann. Wo versammeln sich Pendler, Pilger und Touristen und was verbindet sie mit den Sesshaften?
Begegnung im Kirchenraum
Ich bin privilegiert. Mein Arbeitsplatz ist das Gebäude des Theologischen Seminars – ein Anbau zum Großmünster, dem Wahrzeichen und Mittelpunkt des historischen Zürichs. Aus meinem Fenster sehe ich auf den Zwingli-Platz, sehe die Menschen, die Schlange stehen, um einen Blick ins Innere der Kirche zu erhaschen. Der Kirchenbesuch ist in. Es gibt ein Projekt der Großmünster-Gemeinde, das darauf reagiert. Es heißt Seelsorge und Liturgie im Kirchenraum.
Für ein kirchliches Projekt, das sich dem Kirchenbesuch widmet, ist das eigentlich ein seltsamer Titel! Was soll denn sonst im Kirchenraum geboten werden? Wenn man sich aber die 250.000 Menschen, die jährlich das Großmünster besuchen, genauer anschaut, wird der seltsame Projektname plausibel. Es sind größtenteils Touristen. Sie suchen etwas in diesen Mauern, was sie sonst nicht finden. Aber nicht unbedingt Liturgie und Seelsorge.
Die projektverantwortliche Pfarrerin, Monika Frieden, die seit 2017 den Präsenzdienst zusammen mit Freiwilligen vorsieht, hat sich überlegt, wie man Besucher auf die Möglichkeit des Gesprächs aufmerksam machen kann. Es soll durch eine Geste der Gastfreundschaft geschehen, sichtbar durch eine Tafel beim Eingang zum Großmünster mit dem Portrait der jeweils verantwortlichen Pfarrpräsenzperson. Da steht: „Pastor in Church, ask me a question!” Und wie geschieht Liturgie?
Über die Mikrofonanlage werden die Menschen in gewissen zeitlichen Abständen begrüßt und es folgt die Einladung, sich für einige Minuten zu einem Kurzimpuls hinzusetzen oder auch im Raum weiter zu wandeln. Man kann zuhören, muss aber nicht. Man kann den Raum verlassen. Die Türen bleiben offen, auch während der biblischen Impulse. Die Kirche bleibt mit einer „wohl dossierten Beharrlichkeit“ Gastgeberin im Kirchenraum. Sowohl die seelsorgerliche wie die liturgische Aktivität geschehen diskret und sensibel. Menschen erleben Kirche in der Kirche, wenn sie sich darauf einlassen.
Die Einladung, der Pfarrerin in der Kirche Fragen zu stellen, ist der Einsicht geschuldet, dass der Übergang Übersetzer braucht. Eine Theologie-Studentin engagiert sich als Freiwillige und steht an Samstagnachmittagen im Großmünster. Sie hat von sehr eindrücklichen Begegnungen berichtet. Sie hat mir erlaubt, eine zu erzählen. „Eine Frau kommt auf mich zu. Sie äußert den Wunsch, dass ich sie segne. Gestern sei leider niemand hier gewesen, der das hätte tun können, darum sei sie heute nochmals gekommen. Ich sage ihr, dass ich das gerne machen würde und frage, ob sie denn eine bestimmte Vorstellung hätte? Nein, einfach so, wie ich das jeweils machen würde. Ich lade sie in die 12-Boten-Kapelle ein. Wir sprechen leise und ich erfahre, dass ihr erwachsener Sohn wegen eines Sportanlasses in Zürich sei und sie mit ihm hier sei. Wir stehen am alten Taufstein und betrachten die Schwimmkerzen, die wir angezündet haben. Ich schlage ihr vor, dass ich gerne beten und sie segnen würde und ob es recht sei, wenn ich ihr dabei meine Hand auf die Schulter legen würde. Die Frau nickt, nimmt an und lässt geschehen. Selbst mein abenteuerliches Englisch scheint die Kraft von Gottes Segen nicht zu beeinträchtigen. Nach meinem Amen strahlt die Frau und freut sich, dass ihr ein Engel begegnet sei im Großmünster, das passiere einem in Kirchen sonst eher nicht so oft.“
Das ist eine schöne Geschichte. Sie macht allerdings auch ein wenig nachdenklich. Sind die Kirchenräume nicht für solche Erfahrungen gebaut worden? Für Begegnungen, die der Seele guttun? Was hat es zu bedeuten, wenn Menschen überrascht sind, dass ihnen so etwas in einer Kirche passiert?
