Introduction
Im Jahr 2006 erschien der Dokumentarfilm „An Inconvenient Truth“ (dt.: Eine unbequeme Wahrheit) von Davis Guggenheim. Der damalige US-Vizepräsident und Präsidentschaftskandidat Al Gore beleuchtete darin die globale Erwärmung, den Klimawandel, ihre Ursachen und die absehbaren, überwiegend negativen Folgen für Erde und Menschheit. Da der Klimawandel größtenteils menschengemacht und eine Folge unseres Lebensstils und der Art und Weise ist, wie wir die Ressourcen der Erde nutzen, war diese Botschaft für viele Menschen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ein unbequemes Ärgernis; anhaltende Kritik bis hin zur Leugnung der Zusammenhänge war und ist die Folge.
Es scheint, dass sich die Geschichte nun wiederholt. Eine weitere unbequeme Wahrheit ist spätestens im Herbst 2017 publik geworden: ein massiver Rückgang unserer heimischen Insekten, das Insektensterben und nicht nur dieser, sondern zahlreicher weiterer Arten der Flora und Fauna. Schlimmer noch: Dieser Rückgang an Biomasse und Arten ist eingebunden in eine globale Biodiversitätskrise.
Forscher messen heute einen Rückgang der Biodiversität von erdgeschichtlichem Ausmaß. Harte Befunde sprechen dafür, dass ein Massenaussterben von solcher Größe in Gang gekommen ist, wie es in den vergangenen 541 Millionen Jahren – der Ära höheren Lebens, dem Phanerozoikum – bisher nur fünfmal zu verzeichnen war. Damals lösten vor allen Dingen tektonische, vulkanische oder klimatologische Großereignisse Massensterben aus. Am bekanntesten ist vermutlich das letzte große Massensterben vor 66 Millionen Jahren, als ein Asteroid die Erde mit der Wucht von einer Milliarde Atombomben traf, was innerhalb kurzer Zeit zum Kollaps der meisten Ökosysteme und zum Verschwinden nicht nur der Dinosaurier, sondern von rund 70 % aller existierenden Arten führte. Man vergegenwärtige sich das unvorstellbare Ausmaß einer solchen Katastrophe. Denn: Für das sechste Große Massensterben, das nun offenkundig in Gang gekommen ist, ist nicht irgendeine Naturgewalt, sondern allein der Mensch verantwortlich, genauer: Die Art und Weise, wie wir diesen Planeten bewirtschaften. Dahinter wiederum stecken Milliardenumsätze von Industrie und Agrarkonzernen, und so ist es kein Wunder, dass auch die Botschaft vom Insektensterben, von der globalen Biodiversitätskrise, nicht gerne gehört wird – in der Tat also eine unbequeme Wahrheit 2.0.
Der Rückgang unserer heimischen Insekten begann, wie wir gleich sehen werden, schon vor rund 200 Jahren, doch wurde dies lange Zeit im Wesentlichen nur von Fachleuten registriert, dokumentiert und durchaus auch beklagt, ohne dass man darauf gehört hätte. Inzwischen hat das Insektensterben ein solches Ausmaß angenommen, dass es selbst aufmerksamen Laien auffällt: Zum Beispiel bleiben heute selbst nach langen Überlandfahrten die Windschutzscheiben und Kühlergrills der Autos ziemlich sauber, während sie noch vor wenigen Jahrzehnten stark durch Insektenschlag verunreinigt wurden; der „Insektenschwamm“ kommt an unseren Tankstellen zum Scheibenputzen nur noch selten zum Einsatz. Vielfach, aber durchaus nicht überall, registrieren Gartenbesitzer auch, dass sich am blühenden Sommerflieder wesentlich weniger Falter einfinden als in der Vergangenheit.
Auch wenn manche Kreise aus erwähnten Gründen jede Signifikanz solcher Aussagen leugnen, sind solche und ähnliche Befunde dennoch realer Ausdruck eines dramatischen Rückgangs unserer Insekten. Dieser ist durch zahlreiche unabhängige Befunde und Indizien gestützt und ist wissenschaftlich unstrittig. Am Beispiel der Schmetterlinge – international anerkannte Bioindikatoren und die viertgrößte Tiergruppe der Welt – lässt sich dies auch in Bayern klar belegen.
Das Insektensterben begann mit Industrialisierung und Agrarrevolution
Der Begriff und das Ausmaß des Insektensterbens wurden mit einer im Herbst 2017 erschienenen Studie deutlich, an der Forscher vom Entomologischen Arbeitskreis Krefeld e. V. maßgeblich beteiligt waren. Sie hatten in 63 Schutzgebieten, vorwiegend in Nordrhein-Westfalen, über lange Zeiträume Insekten mithilfe von Flugunterbrechungsfallen (sog. Malaisefallen) gesammelt. Eine Bestimmung des Nettogewichts der jeweiligen Proben ergab, dass die Biomasse an Fluginsekten innerhalb von 1989 bis 2016, also in nur 27 Jahren, um mehr als 76 % zurückgegangen ist. Die Autoren verstanden es glücklicherweise, mit diesem dramatischen Befund die Medien so aufzurütteln, dass sie die Problematik in diversen Artikeln aufnahmen. Seither sind die Begriffe Krefeld-Studie and Insektensterben allgemein bekannt.
Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, das Insektensterben wäre ein neuzeitliches Phänomen, quasi aus heiterem Himmel gefallen und von den Krefelder Kollegen erstmals bemerkt worden. Vielmehr ist es Ausdruck einer schon gut 200 Jahre laufenden negativen Entwicklung der heimischen Artenbestände, die mit dem aufblühenden Kapitalismus und Beginn der industriellen und Agrarrevolution schon im 18. Jahrhundert einsetzte. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Fachwissenschaftler darauf aufmerksam, erkannten und beschrieben messerscharf die Ursachen, doch ihre Mahnungen verhallten weitgehend ungehört – im Prinzip bis zum Erscheinen der Krefeld-Studie. Der berühmte Naturforscher Alexander von Humboldt kritisiert sogar schon Ende des 18. Jahrhunderts großflächig abgeholzte Urwälder, verwüstete Landstriche und Monokulturen in Südamerika.