Stadt ohne Gott war die reißerische Übersetzung von Harvey Cox‘ Buch ins Deutsche. Kirche ohne Liturgie? or Kirche ohne Seelsorge? könnte meiner lauten, wenn ich ein Buch schreiben müsste. Aber das Fragezeichen ist ernst gemeint. Es sagt etwas über das Potential der Kirchenräume aus, die im Leibzentrum unserer Städte stehen. Es sind in Stein gebaute Einladungen für Begegnungen. Sie sind offen für Überraschungen. Man kann sie leer oder geisterfüllt antreffen.
Die gefährliche Erinnerung des Pilgers
Ist es die Hoffnung auf Begegnung, die Menschen zu einem Kirchenbesuch bewegt? Ich habe mich intensiver mit dem Thema auseinandergesetzt und habe realisiert, dass die alte Tradition des Pilgergangs ein Schlüssel sein kann, um die komplexen Beziehungen zwischen Liturgie und Stadt zu entschlüsseln. Man muss allerdings einen Umweg über die Bibel machen. Eine Spur führt nach Jerusalem. Die Stadt auf dem Berg und die Tempelliturgie bilden eine eigenartige, schillernde, ja ambivalente Verbindung. Es begann mit der umstrittenen Kultzentralisation und mündete in die prophetische Skepsis der politischen und religiösen Machtballung, die sich mit diesem Akt verband.
Die Geschichte der Wallfahrt ist in das Schicksal Israels eingezeichnet. Das Ziel der Sehnsucht, das die Sänger besingen, wandelte sich in ein Schreckensbild und eine Metapher für Zerstörung und Wiederaufbau. Dabei mischte sich die Spiritualität der Wallfahrer mit anderen Wegerfahrungen: der Segensverheißung für den wandernden Abraham, der Befreiung aus dem Sklavenhaus, der Wüstenwanderung zum Berg Sinai, der Deportation in die Fremde und die erhoffte Heimkehr. Topisches und Utopisches amalgieren zu einem Hoffnungsbild. Im Kranz der Erzählungen werden Liturgie und Stadt immer mehr in Geschichten verstrickt. Gott ohne Stadt und Stadt ohne Gott – sein Auszug und seine Rückkehr – werden prophetische Orakel. Es kommt zu einem Hin und Her.
Die Frage, wo Gott wohnt, ist nicht eindeutig entschieden. Einmal wird die fremde Stadt zur provisorischen Heimat. Jeremia schreibt den Exilanten in Babylon: „Sucht der Stadt Bestes, lasst Euch nieder, mehrt Euch, der Segen Gottes ist mitgereist, er wird Euch Zukunft und Hoffnung geben.” Die Bedeutung der alten Heimat wird relativiert, weil die fremde Stadt ein Ort geworden ist, an dem Gott begegnet.
Es ist der Beginn der Schriftreligion, der Anfang einer neuen Ära und gefährlichen Erinnerung. Weil sie es wagt, Gott ohne eine bleibende Stadt vorzustellen, einen Gott im Wandel, einen Gott, der im Weggang – und im Untergang – neu als Schöpfer des Himmels und der Erde sein Volk anspricht, einen Gott, der in kein Haus und in keine Stadt mehr passt, weil er sich universal geweitet hat. Auf den Umwegen und in den Umkehrungen wandelt (sich) Gott. Es gibt diese merkwürdige Mehrdeutigkeit des Wandel-Begriffs, der einmal Veränderung, aber auch Gang oder Transformation – Wandlung – bedeuten kann. Ist es Gott selbst, der am Ende fluide wird? Oder flüchtig? Steht dann noch fest, woran wir uns im Inneren der Religion halten können? In die Sache mit Gott kommt Bewegung.
Dass die Verbindung von Tempel und Stadt der Hoffnung auf Erneuerung im Weg stehen können, sehen wir im größten Drama aller Zeiten, in der Geschichte des radikalen Wanderpropheten, in dem Gott unterwegs begegnet, auf den Straßen und an den Zäunen. Jesus aus Nazareth ist einer, der in Geist und Wahrheit anbetet und wie Moses auf den Berg geht zum Beten.