Im Jahr 1840 beklagt der Botaniker Carl Friedrich Philipp von Martius in seiner Flora Brasiliensis ebenfalls anthorpogene Naturzerstörung in Südamerika : „Wenn man über die Größe und das Erhabene in der Natur nachdenkt, drängt sich der Gedanke an die Gier des menschlichen Geschlechtes auf, das ohne Achtung nichts unberührt lässt, was ihm von Nutzen sein kann.“
In unseren Landen war der Begründer der modernen Ornithologie in Mitteleuropa, Johann Friedrich Naumann (1780-1857), einer der ersten, der die veränderte Landnutzung als Ursache für den Rückgang von Vögeln, Veränderung des lokalen Klimas, Einflüsse auf den Boden und Ökosystemfunktionen in Zusammenhang brachte. In seiner Klage über die „Verminderung der Vögel in der Mitte von Deutschland“ schreibt er: „Solche Erfahrungen … müssen uns endlich auch auf eine der mancherlei Ursachen leiten, welche am mehrsten die Abnahme der Vögelzahl bewirkt oder großen Antheil an deren Verminderung hat. Nur zu gewiß ist sie, als Folge der Vermehrung der Menschen und ihrer Bedürfnisse, in der gesteigerten Industrie und einer einträglichen Benutzung des Bodens zu suchen. Den Ackerbau zu fördern und seine Erzeugnisse zu vermehren, suchte man allerlei Mittel und Wege hervor, oft energische und künstliche sogar, und nur jenen im Auge wurde selbst manches trügerische Project, nicht selten mit Vernachlässigung aller Sorge für die Existenz kommender Geschlechter, sowie zum Schaden der Vögel durchgeführt. Dies wird namentlich in der Mittel unsers deutschen Vaterlandes überall bemerklich …. Striche, unterbrochen durch Wäldchen und Gebüsche mancherlei Art, die sonst unseren Fluren die liebliche Abwechslung gewährten, sind in jüngster Zeit in eintönige Ackerflächen umgewandelt; ohne alle Schonung verfuhr man gegen jene, angeblich um der kleinen Sorge für ihre Erhaltung enthoben zu sein und zugleich eine erhöhte Nutzung der Fläche zu erzielen, die dennoch auch als Feld oft genug precair blieb, wovon eintretender Mangel an Nutzholz wol obenan steht, wie denn die verlorene Adhäsion der Gewitter- und Regenwolken, die Unterbrechung ausdörrender Winde, das Vertilgen schädlich werdender Insekten durch die Vögel nicht minder Erwähnung verdienen. Besonders haben unsere kleinen Singvögel durch rastloses, fast zur Monde gewordenes Ausroden wilder Gehölze, Feldhecken und abgesonderter Waldtheile, um für den Ackerbau Land zu gewinnen, so viele Aufenthaltsorte verloren … .“
Nur wenig später berichten Schmetterlingsforscher, Lepidopterologen, aus Regensburg über den lokalen Rückgang der Bestände und das Erlöschen früherer Fundstellen aufgrund veränderter Landnutzung durch Industrie und Landwirtschaft. Dr. Gottlieb August Wilhelm Herrich-Schäffer (1799-1874), einer der bedeutendsten Lepidopterologen seiner Zeit, schreibt dazu im Jahr 1854 in der Schmetterlingsfauna von Regensburg: „Ich glaube nicht, dass durch wirkliche Sammler Arten in einer Gegend ausgerottet werden können. Wenn die Frequenz einzelner durch sinnloses Zusammenraffen aller erreichbaren Exemplare auch auf Jahre hinaus merkbar vermindert werden kann, so denke ich doch, dass hiezu klimatische Verhältnisse und vor Allem die leidige Wuth der Oekonomen, jedes Fleckchen nutzbar zu machen, unverhältnissmässig mehr beitragen.“
31 Jahre später musste der Kaufmann Anton Schmid (1809-1899) feststellen, dass diese Entwicklung fortgeschritten war und man nun schon in das 20 Kilometer entfernte Kelheim fahren muss, um bestimmte Arten noch anzutreffen. In seiner Fauna von 1885 bemerkt er: „Die früher angeführten Fundstellen sind so ziemlich die alten geblieben, was wir wohl unseren Bodenverhältnissen zu verdanken haben; immerhin aber ist mancher Fleck Erde der Cultur, den Fabrik- oder Eisenbahnanlagen zum Opfer gefallen, nur nicht in dem Maasse, um, wie anderwärts, das gänzliche Verschwinden einzelner Species beklagen zu müssen. Bedauerlicher dagegen ist der Unverstand, mit welchem man fortwährend den Hecken durch vermeintlich begründetes oder muthwilliges Ausrotten zu Leibe geht und, dass alle mündlichen wie schriftlichen Auslassungen über die grossen allgemeinen Nachtheile kein Gehör finden wollen. Bietet ja in dieser Hinsicht dem Naturfreunde fast jedes Frühjahr eine neue, unliebsame Ueberraschung. Der vorhin erwähnte Ausfall von Arten der früheren Fauna findet sich übrigens reichlich gedeckt durch die Zurechnung der schönen Kelheimer Gegend, (…).“
Mit modernen Worten zusammengefasst: Schon Mitte des 19. Jahrhunderts war klar, dass sich Monokulturen, Flurbereinigung und Flächenfraß negativ auf die Bestände heimischer Arten auswirken und auch das lokale Klima und die Bodenerosion beeinflussen. Mitte des 20. Jahrhunderts ist dann noch der – seither massiv steigende – Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden dazugekommen. Damit wären bereits die wesentlichen Faktoren des Insektensterbens in Mitteleuropa vorhanden! Allein, schon damals verhallte der Protest von Fachleuten gegen diese Entwicklung – Anton Schmids Worte scheinen in diesem Zusammenhang geradezu zeitlos aktuell!
Da die Industrialisierung der Landwirtschaft und die Ausweitung der Agrar-, Siedlungs- und Verkehrsflächen in Deutschland bis heute immer weiter fortgeschritten ist, nahm parallel dazu die Biodiversität immer weiter ab. Heute dokumentieren die „Roten Listen“ der gefährdeten Tier- und Pflanzenarten Bayerns bzw. Deutschlands diese Entwicklung; sie werden leider immer länger. Zunächst beginnend mit einer abnehmenden Häufigkeit, erlöschen später einzelne Populationen, bis schließlich eine Art ganz aus der Gegend oder im schlimmsten Fall: von der Erde verschwindet. Diese allgemeine Tendenz lässt sich heute auf allen Skalengrößen (regional, national, europaweit, global) feststellen.
Rückgang der Schmetterlinge in Bayern – und darüber hinaus
Schmetterlinge (Ordnung Lepidoptera Linnaeus, 1758) sind äußerst artenreich. Weltweit gibt es ca. 175.000 beschriebene Arten, aus Bayern sind bisher 3.278 Arten bekannt. Sie wurden schon im 18. Jahrhundert gerne gesammelt. Daher gibt es in Naturkundemuseen umfangreiches Belegmaterial und auch reichhaltig Literaturquellen, die Auskunft über die frühere Verbreitung und Häufigkeit geben. Sehr umfangreiche Bestände finden sich beispielsweise in der Zoologischen Staatssammlung München – mit mehr als 11 Millionen Exemplaren die größte Schmetterlings-Forschungssammlung der Welt; weiterhin gibt eine Reihe öffentlich zugänglicher oder privater Sammlungen Einblick in die frühere Verbreitung. Aus dem Vergleich der historischen Datenbasis mit aktuellen Erhebungen lässt sich die Bestandsentwicklung rekonstruieren.