Jesus, der galiläische Provinzler, passt nicht ins städtische Milieu. Die Riten und Liturgien am Tempel sind nicht seine Heimat: Er weiß nicht, wo er sein Haupt niederlegen soll und endet draußen – vor der Stadt, hingerichtet am Kreuz, dem Foltertod, den der römische Staat für den Fremden – den peregrinus – vorgesehen hat. Die Evangelien erzählen die Geschichte einer katastrophal verlaufenden Wallfahrt. Was in Nazareth begonnen hat, verunglückt an Pessach in Jerusalem. Ausgerechnet der Pilgerort spuckt ausgerechnet zur Pilgerzeit den Messias aus! Der unheimliche Vorgang wird zur Kernstory einer neuen Liturgie, in der die Geschichte von der Nacht, in der er verraten wurde, erinnert, wiederholt und durchgearbeitet wird – bis er wiederkommt.
Bis er wiederkommt ist das Signal für den neuen Gang in Christus auf Christus hin. Der Apostel Paulus, dessen Mission man in Umkehrung zur missglückten Wallfahrt ins Zentrum als exzentrische Bewegung an die Ränder der Welt sehen kann, spricht vom Wandel im Geist und einer Wandlung durch den Geist, die durch eine Begegnung mit dem auferweckten Gekreuzigten ausgelöst wird. Er selber, von der Christus-Begegnung überrascht, wurde zum Apostel der Völker.
Der Wandel im Raum
Die gefährliche Erinnerung an die urchristliche Bewegung will nicht recht zum Bild der Stadt, die im Zentrum ihrer Geschäftigkeit Gott einen Sitz im Leben einräumt, passen. Dieses alte städtebauliche Prinzip, das mir einen schönen Arbeitsplatz beschert, habe ich jeden Tag vor Augen.
Geht man ins Innere des Münsters, erkennt man, dass die große Zentrumskirche im Herzen der Stadt in ihrem Inneren vom Wandel gezeichnet ist. Er zeigt sich im räumlichen Arrangement für die Liturgie. Der Wandel im Kirchenraum ist nicht nur die Folge einer Veränderung durch die Zeit, sondern hat auch eine veränderte Wahrnehmung der Zeit in der Zeit zur Folge. Augenscheinlich wird es an der Möblierung. Wo im Mittelalter der Letter stand, hinter dem die priesterliche Religion Liturgie am Tisch zelebrierte, ist ein leerer Chor. Die Reform hat das Geschehen ins Zentrum nach vorne verschoben. Die Wandlung, die als Schau inszeniert wurde, wanderte als Volksliturgie ins Kirchenschiff, kommt zum Taufstein und wird auf der Kanzel verkündigt. Die priesterliche Religion wird prophetisch zurückgerückt. Die Religion, der man zuschaut, wandelt sich zum Glauben, der aus dem Hören kommt. Und man sieht, dass es nichts mehr zu sehen gibt. Der Kirchenraum wird zum Hörsaal. Die Nähe zur Akademie wird architektonisch befestigt. Man sitzt und lauscht den Worten eines Schriftgelehrten auf Bänken sitzend. Auch der reformatorische Ritus hält an der Transformation fest. Aber das Verständnis der Wandlung wandelt sich.
Zur Zeit der Reformation wurde der Chor der Mönche zum Ort, wo die Schriften übersetzt wurden. In der sogenannten Prophezey wurde die erste vollständige deutsche Bibel aus dem griechischen und hebräischen Urtext übersetzt. Die Übersetzung veränderte die Liturgie nachhaltig. Sie wurde auf ein städtisches Auditorium zugeschnitten, das die deutsche Predigt aufmerksam hören und selber lesen sollte. Reformen führen nicht immer zu dem, was die Reformer intendierten. Aber sie hinterlassen Spuren.
Wandel ist auch ein altertümliches Wort für das betrachtende, sinnende Schreiten, das in den antiken Akademien gepflegt und in der Theologie weiterkultiviert wurde. Es gibt eine architektonische Verbindung zwischen der Philosophie und der christlichen Religion. Im Gebäude, in dem ich lehre und forsche, ist das Fundament ein Kreuzgang. Es ist ein der Akademie nachempfundener Korridor, das dem Umhergehen dient. Der Gang um die Mitte fördert das Nachdenken im Geist der meditatio und der contemplatio.
Dass die Universität Zürich die beiden Türme des Großmünsters als Logo gewählt hat, erinnert sie daran, dass die erste Initiative einer Zürcher Hochschule auf den Reformator Zwingli zurückging. Die Urzelle der Universität war denn auch jene Übersetzungswerkstatt im leergeräumten Chor des Großmünsters.
Übersetzung [in] der Kirche
Die Verbindung von kritischem Geist und betrachtendem Gebet in ein und demselben Raum ist dem Christentum eigentlich nicht fremd. Der Versammlungsraum, der für die Schriftlesung und das gemeinsame Gebet reserviert war, ist der erste räumliche Impuls in der Geschichte des Kirchbaus. Der Tempel – klassisch der Ort, wo Gott wohnt – spielt im frühen Christentum aus naheliegenden Gründen eher eine metaphorische Rolle. Der einzige physische Tempel, der als Kultort in Frage gekommen wäre, der Tempel in Jerusalem, wurde 70 n. Christus im Jüdischen Krieg von den Römern zerstört.
Aber die Botschaft des Himmelreichs hat expandiert. Dass sie überall ansiedeln konnte, machte sie zum Exportschlager. Schließlich war es der Erfolg der ortskritischen Missionsbewegung, die das Christentum sesshaft gemacht hat. Spätestens als Staatsreligion mussten die Christen Tempel haben. Es ist ein bemerkenswerter Wandel im temporalen Sinn, der sich in der Liturgie und im Raum widerspiegelte. Denn mit der Tempelfunktion ist eine wichtige Anforderung an die Religion, die im Raum stattfinden soll, gegeben. Sie soll Wandlung – im transformativen Sinn – bewirken.
Die Darstellung der Taufe und der Eucharistie, die zentralen Riten des Glaubens, verlangen nach einem symbolischen Bad und einem Tisch, also nach einer Möblierung und nach einer Einteilung des Raumes, die dem Personal und den Gottesdienstteilnehmern die dazu nötigen Gesten erlaubt. Sie richten sich auf ein Zentrum des Geschehens, einen Ort im Raum, auf den sich die Aufmerksamkeit konzentriert. Seelsorge und Liturgie sollen diejenigen, die sich versammeln, als Wandlung in sich erfahren. Schon die Übersetzer im Großmünster haben von dieser anderen – im Herz des Menschen sich ereignende – Wandlung – gesprochen. Im Prophezeygebet heißt es: „Allmächtiger, ewiger und barmherziger Gott, dessen Wort eine Leuchte ist für unsere Füße und ein Licht auf unseren Wegen, öffne und erleuchte unsere Herzen, auf dass wir Deine Worte lauter und rein verstehen und uns umwandeln lassen zu dem, was wir richtig verstanden haben, durch Jesus Christus unseren Herren.“
Es ist nicht mehr die wundersame Speise, die rettet, es ist das aufrüttelnde Wort. Sucht der Stadt Bestes wird zum prophetischen Ruf – in die Welt hinaus. Vor allem die Reformierten zeigten die Neigung, ihre Städte als neues Jerusalem zu verstehen: Calvin in Genf und Bullinger in Zürich.
Stadtgang mit Michel de Certeau
Diese Verschiebung im Raum war bei Lichte betrachtet eine beherzte Rückkehr zur Buchreligion, die sich schon immer schwer tat mit der urtümlichen Vorstellung des blutigen Tempelbetriebs, mit Schlachtopfern, rauchenden Öfen und brennendem Fett. Sie begnügte sich mit der Erinnerung an die Erinnerung, die das geistige Opfer verlangt. Sie liebäugelte mit dem Symbol und ergötzte sich am Wortritual. Genau das sieht man den leergeräumten Räumen an. Dennoch bleibt etwas vom Rauchgeruch in der Luft. Der Taufstein ist immer noch da. Brot liegt bereit und Wein auch. Das Ritual kommt nicht ohne das Feste aus. Es bleibt analog, stofflich, körperlich und sinnenhaft – ein letzter Widerstand bleibt. Sonst verflüchtigt sich die Religion.
Dazu braucht es einen liturgisch bezeichneten Raum. Dafür stehen die Kirchen. Die Erfahrung mit Mehrzweckhallen, die man bei Bedarf religiös umrüstet und aufmöbelt, ist zwiespältig. Die Kirche ist mehr als ein Raum für einen religiösen Zweck. Selbst der nüchternste Versammlungsraum trägt noch den Gebetsmantel der Tempelerinnerung. Und selbst wenn Gerichts-, Parlaments- oder Bankengebäude, die im 19. Jahrhundert gebaut sind, antike Tempel imitieren, weiß man doch instinktiv, dass man in diesen Räumen keinen Segen empfängt.