Vor zwei Jahren veröffentlichten wir eine räumlich und zeitlich differenzierte Checkliste, eine Art Volkszählung, der Schmetterlinge Bayerns, aus der aufschlussreiche Daten zur Bestandsentwicklung abgeleitet werden konnten. Die Erstellung einer solch umfangreichen Basisstudie wäre ohne die Kooperation zahlreicher engagierter Privatsammler, unter anderem aus der Münchner Entomologischen Gesellschaft und der Arbeitsgemeinschaft Bayerischer Entomologen, gar nicht möglich gewesen. Dank der umfangreichen Sammlungsbestände in der Staatssammlung, eigenen Sammlungen und der Zuarbeit vieler Kolleginnen und Kollegen konnten wir insgesamt fast 500.000 Datensätze aus Bayern auswerten, zeitlich zurückreichend bis in die Frühphase der Agrarrevolution im 18. Jahrhundert. In Anbetracht der umfangreichen Datenbasis, der hohen Artenzahl, der relativ großen Fläche Bayerns und der Tatsache, dass Schmetterlinge als Bioindikatoren geeignet sind, um allgemeine Schlüsse über die Situation der Insekten und ihrer Lebensräume zu ziehen, hat diese Studie sicher Aussagekraft weit über die Grenzen Bayerns hinaus.
Wir mussten feststellen, dass 428 von 3.243 Arten im 21. Jahrhundert ausgestorben oder verschollen waren – ein Anteil von 13 %! Seither ist die Forschung weitergegangen und die Zahl der aus Bayern bekannten Arten hat sich mittlerweile auf 3.278 erhöht, die der fehlenden auf 375 (= 11 %) vermindert. Diese leicht verbesserten Zahlen sind aber lediglich Ausdruck besonders intensiver, gezielter Nachsuche in den vergangenen Jahren; sie zeigen weder eine echte Zunahme des Artenbestandes an. Die neu hinzugekommenen Arten waren schon immer heimisch, sind aber bisher unentdeckt geblieben. Noch ist eine Erholung der Bestände festzustellen. Die wiedergefundenen Arten sind so kryptisch oder so selten geworden, dass sie mit Standardmethoden nicht ohne weiteres zu finden sind. Vielmehr sind sie leider nur eine kleine kosmetische Korrektur der Zahlen. An den prinzipiellen Befunden hat sich dadurch nichts geändert.
Dies wird im zeitlichen Vergleich der Entwicklung der Artenzahl deutlich. Geeignet hierfür sind Angaben in den Roten Listen bayerischer Schmetterlinge, die in den Jahren 1992 und 2004 publiziert wurden. In der folgenden Grafik ist jeweils die Anzahl der ausgestorbenen oder verschollenen Arten dargestellt. Man erkennt unschwer, dass der Rückgang der Arten nicht nur beständig fortgeschritten ist, sondern sich dies sogar mit zunehmender Geschwindigkeit vollzieht.
In der Checkliste wurden die Artenbestände auch für unterschiedliche Zeitabschnitte erfasst. Dabei stellte sich heraus, dass zwischen 1971 und 2000, also in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts, mehr Arten aus Bayern verschwunden sind als in den gesamten 200 Jahren zuvor.
Bei der Betrachtung der Lebensraumansprüche der verschwundenen Arten fällt auf, dass besonders die Arten der offenen Flur, „Wiesenschmetterlinge“ im weiteren Sinn, zurückgegangen sind, und hier insbesondere auf warmtrockene, nährstoffarme Magerrasen und Felsfluren spezialisierten Arten; bei ihnen sind die Verluste rund dreimal höher als im allgemeinen Schnitt.
Auch Naturschutzgebiete sind von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Sie, neben den Nationalparks die „Hotspots“ unserer Biodiversität, schützen also auch nicht mehr ausreichend. Das zeigt sich beispielhaft bei einer Untersuchung der Schmetterlinge des Naturschutzgebiets „Am Keilstein“ im Nordosten von Regensburg. Dieser Biotop bietet aufgrund eines glücklichen Zusammentreffens von Faktoren einzigartige Einblicke in die Entwicklung der Falterbestände und ihrer Ursachen. Erstens handelt es sich um besonders artenreiche, warme Südhänge im Donautal mit mehr als 1.440 nachgewiesenen Schmetterlingsarten oder 44 % der bayerischen Lepidopterenfauna, zweitens ist der ursprüngliche Charakter des Biotops, nämlich mageres Offenland und Felsfluren, dank Aktivitäten des Landschaftspflegeverbands noch in Teilabschnitten mehr oder weniger erhalten, und drittens wurden hier über mehr als 200 Jahre hinweg immer wieder all vorkommenden Schmetterlingsarten gesammelt.
Bei einer Untersuchung der naturschutzfachlich wichtigen tagaktiven Schmetterlinge wurden, wie für Magerrasengesellschaften leider üblich, innerhalb der letzten 200 Jahre ein Artenrückgang um 39 % festgestellt; dabei erloschen die Vorkommen von mehr als der Hälfte der Arten in diesem Jahrzehnt. In einer zweiten, zurzeit in Begutachtung befindlichen Arbeit über die Nachtfalter und Kleinschmetterlinge sind 32 % der Arten verschwunden.
Allgemein zeigt sich eine Vereinheitlichung und Vereinfachung der Lebensgemeinschaften. Profiteure dieser Entwicklung sind allein Allerweltsarten, die an Pflanzen leben, die gegen Stickstoffbelastung tolerant sind; dies ist ein wichtiger Hinweis auf zugrunde liegende Ursachen. Hingegen konnte kein Einfluss des Klimawandels auf die Artenbestände nachgewiesen werden. An sich müssten die Wärme liebenden Arten des Keilbergs von der globalen – und natürlich auch regional messbaren – Erwärmung profitieren, doch sie tun es nicht, im Gegenteil: Wie erwähnt, sind gerade diese Magerrasenspezialisten am stärksten rückläufig.
Bevor Arten ganz aus unserem Gebiet verschwinden, gehen ihre Bestände immer mehr zurück und dies betrifft auch die Mehrzahl all jener Arten, die es heute noch in Bayern gibt. Dies ist eine Entwicklung, die Lepidopterologen schon seit Jahrzehnten beobachten und die auch aus einer Vielzahl von Publikationen hervorgeht, jedoch sind wissenschaftlich belastbare Datensätze hierzu leider Mangelware. Das liegt daran, dass in der Vergangenheit kaum jemand die Notwendigkeit gesehen hat, über Jahrzehnte hinweg immer an denselben Stellen regelmäßig nachzusuchen und dabei nicht nur die Arten, sondern auch die Anzahl der Individuen einer Art in standardisierter Form zu erfassen. Eine der wenigen einschlägigen Datensätze von erheblichem Umfang stammt von Josef Reichholf aus dem südöstlichen Niederbayern. Er beschreibt für das dortige Gebiet seit 1969 einen Rückgang der Wiesenschmetterlinge um 73 %, dramatische Bestandseinbrüche um ca. 99 % bei einigen „Allerweltsfaltern“ wie Brauner Bär (Arctia caja) und Kleiner Weinschwärmer (Deilephila procellus), und seit Ende der 1970er Jahre einen kontinuierlichen, auffallenden Rückgang in der Menge der Nachtfalter allgemein. Dies ist in Zusammenschau mit allen anderen Daten und Einzelbeobachtungen erschreckend – aber leider nicht überraschend.
Auf Ebene der Abundanzen und Populationen gibt es allerdings große regionale Unterschiede. Das liegt daran, dass das Insektensterben nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen ist, sondern auf mehrere, die nicht überall, nicht unbedingt zur selben Zeit und auch nicht überall in derselben Stärke am Wirken sind. Am Wohnort des Verfassers hat es beispielsweise seit den 1970er Jahren überhaupt keine Veränderung in der Häufigkeit des Kleinen Weinschwärmers gegeben, während dieser am unteren Inn fast verschwunden ist; intensive Landwirtschaft mit Monokulturen, Überdüngung und Pestiziden haben dieser Art dort zugesetzt, während diese Faktoren im unmittelbaren Stadtgebiet von Regensburg keine Rolle gespielt hat. Dafür gibt es seit den 1970ern im eigenen Garten inzwischen um 99 % weniger Tagpfauenaugen (Aglais io), einer an Brennnesseln lebenden und bayernweit durchaus nicht gefährdeten „Allerweltsart“; am unteren Inn geht es diesen Nesselfaltern hingegen immer noch gut. Grund für den Zusammenbruch der Tagpfauenaugen im Süden Regensburgs ist die rapide Ausdehnung der Wohngebiete, während die Falter in den Innauen noch hinreichend Habitate vorfinden.
Derartige regionale Unterschiede sind typisch, auch für viele weitere Arten, aber keinesfalls ein Argument gegen das Insektensterben – ebenso wenig wie die Beobachtung, dass manche Arten wie Gespinstfalter (Gattung Yponomeuta) alljährlich in Massen auftreten oder manche Arten häufiger werden und ihr Areal ausweiten, wie zurzeit etwa der gefürchtete Eichenprozessionsspinner (Thaumetopoea processionea). „Gute“ und „schlechte“ Insektenjahre hat es schon immer gegeben; sie sind z. B. auf Witterungsunterschiede oder unterschiedliche Entwicklung von Prädatoren zurückzuführen, auch Massenauftreten und Arealverschiebungen sind völlig normal. Entscheidend ist hingegen der über große Flächen und lange Zeiten gemittelte Trend in der Entwicklung der Abundanzen, Populationen und Artbestände – und dieser zeigt anhaltend nach unten.
Insgesamt ist also das Insektensterben im Allgemeinen und der Rückgang der Schmetterlinge in Bayern im Besonderen durch eine Summe aus wissenschaftlichen Studien, unzähligen, oft in kleineren Arbeiten dargelegten Einzelbeobachtungen von Privatsammlern und immer länger werdenden Roten Listen klar belegt. Diese Entwicklung gibt es nicht nur in Bayern und ganz Deutschland, sondern auch in allen Nachbarländern, auf Ebene der EU sowie weltweit. Auch werden Folgewirkungen auf die Nahrungsnetze und Ökosysteme bereits beobachtet, z. B. ein Rückgang von Bestäubungsleistung, Rückgang von Pflanzenarten parallel zu ihren Bestäubern, oder ein EU-weiter rapider Rückgang von Vögeln.
Wie in einem Puzzle fügen sich zahllose, unabhängige Befunde und Beobachtungen zu einem insgesamt widerspruchsfreien Bild zusammen, das immer mehr das Antlitz eines globalen Massenaussterbens erkennen lässt. In der Naturwissenschaft – jedenfalls unter denjenigen Forschern, die das Glück haben, unabhängig von Wirtschaft und Politik ihr Brot zu verdienen – herrscht darüber prinzipielle Einigkeit. Letztlich ist es ein Indizienprozess, der geführt wird, und die Sprache, die die Befunde sprechen, ist eindeutig.
Müssen wir uns deshalb Sorgen machen?
Saubere Windschutzscheiben und weniger Plagegeister im Sommer sind doch eigentlich eine erfreuliche Nachricht – oder? Leider ist dem nicht so! Weil Insekten sehr zentrale, fundamentale Rollen in den Naturkreisläufen und Ökosystemen spielen, drohen durch ihren Rückgang Kaskadeneffekte mit schwerwiegenden Folgen für die Menschheit. Unter anderem sind Insekten unverzichtbare Bestäuber unserer Blütenpflanzen: 75 % unserer Nutzpflanzen werden von Insekten bestäubt; dabei liegt der relative Anteil von Honigbienen übrigens nur bei ca. 39 %, der Rest entfällt auf Wildbienen und andere Insekten. Der wirtschaftliche Nutzen der Bestäubung liegt weltweit im dreistelligen Milliardenbereich. Fällt diese aus, ist ein stark reduziertes Angebot von Feldfrüchten, insbesondere bei Obst und Gemüse, die unmittelbare Folge, und mittelbar sogar auch bei Milchprodukten. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Rolle von Insekten beim Recycling von Biomasse. Sie beseitigen Aas und Dung in signifikantem Ausmaß; ohne die Insekten wäre die Welt voll Schimmel und Fäulnis, wodurch das Risiko für Infektionskrankheiten enorm gesteigert würde. Schließlich sind Insekten aufgrund ihrer massenhaften Produktion von Nachkommen eine extrem wichtige Proteinquelle für eine Vielzahl kleinerer und größerer Tiere einschließlich räuberisch lebender Insekten: Schlupfwespen; ebenso Spinnen, Süßwasserfische, Amphibien, Reptilien, Vögel und zahlreiche Säugetiere. Fallen die Insekten als Nahrungsquelle aus, können ganze Nahrungsnetze kollabieren oder schwer in Mitleidenschaft gezogen werden.
Noch viele weitere wichtige Rollen kommen den Insekten zu, unter anderem als Landschaftsgärtner und – über die Honigbiene hinaus – als wichtige Dienstleister für den Menschen. Der Evolutionsbiologe Edward O. Wilson ist gar der Ansicht, dass die Menschheit in einer Welt ohne Insekten nur noch 10 Jahre zu überleben hätte. Ehrlicherweise muss aber eingestanden werden, dass die Komplexität der ökologischen Zusammenhänge extrem hoch und wenig verstanden ist. Unbestreitbar ist aber eines: Eine Welt ohne Insekten hätte eine massive Einschränkung der Lebensqualität zur Folge, einschließlich schwerwiegender wirtschaftlicher und gesundheitlicher Nachteile, erhöhter Seuchengefahr, Rattenplagen, Verteilungskämpfe, eine weitere Befeuerung der globalen Erwärmung und vieles mehr. Es wäre eine triste Welt, auch für die Seele. Denn die Natur ist nachweislich eins der wirkungsvollsten Antidepressiva, die es gibt. Nur gibt das die Pharmaindustrie aus verständlichen Gründen nicht zu.