Wenn wir nun vom Blick ins Gebäude zum Blick auf das Gebäude wechseln, rückt dieses säkulare Umfeld ins Bild: die anderen Bauten, die nicht für Liturgien – oder wenn man den Begriff weitet für andere Liturgien, andere Opfergänge – bestimmt sind. Dieser Blick verlangt, dass man eine geistige Bewegung macht und sich in eine Beobachterposition begibt. Dann sieht man gleichsam von oben auf die Stadt herunter und erkennt die Straßen, die Plätze und die Position oder Verortung der Kirchen im Ensemble der Häuser.
Michel de Certeau verwendet das Bild des Überblicks in einem seiner Essays, der im Band The Practice Everyday Life veröffentlicht wurde. De Certeau, der 1925 in Chambéry in Frankreich geboren wurde, studierte bei Henry de Lubac, wurde Jesuit, gehörte zum Kreis der Schüler um Jacques Lacan, wechselte unter dem Eindruck der 68er Revolten zu den Sozialwissenschaften, lehrte in Kalifornien und Paris. Er ließ sich auch als Sozialwissenschaftler in seinen Lehren von der ignatianischen Kernbotschaft leiten: dass es die Bestimmung des Menschen ist, Gott in allen Dingen zu suchen. Es ist eine Überzeugung, die in ihrer Radikalität der residentiellen Religion riskant vorkommen muss.
In The Practice of Everyday Life verbindet De Certeau die Heiligung mit dem Gedanken der Würdigung aller Menschen, die sich im Raum der Stadt bewegen. Er fragt nach der Liturgie und Seelsorge im Alltag, wenn man so will. Was der Stadt Leben verleiht, was das Beste an ihr ist, sind ihre Bewohner. Es ist ihr Lebenswandel im eigentlich körperlichen Sinn – die Wege, die sie hinter sich legen und die Geschichte, die sie verkörpern, die den Raum ausmachen und füllen.
Der Lebenswandel im Raum bahnt sich seine Wege. Man sieht es – oder soll es sehen, was die Menschen treiben und wovon sie getrieben sind. Es sind ihre Geschichten. Es sind Prozeduren, die eine Kreativität abverlangen, die, wenn man es bei Licht betrachtet, das alltägliche Leben zu einer spirituellen Übung machen. Dazu braucht es Begegnungen, Muse und Zeit.
In dieser Grundüberzeugung ist eine Vorstellung des Lebens verbunden, die sich schwertut mit der modernen City. In Ghosts in the City wendet sich De Certeau gegen eine Stadtplanung, die das Gedächtnis auslöscht, funktionale und sterile Plätze kreiert und Städte in Geschäfts- und Wohnviertel aufteilt. Er wehrt sich gegen die Vorstellung, dass die Stadt selbst zu einem Tempel wird – und es scheint, dass er dabei an Le Corbusiers „radiant city“ denkt.
Für Le Corbusier sind Wolkenkratzer von Manhattan „neue weiße Kathedralen“. Das Materielle wird transzendent, alle Bedürfnisse sind gestillt, es braucht keine Kirchen – das urbane Engineering segnet alle. Le Corbusier ist ein Funktionalist, ein extremer Spiritualist, ein urbaner Gnostiker, der keine Erinnerung braucht, keinen Stoff und kein Sakrament. Für De Certeau ist Auslöschung des Alten Ausdruck einer totalitären Gesinnung. Das Gesetz des Marktes verlange effiziente Mechanismen; dadurch werde Spontanität, die Kreativität ermöglicht, zerstört. Im durch und durch organisierten Raum wird man durch eine künstliche Mobilität am Leben erhalten, ohne wirklich zu leben.
In einem zweiten Aufsatz, Walking in the City, fordert De Certeau Widerstand gegenüber einem System, das keinen Raum für das Andere mehr lässt. Es brauche Raum für Geschichten und Begegnungen, „narration created humanity“. Inspiriert von Roland Barthes Essay, der sich auf den Eiffelturm stellt, um über Paris aus der Höhe gesehen zu schreiben, steht De Certeau auf dem Dach des World Trade Center. Diese Position erlaubt die Fantasie, das Ganze zu sehen. Man ist Voyeur und wandelt nicht mehr. Es sei die Lust, über der Materie zu stehen und gottgleich zu sein.
Und das schadet dem Menschen. Es kann nicht gut gehen. Dieser Gott ist leb-, leib- und lustlos. Seine Transzendenz ist abstrakt. Ihr fehlt das Entscheidende: die Lebendigkeit. Das Gewusel der Geschichte und die Reibung des Menschlichen. Das Heilige, das sich im Schein der City auflöst, ist der Tempel, der zur Stadt wird und zur Stadt, die zum Tempel wird, ihr Glanz ist eine kalte Vision. Die Wanderer verschwinden, werden verschlungen. De Certeau hält dem entgegen, dass die Praktiker durch ihre Bewegung Leben in die Stadt bringen. Die Leben der Stadt – das sind Menschen, die in den Straßen gehen. Die Liturgie der Stadt sind ihre Menschen, ihr Bitten und Suchen, ihre participatio actuosa ist es, welche die Stadt lebendig macht. Dann wäre aber die Einsicht, dass die Stadt nie ohne Gott und Gott nie ohne Stadt leben kann, zugleich eine Absage an die urbane Utopie, die meint, Fülle planen zu können. Der Segen der Begegnung kommt immer überraschend. Er ist nicht planbar und unverfügbar.
Schlusslicht
De Certeaus Vision weist eine gewisse Nähe zu Albrecht Grözingers These einer Rückkehr der Religion auf, auch wenn sie – zwischen Moderne und Postmoderne positioniert – kritischer, kämpferischer und zugleich vorsichtiger in der Prognose ist, wie sich die Säkularisierung der Städte entwickelt.
Die Zurückhaltung ist – im größeren Zusammenhang der Geschichte des Wandels – durchaus angemessen. Die verschiedenen in sich verschlungenen Spuren lassen ein Geflecht erkennen, das sich nicht auf einfache Formeln reduzieren lässt. Es verweist auf eine Dialektik, die schon in der wechselvollen Geschichte des Tempels und der Kirche für überraschende Kehrtwenden gesorgt hat. Wer weiß schon, wie es weitergeht mit der Liturgie in der Stadt? Eine Lehre, scheint mir, lasse sich dennoch aus der Geschichte ziehen: Totalitäre Projekte, die aus der Stadt einen Tempel machen, zerstören die Übergänge, in denen Begegnungen mit Gott und dem Mitmenschen möglich werden.
Ich möchte zum Schluss für eine Bündelung der Gedanken noch einmal auf das Motiv des Pilgers zurückkommen. Interessanterweise hat die Praktik des Gehens in den letzten Jahren ein phänomenales Comeback erfahren. Ob man den Trend als Rückkehr zur Religion bezeichnen kann, ist eher fragwürdig. Auffällig ist aber die Bodenhaftung der Pilgerspiritualität. Die alten Pfade haben ein symbolisches Kapital. Man kann den Pilgerschritt als eine minimale oder – vielleicht angemessener – als eine aufs Elementare reduzierte Liturgie begreifen, die den größeren Raum, die Natur, als Wohnung Gottes erfahren lässt. Es ist eine Frage der Gangart, ob die Wanderer das Ziel erreichen.
In einer kritischen Auslegung postmoderner Lebenseinstellungen, unterscheidet Zygmunt Bauman vier Typen, die sozusagen an diesem Ziel vorbeischießen oder vorbeischlendern. Weil sie auf Nutzenmaximierung aus sind, „vergegnen“ sie den Mitmenschen. Ob Flaneur, Vagabund oder Tourist: was sie erleben bleibt oberflächlich, folgenlos und unverbindlich.
Die spätmodernen Wanderer wissen, dass durch jede Zielsetzung andere Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Der beständige Ortswechsel hilft dem Reisenden, sich selbst zu erfinden. Das Provisorische wird zum Prinzip, die Unruhe ist gewollt und das Offene ein (möglicher) Gewinn. Wenn das Angebot der Optionen wächst, wird die Möglichkeit der besseren Option zum ständigen Antreiber und Begleiter.
Kirchenräume, die für Liturgien gebaut wurden, sind Mahnmale einer anderen Gangart. Sie unterbrechen das Programm der Festlegungsvermeidung durch ihre schiere räumliche Existenz. Natürlich kann man sich darum scheren und auch dem Kirchenraum „vergegnen“.
Viele sehen in alten Kirchen das beste Sujet der Stadt, sie bleiben Flaneure und Voyeure. Sie kommen zum Schauen, nicht um zu hören.
Wie viele Großmünster-Besucher dennoch innehalten und verweilen, wage ich nicht zu sagen. Möglicherweise sind es mehr, als man denkt – Touristen, die Pilger werden, weil sie etwas aufsuchen, das sie gefunden hat.