Resilienzforscher haben herausgefunden, dass der Verlust an genetischer Vielfalt heute schon die planetaren Belastungsgrenzen der Erde über alle Maße sprengt. Auch die massive Störung der geochemischen Stoffkreisläufe durch Belastung mit Stickstoff und Phosphat – vorwiegend aus der intensiven Landwirtschaft, aber auch Industrie und Verkehr stammend – sind schon weit jenseits der akzeptablen Belastungsgrenzen. Die Biodiversitätskrise und das Problem der Überdüngung übersteigen die Pufferkapazitäten des Planeten noch stärker als der Klimawandel, der für sich allein genommen bereits fatal ist. Also ja: Wir müssen uns Sorgen machen um das gemeinsame Haus Erde. Und zwar große.
Artenvielfalt kam und geht mit Veränderung der Landnutzung
Im Jahr 2005 erschien mit dem Millennium Ecosystem Assessment ein wichtiger und in vielen Abschnitten leider unerfreulicher Bericht über den Zustand der globalen Ökosysteme und der Biodiversität. Als wesentliche Urheber der Biodiversitätskrise werden darin genannt: Veränderte Landnutzung, Klimawandel, invasive Arten, Raubbau an natürlichen Ressourcen und Umweltverschmutzung.
In unseren Breiten ist vorwiegend der erste dieser Punkte maßgeblich. Während in vielen Teilen der Welt die Zerstörung von ursprünglichem Lebensraum, z. B. der tropischen Regenwälder, ein zentrales Problem darstellt, stellt sich die Situation in Mitteleuropa anders dar. Hier entwickelte sich die große Artenvielfalt, deren Rückgang wir heute beklagen, in der Kulturlandschaft, die der Mensch sekundär über Jahrhunderte geschaffen hatte. Noch zur Römerzeit, wie z. B. in Kapitel 5 von Tacitus‘ Germania nachzulesen, war Deutschland von Urwäldern und Sümpfen beherrscht. Die seither erfolgte Ausdehnung der Zivilisation mit ihrem Bedarf an Bauplätzen und -material, Ackerland und Brennholz führte zur großflächigen, aber nicht vollständigen Rodung und Umgestaltung der Primärwälder, und in der Folge entstand eine Fülle neuartiger, großflächig offener und vernetzter Lebensräume: Zunehmend mager werdende Heiden, Trockenrasen und Ödland, Hute-, Nieder- und Mittelwälder, Streuwiesen und vieles mehr bildeten zusammen mit – chemiefreien – Äckern, Gärten und Verkehrswegen der Siedlungsflächen ein Mosaik unterschiedlicher, eng verzahnter Biotope – neue Lebensräume, neue Nischen, die von entsprechend angepasster Fauna und Flora in Besitz genommen werden konnten. Arten, die vorher nur eng begrenzte Vorkommen hatten, konnten sich nun über weite Landesteile ausbreiten, zahlreiche neue Arten, die zuvor keine Existenzgrundlagen bei uns gefunden hatten, konnten nun erfolgreich einwandern und Fuß fassen. Natürlich ging diese Entwicklung zulasten der Urwaldarten; sie mussten massive Einbußen durch Lebensraumverlust hinnehmen, zunächst durch die direkte Vernichtung von Urwald und dann durch die wirtschaftliche Umgestaltung der meisten verbliebenen Wälder. Dennoch wuchs unterm Strich die Biodiversität, die Vielfalt an Lebensräumen und Arten, deutlich an und erreichte im 19., wohl auch schon im 18. Jahrhundert ihr Maximum.
Wie bereits geschildert, setzten dann die industrielle Revolution und die Agrarrevolution ein. Der ständig weiter ansteigende Flächenhunger der Menschen ebenso wie der Wandel von extensiver hin zu intensiver Landnutzung führte seither zu zunehmenden Lebensraumverlusten in der alten Kulturlandschaft und einer zunehmenden Monotonisierung der Flur, zu der seit Mitte des 20. Jahrhunderts auch noch steigende chemische Belastungen hinzukommen; in der Folge sind unsere Schmetterlinge ebenso wie die Artenvielfalt allgemein im Sturzflug begriffen. Es lässt sich also festhalten: Art und Intensität der Landnutzung bestimmten und bestimmen seit gut 2.000 Jahren die Artenvielfalt in Mitteleuropa. Die einstige Vielfalt kam mit der extensiven Nutzung und verschwindet mit der heutigen intensiven Nutzung und ansteigenden Siedlungsdichte.
Betrachtet man die heutige Flächennutzung in Deutschland, fällt auf, dass mehr als die Hälfte der Landesfläche Agrarland ist. Zusammen mit den Siedlungs- und Verkehrsflächen machen diese, stark anthropogen geprägten Landesteile zwei Drittel der deutschen Fläche aus. Es ist also vollkommen klar, dass Veränderungen, die sich dort abspielen, den flächenmäßig größten Impakt auf die Biodiversität haben; und da, wie wir gleich sehen werden, diese Veränderungen inzwischen der Biodiversität zum Nachteil und nicht mehr zum Vorteil gereichen, geht es mit der Artenvielfalt auf zwei Dritteln der Landesfläche besonders bergab.
Im Prinzip gilt dasselbe durchaus auch für den Wald, der immer noch fast ein Drittel der Fläche einnimmt. Von Rudimenten in Nationalparks abgesehen, gibt es de facto keinen ursprünglichen Urwald mehr und demnach sind auch obligatorische Urwaldbewohner schon lange so gut wie verschwunden. Alle anderen Waldbewohner aber, die nicht so hochgradig auf Urwaldbiotope spezialisiert sind, kommen durchaus noch mit der Situation klar, sofern die Wälder nicht in intensive Monokulturen umgewandelt wurden, und daher ist der Rückgang von Waldarten nicht so gravierend wie der der Offenlandbewohner.
Die Gründe für den Sturzflug unserer Schmetterlinge und vieler anderer Insekten sind auch klar zu benennen.
Umwandlung und Zerstörung von Habitaten
Der zunehmende Flächenhunger unserer Gesellschaft hat zwei Gesichter: Zum einen spielt hier die intensive, inzwischen vielfach in industriellem Stil betriebene Landwirtschaft eine große Rolle:
- Die schon im 19. Jahrhundert stark kritisierte Ausräumung der Landschaft, die durch die Flurbereinigung einen extremen Vorschub bekam, führt zu monotonen, strukturarmen Landschaften. Zum Beispiel nimmt die Entfernung von Hecken, kleinen Feldgehölzen oder Feldrainen einer Vielzahl von Kleintieren ihren Brut- und Lebensraum. Ebenso die Aufgabe von Blüh- und Randstreifen oder das Betonieren von Feldwegen.
- Sechsmal im Jahr gemähte Wiesen (in der Regel auch noch intensiv gedüngt) mutieren schnell zur „Grünen Wüste“; eine Vielzahl von Pflanzen vertragen keine intensive Mahd und verschwinden – mit ihnen auch alle Insekten, die auf diese Pflanzen als Nahrung angewiesen sind.
- Auf Monokulturen wächst nur eine einzige Pflanzenart – sämtliche Beikräuter der Feldflur werden heute in der Regel durch Totalherbizide ausgelöscht. Sowohl die strukturelle als auch pflanzensoziologische Verarmung einer solchen Flur lässt nur noch wenigen Tieren eine (Über-)Lebensmöglichkeit.
Zum zweiten ist es der Flächenfraß durch den stetig wachsenden Ausbau von Siedlungs-, Industrie- und Verkehrsgebieten. In Bayern verschwinden nach Angaben des Statistischen Landesamtes heute täglich 13 Hektar unter Beton.
Degradierung von Habitaten
All jene Reste der alten Kulturlandschaft, die noch nicht den oben genannten Veränderungen zum Opfer gefallen sind, leiden heute unter einer galoppierenden Beeinträchtigung ihres ursprünglichen Charakters. Daran sind zwei Faktoren maßgeblich beteiligt: Sukzession und Überdüngung.
Nutzungsaufgabe, d. h. das Wegfallen traditioneller extensiver Bewirtschaftungsformen führt dazu, dass sich Offenland wieder in den früheren, natürlichen Zustand zurückentwickelt: Es wächst zu und wird schließlich wieder zu Wald. Dieser Vorgang heißt Sukzession. Auch ausgelichtete Wälder. z. B. die ehemaligen Hutewälder, wachsen auf diese Weise zu und werden wieder zu geschlossenem Wald. Die Sukzession wird noch beschleunigt durch die steigende Erderwärmung, vor allen Dingen aber durch den zweiten maßgeblichen Faktor der Habitatdegradierung: die Überdüngung.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist der Einsatz von Mineraldünger rapide gestiegen und mit der modernen Massentierhaltung kommt noch jede Menge stark mit Stickstoffverbindungen angereicherte Gülle hinzu. Die Folge ist eine so extreme Belastung der Böden, Gewässer und der Luft, dass sie die Belastungsgrenzen der Erde längst massiv sprengen.
In den terrestrischen Ökosystemen spielt vor allem die Überfrachtung mit reaktiven Stickstoffverbindungen die Hauptrolle, bei den Gewässern kommen noch Phosphate hinzu. Auf die Felder wird mehr Dünger ausgebracht, als die Pflanzen aufnehmen können; so entstehen Überdüngung und Stickstoffüberschuss. Im Rahmen des komplexen biotischen und abiotischen Stickstoffkreislaufes gelangen reaktive Stickstoffverbindungen auf dem Luft- und Wasserweg auch in weit entfernte Habitate. In allen Regionen mit ausgeprägter industrialisierter Landwirtschaft kommt es so flächendeckend zu einer steigenden Belastung der Böden und übrigens auch des Grundwassers.
Vor allem die Verteilung durch die Luft, die „Luftdüngung“, ist für Nährstoffeinträge auch in Schutzgebieten verantwortlich, die weit entfernt von intensiv bewirtschafteten Agrarflächen liegen.
Die Folgen für Flora und Fauna sind allgemein fatal; ganz besonders betroffen sind aber die artenreichen Lebensgemeinschaften des früher nährstoffarmen Offenlandes; dies ist ein Hauptgrund für das so rapide Verschwinden von Magerrasenspezialisten auch in Schutzgebieten. Zunächst verschwinden alle gegen Stickstoff empfindlichen Pflanzen aus den Magerrasen und mit ihnen all jene Tiere, die obligatorisch von diesen Pflanzen leben. Gleichzeitig wächst die verbleibende Flora immer stärker, vermutlich zusätzlich befeuert durch die globale Erwärmung, und ist angereichert mit Stickstoffverbindungen; solcherart gedüngte Nahrung vertragen viele Larven nicht und gehen an Durchfall und Krankheiten zugrunde. Drittens verändern sich die gesamten Lebensgemeinschaften strukturell und bezüglich der Zusammensetzung der Arten: Die niedrig wachsenden Kräuter der Magerrasen verschwinden unter hochwachsenden, stickstofftoleranten oder gar stickstoffliebenden Gräsern wie dem Glatthafer; mit zunehmendem Hochwuchs und Vergrasung ändert sich das Mikroklima in Bodennähe, also dort, wo die Larven leben: Es wird substanziell kühler und feuchter. Die meisten auf nährstoffarme, warmtrockene Habitate spezialisierten Arten vertragen diese Klimaänderung im Kleinen nicht und sterben aus.
Vergiftung von Pflanzen und Tieren durch Pestizide
Unkraut- und Schädlingsvernichtungsmittel werden seit Mitte des 20. Jahrhunderts in steigendem Ausmaß eingesetzt. Totalherbizide wie zum Beispiel Glyphosat eliminieren sämtliches pflanzliches Leben auf den später mit Monokulturen bestellten Feldern und entziehen damit auch sämtlichen Insekten die Nahrungsgrundlage, die von Beikräutern der Ackerflur leben. So ist beispielsweise der früher verbreitete Kornblumen-Plattleibfalter (Agonopterix laterella) inzwischen vom Aussterben bedroht.
Insektizide vernichten Schädlinge ebenso wie Nichtzielorganismen, wenn diese in den Wirkungsbereich kommen. Leider bleiben auch Pestizide nicht auf den Ort ihrer Anwendung beschränkt, sondern verbreiten sich in die Umwelt und sorgen auch so für eine überregional wirksame Beeinträchtigung von Flora und Fauna. Speziell die Gruppe der sogenannten Neonicotinoide vereint hochpotente Nervengifte, die auf Insekten deutlich stärker als auf Menschen wirken und teilweise mehrere tausendmal effektiver sind als das inzwischen längst verbotene DDT. Etwa seit der Jahrtausendwende kommen Neonicotinoide in rapide steigendem Ausmaß zum Einsatz. In subletalen Dosen bewirken sie bei Bienen unter anderem Immunschwäche und Gedächtnisstörungen, zudem ergaben Untersuchungen am Umweltforschungszentrum in Leipzig, dass diese Stoffe unter realen Bedingungen noch deutlich stärker wirken als im Laborversuch. Eine kürzlich veröffentlichte Studie wies nach, dass Honigproben aus allen Teilen der Welt zu einem sehr hohen Prozentsatz mit Neonicotinoiden belastet sind; in Europa fanden sie sich in 80 % der Proben und fast die Hälfte von ihnen wies Konzentrationen auf, die als bienenschädlich angesehen werden können. Dies zeigt, dass sich diese Stoffe längst in der Umwelt verteilt haben und selbstverständlich auch alle anderen Insekten, die damit in Kontakt kommen, beeinträchtigen – nicht nur Honigbienen.
Blüh- und „Akzeptanzstreifen“ an Feldrändern sind meist mit Stickstoff überfrachtet und mit Pestiziden belastet; in diesem Fall sind sie eher Todesfallen und dienen durch ihren Blühaspekt mehr dem menschlichen Auge, anstatt wirkliche Hilfe für unsere Insekten zu sein.
Die Verinselung von Biotopen führt zu genetischer Verarmung
In unserer modernen Landschaft sind die verbliebenen Reste artenreicher Habitate zu Inseln geworden, die von ausgedehntem artenarmem Kulturland weiträumig umgeben sind: von versiegelten Siedlungs- und Verkehrsflächen ebenso wie von ausgeräumten, gedüngten und begifteten Ackerflächen. Das kleinteilige Mosaik der alten Kulturlandschaft, das enge Nebeneinander unterschiedlicher Habitate, das den Tieren ein problemloses Wechseln von A nach B ermöglichte, ist auf großer Fläche verschwunden. Das hat weitreichende Folgen: Zum einen ist der genetische Austausch zwischen benachbarten Populationen behindert und oft sogar ganz unterbrochen. Vor allem sesshafte, also wenig mobile „Allerweltsarten“, die zwar mit der allgegenwärtigen Luftdüngung einigermaßen klarkommen, haben nun ein genetisches Problem durch Inzucht und ihre Populationen fangen an zu schrumpfen.
Nachrangige Wirkgrößen
Lichtverschmutzung, Autoverkehr und Klimawandel wirken auf ihre Weise auch auf die Bestände der Populationen ein, sind insgesamt noch nicht so gut untersucht wie die zuvor genannten Faktoren, haben aber – das kann sicher gesagt werden – auch keinen derart hohen Impakt für das Insektensterben als diese. Die zunehmende nächtliche Beleuchtung lockt zwar nachtaktive Insekten an, die dann oftmals durch Fressfeinde oder Erschöpfung verenden, doch kommen die meisten Nachtfalterweibchen erst dann zum Licht, wenn sie den größten Teil ihres Eivorrats in den Brutbiotopen bereits abgelegt haben. Wenn überhaupt, dann bewirkt die nächtliche Lichtflut also vornehmlich eine Unterbrechung des Verbreitungsflugs und leistet damit einen gewissen Beitrag zu der bereits angesprochenen genetischen Isolierung. Die Tatsache, dass Tagfalter genauso oder manchmal sogar noch stärker rückläufig sind als Tagfalter, spricht gegen einen allzu großen Effekt der Lichtverschmutzung. Zudem hat sich die Situation durch die vielfache Verwendung von gelben Lichtquellen, die für Insekten wenig anziehend sind, verbessert.
Deutsche Autofahrer erlegen mit einer jährlichen Fahrleistung von über 730 Milliarden Kilometern pro Jahr (!) mehr Insekten, als alle Sammler der Welt in rund 250 Jahren Naturforschung zusammengetragen haben. Das bewirkt natürlich einen Druck auf die Populationen. Dennoch aber sind Insekten dagegen wenig anfällig, denn ihre gesamte Fortpflanzungsstrategie ist auf massenhafte Produktion von Nachkommen angelegt. Weit über 99 % all dieser Nachkommen gehen vor Erreichen der Fortpflanzung auf natürliche Weise zugrunde, vor allem dadurch, dass sie gefressen oder auch zum Opfer von Krankheiten werden. Das ist auch sinnvoll so, denn sonst würden wir bald in Insekten ersticken. Ihre biologische Rolle als Nahrungsspender ist sogar eine der zentralen und damit wichtigsten Funktionen der Insekten in den Ökosystemen. Mit anderen Worten: Das Schicksal des Individuums ist bei Insekten, anders als bei höheren Wirbeltieren, nachrangig. Daher ist zwar der Einfluss des gestiegenen Straßenverkehrs auf die Populationen sicher vorhanden, kann aber nicht mit den Auswirkungen der zuvor genannten Faktoren konkurrieren. Dies gilt umso mehr für das inzwischen durch den Gesetzgeber weitestgehend verbotene Sammeln von Insekten: Der Einfluss von Sammlern durch die Bestandsgrößen ist, erst Recht im Vergleich zur Dimension der anderen genannten Faktoren, beinahe unmessbar klein und vollständig vernachlässigbar.
Fazit: Jeder kann sich davon überzeugen
Aus den bisherigen Punkten geht hervor, dass die intensive, industrialisierte Landwirtschaft und der Flächenhunger der modernen Gesellschaft den mit weitem Abstand größten Anteil am Insektensterben haben. Es ist vollkommen klar, dass eine solche Analyse für Bauernverbände, Agrarindustrie und Politik nicht gerade opportun ist – eine unbequeme Wahrheit eben. Heftige Widersprüche bis hin zu einer vollständigen Leugnung des Insektensterbens hat es bereits gegeben, und der Widerstand wird sich künftig, gerade angesichts des Klimawandels, eher noch stärker formieren. Die professionelle, interessensgesteuerte Leugnung von Umweltgefahren hat in Deutschland leider große Tradition, und man kann darauf warten, dass vieles unternommen werden wird, um unabhängige Forscher zu diskreditieren und Zweifel in der Bevölkerung zu säen.
Daher ist es wichtig festzustellen, dass sich alle Bürgerinnen und Bürger ganz einfach mit eigenen Augen von den Zusammenhängen überzeugen können. Dazu sind keine detaillierten Fachkenntnisse in Biologie, Ökologie und Statistik nötig, sondern lediglich ein Minimum an Artenkenntnis und ein Gefühl für biologische Vielfalt. Man gehe dazu ganz einfach auf eine intensiv gedüngte und sechsmal im Jahr gemähte Wiese und zähle dort die Anzahl an unterschiedlichen Pflanzen und Tieren; dann vergleiche man es mit einer ungedüngten und wenig gemähten Wiese. Dasselbe mache man mit einem intensiv bewirtschafteten Kornfeld und vergleiche es mit einem Kornfeld im Ökolandbau. In beiden Fällen wird sich ein Unterschied in der Gegend des Faktors zehn (!) ergeben. Man vergleiche den Artenreichtum auf einer Betonfläche mit dem eines Trittrasens und den wiederum mit einer naturgeschützten Wiese. Und wer Gelegenheit hat, nach Siebenbürgen in Rumänien zu fahren, wird dort auf eine kleinteilige, chemisch noch wenig belastete Kulturlandschaft (Abb. 8) treffen, die dem Landschaftsmosaik der 1960er Jahre in Deutschland entspricht. Dann vergleiche man die Anzahl an Blütenpflanzen, Insekten, anderen Kleintieren und Vögeln einmal mit dem, was man in Deutschland noch findet. Es ist doch alles so offensichtlich.
Die bisherige Politik ist Teil des Problems
Die negativen Auswirkungen struktureller Veränderungen in der Landschaft wurden bereits im 19. Jahrhundert erkannt und angeprangert, ohne dass dies das notwendige Gehör bei den Verantwortlichen gefunden hätte. Zusätzlich zur immer weiter fortschreitenden Umgestaltung der Landschaft sind Überdüngung, Pestizide und genetische Isolation hinzugekommen. Das beschleunigt fortschreitende Insektensterben von heute ist die logische, konsequente Folge dieser Entwicklung in der Vergangenheit. Zumindest für die Wissenschaft kommt es nicht überraschend, und die Politik muss sich den Vorwurf gefallen lassen, über mehr als hundert Jahre mahnende Stimmen weitgehend ignoriert zu haben. Durch die einseitige Bevorzugung einer Wirtschaftsweise, die der Erde mehr Ressourcen entzieht, als sie zurückgibt (und ihrem hartnäckigen Beharren auf diesem umweltschädlichen System), ist sie schon lange selbst zum Teil des Problems geworden. Tatsächlich kann keine Rede von einem fairen Abwägen der Interessen von Ökonomie und Ökologie sein; nicht zuletzt der planetare Fußabdruck Deutschlands ist Beweis genug für diese Aussage.
Sehr wichtig scheint in diesem Zusammenhang auch eine eindeutige Stellungnahme von Papst Franziskus in der Enzyklika Laudato si‘ zum menschengemachten Verlust an biologischer Vielfalt. Auf den Punkt gebracht: „Dazu haben wir kein Recht“.
Tatsächlich aber ist eine geradezu ans Groteske grenzende Ambivalenz des Gesetzgebers zu diesem Punkt festzustellen. Ausräumung, Verbauung, Überdüngung und Vergiftung unserer Landschaft – die entscheidenden Faktoren des Insektensterbens – sind gesetzlich legalisiert, beziehungsweise bestehende Einschränkungen sind so schwach, dass sie ohne substanzielle Wirkung bleiben. Die Hauptverursacher des Insektensterbens werden von der derzeitigen Naturschutzgesetzgebung de facto also so gut wie nicht erfasst. Dafür aber konzentriert sich das scharfe Auge des Gesetzes auf Sammler, Forscher und Biologielehrer. Dank der Bundesartenschutzverordnung von 1986 ist das Sammeln der meisten Insekten (unabdingbare Voraussetzung für wissenschaftliche Forschung) untersagt und bedarf deshalb im Einzelfall der Beantragung einer Ausnahmegenehmigung – also eines enormen bürokratischen Aufwands. Die Wissenschaft, die Basisdaten für den Naturschutz erhebt, wurde so zum Bittsteller degradiert, und ebenso alle Lehrer, die den Kindern die Metamorphose von Kaulquappen oder Insekten an lebenden Objekten vermitteln möchten.
Für all jene also, die keinen messbaren Anteil an der Biodiversitätskrise haben, dafür aber die Zusammenhänge untersuchen, aufdecken und an die Öffentlichkeit und nachfolgende Generationen vermitteln, wurden Auflagen und Hürden errichtet, so dass viele von ihnen frustriert aufgegeben haben; allen voran die für den Erkenntnisgewinn so wichtigen Privatsammler und Fachamateure. Dies hat den Stand der Wissenschaft in Bezug auf die entomofaunistische Durchforschung Bayerns und Deutschlands um Jahrzehnte zurückgeworfen und daran hat sich bis heute nichts geändert. Um es mit einem drastischen Vergleich auf den Punkt zu bringen: Das Verbot des Insektensammelns für Forschung und Lehre bringt für die Bekämpfung des Insektensterbens in etwa so viel wie die Verordnung von Rauchverbot für einen Patienten mit Lungenkrebs. Dies ist sicherlich ein drastischer Vergleich, aber er gibt die tatsächlichen Relationen absolut korrekt wieder. Es ist vollkommen klar, dass im genannten Beispiel nur ein umfänglicher chirurgischer Eingriff das Leben retten kann, und ebenso kann auch das Insektensterben nur dadurch aufgehalten werden, dass man seine wesentlichen Verursacher in die Pflicht nimmt und nicht jene, dies es erforschen. Genau das ist aber bisher nicht, oder nicht einmal näherungsweise mit der nötigen Intensität, geschehen. Die Tatsache, dass ausgerechnet auch per Gesetz höchstgradig vor Besammeln geschützte Insektenarten im freien Fall sind und das Insektensterben sogar mit zunehmender Geschwindigkeit voranschreitet, ist der empirische Beweis für die oben gemachten Aussagen.
Die Folgen sind natürlich verheerend. Zum Insektensterben kommt seit den 1980er Jahren nun auch noch ein Entomologensterben, also ein Rückgang des wissenschaftlichen Nachwuchses hinzu. Die Artenkenntnis nimmt bei Schülern, Studenten und allgemein in der Bevölkerung immer weiter ab, die Entfremdung von der Natur wächst, eine drastisch verarmte Natur wird gar als Normalzustand empfunden werden. Und das Insektensterben geht weiter. Das ist ein Skandal.
Was müsste getan werden?
Eine wirklich effektive Bekämpfung des Insektensterbens wird ohne einen grundlegenden Werte- und Systemwandel kaum machbar sein: Notwendig wäre eine echte Agrarwende mit einem kontrollierten Ausstieg aus industrieller Landwirtschaft, der Befreiung von Landwirten aus der Abhängigkeit von Agrarkonzernen und einer Ausklammerung aller umweltschädlichen Bewirtschaftungsweisen – einschließlich der Massentierhaltung – von Subventionen. Darüber hinaus ein Ausstieg aus dem Flächenfraß und allgemein die Etablierung eines ökologisch-sozialen Wirtschaftssystems mit strikten Grenzen. Dies durchzusetzen, gegen absehbare massive Widerstände der Wirtschaft und Lobbyisten, dürfte im Augenblick sicherlich noch illusorisch sein; aber mit fortschreitender Umweltzerstörung wird das öffentliche Bewusstsein für zwingend notwendige Veränderungen zweifellos wachsen. Schon heute zeichnen sich die Folgen unseres Umgangs mit der Erde in ersten Anzeichen von Verteilungskämpfen, Migration, Ressourcenmangel und Umweltverschmutzung ab. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass diese Probleme zunehmen, dadurch aber auch immer stärker in den Fokus rücken werden.
Ein sicherlich erreichbares Nahziel wäre darauf hinzuwirken, dass die Politik die ökologischen Probleme auf lokaler, nationaler und globaler Ebene endlich vollumfänglich zur Kenntnis nimmt und beginnt, um echte Lösungen zu ringen. Wie bereits gesehen, geht es eben nicht nur um den Klimawandel, der erfreulicherweise in der Umweltpolitik angekommen ist, sondern auch noch um andere Bedrohungen, die die Belastungsgrenzen der Erde sogar noch stärker überschreiten. Anhaltende Publikationstätigkeit von Forschern und Berichterstattung in den Medien könnten für die notwendige Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft und damit jenen Druck sorgen, dass sich die Politik nicht mehr um die ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Problemen herumdrücken kann.