2. Juni 1945: 23 Tage ist der 2. Weltkrieg zu Ende. Die erste Fronleichnamsprozession in Friedenszeiten zieht durch die Münchner Innenstadt. Kardinal Faulhaber trägt das Allerheiligste, Pater Rupert Mayer ist unter der ungewöhnlich großen Zahl von Teilnehmern. Am Straßenrand stehen nicht, wie heute üblich, zwei lichte Zuschauerreihen, sondern fünf bis zehn Reihen von Menschen.
Dieser Fronleichnamszug wurde gefilmt. Der 15-minütige Streifen erschüttert jeden, der München liebt. Die Menschen gehen zwischen Schuttbergen, vorbei an einigen noch stehenden Brandmauern, an Wänden mit hohlen Fenstern. Der Zuschauer kann sich nur orientieren, wenn im Film gelegentlich die Theatinerkirche oder das Rathaus zu sehen ist.
Schon am 12. August 1944 hat der Journalist Wilhelm Hausenstein geschrieben: „Die Stadt ist zum größeren Teil zerstört: Der Eindruck ist grausig. Ich kann mir nicht denken, wie München je zur Repräsentation dessen, was es gewesen ist, wieder hergestellt werden soll.“
Der Bombenkrieg
Diese Zerstörung war das Ergebnis eines erbarmungslosen Bombenkrieges, der viele deutsche Städte ausgelöscht hat, Hunderttausende tötete und große Kulturdenkmäler im ganzen Land – auch in München – in Schutt und Asche legte. Ein Bombenkrieg, der im Laufe des Krieges immer gnadenloser wurde. Zunächst vor allem geführt von den Briten, dann, auch in Tagesangriffen, von den Amerikanern, auch von beiden Alliierten zusammen. Es war ein eskalierender Krieg gegen die Zivilbevölkerung, gegen die Zivilisation.
Schon im Jahr 1939, dem ersten Kriegsjahr, gab es Fliegeralarm in München; der erste Angriff mit Bombenschäden an Wohnhäusern war in München bereits am 5. Juni1940. Die großen Angriffe der Engländer begannen im Dezember 1942 und wurden in den Jahren 1943 und 1944 immer intensiver.
Insgesamt erlebte München 176 Bombenangriffe. Aus dieser Vielzahl ragen Angriffe heraus, bei denen besonders viele Kulturbauten getroffen wurden:
- Der Angriff der Engländer in der Nacht vom 9. auf 10. März 1943 beschädigte die Staatsbibliothek, Gebäude an der Ludwigstraße, die Universität und die Akademie der Bildenden Künste, die Glyptothek, die Neue Staatsgalerie, das Nationalmuseum, den Ostflügel der Residenz, die Badenburg und das Deutsche Jagdmuseum in Nymphenburg, sowie drei Theater, darunter das Deutsche Theater und acht Kirchen.
- Am 18. März 1944 der erste Tagesangriff der Amerikaner: Schwere Schäden in der Residenz, Marstallgebäude, Peterskirche, Allerheiligen-Hofkirche, Völkerkundemuseum, Alte Akademie, Alter Hof.
- Juli 1944: Siegestor, Glyptothek, Neue Staatsgalerie, Lenbachgalerie, Alte und Neue Pinakothek, Akademie der Bildenden Künste, Künstlerhaus, Deutsches Museum, Preysing Palais.
Der letzte Angriff des Krieges war, begleitet mit Bordwaffenbeschuss von Tieffliegern, am 25. April 1945. Durch die Bomben wurden auch – in der Katholischen Akademie muss das erwähnt sein – in München 29 Kirchen zerstört: Ich zitiere den Münchner Merkur vom 17. April dieses Jahres: „Der Chor der Frauenkirche: zerstört. Die beiden Turmhauben: irreparabel beschädigt. Die Pfarrkirche Mariahilf: bis auf die Außenmauern niedergebrannt, der Turm schwer beschädigt. Der Alte Peter: Das Gewölbe und ein Teil der Nordwand eingestürzt. St. Bonifaz: ausgebrannt, nur noch 22 Säulen, Teile der Außenmauern und der Glockenturm ragen über einen Schutthaufen empor.“
Alle 176 Angriffe wurden in erstaunlicher Detailliertheit vom Münchner Polizeipräsidenten, dem örtlichen „Schutzleiter“, notiert. Die Aufzeichnungen lagern im Münchner Stadtarchiv. Es ist dem ehemaligen Leiter dieses Archivs, Richard Bauer, zu danken, dass er die Daten umfänglich in Büchern dargelegt hat, gemeinsam mit einer Vielzahl von erschütternden Bildern. Die Angriffsschäden anderer deutscher Städte kann man heute in Wikipedia abrufen.
Gegenstand dieser Aufzeichnungen des „Schutzleiters“ war selbst die Zählung der Flugzeuge und der Bomben. Ich will nur die Zahlen eines einzigen Angriffs, den der Amerikaner vom 11. Juli 1944, aus dem Bauer-Buch „Fliegeralarm“ beispielhaft anführen, um die Massivität derartiger Angriffe nachvollziehbar zu machen. Ich zitiere Bauer: „Beim 22. Angriff handelte es sich um einen schweren Angriff von etwa 1.000 Maschinen, einschließlich der zum Schutz mitgeflogenen Jäger. Getroffen wurden vor allem die Luftschutzabschnitte Nord, West und Ost durch den Abwurf von 1.510 Sprengbomben á 500 kg, 1.800 Sprengbomben á 250 kg, ungefähr 3.000 Sprengbomben á 125 kg, 4.800 Flüssigkeitsbrandbomben und 320.000 Stabbrandbomben, 18.000 Phosphorbrandbomben.“ Und das alles bei einem einzigen Angriff auf eine einzige Stadt!
Nun könnte man vermuten, dass die Flugzeuge die Kulturschätze, wie zum Beispiel die Residenz, nicht gezielt angegriffen haben und deren Zerstörungen quasi ein Kollateralschaden der Bombardierung strategisch wichtiger Ziele war. Weit gefehlt: Jörg Friedrich legt in seinem umfassenden Werk zum Bombenkrieg unter dem Titel „Der Brand“ dar, dass im Laufe des Krieges vor allem die Engländer die Mischung der verschiedenen Bombenarten immer mehr optimiert haben. Zunächst wurde das Ziel definiert, dann die anzugreifenden Gebäudesubstanzen. Städte mit vielen alten Fachwerkbauten wurden mit einer andern Mischung von Spreng- und Brandbomben belegt, als Ziele mit dicken Mauern. Durch diese Mischoptimierungen konnten die Zerstörungswirkungen maximiert werden. Da war nicht viel Zufall. Auch die Ziele mit hohem historischen Wert wurden bewusst und gezielt zerstört, – ebenso wie Wohnbereiche, die vor diesen Angriffen genau definiert wurden.
Luftbilder der Amerikaner aus dem Jahr 1945 zeigen gerade in der Münchner Innenstadt, dass nur noch die Außenmauern der Gebäude standen: Die Sprengbomben zerstörten die Dächer, die Brandbomben erledigten den Rest.
Wir alle haben die Bilder vom Brand des Notre Dame vom 15. April 2019 in Erinnerung. Diese Katastrophe tatenlos ansehen zu müssen, hat auch uns Deutsche tief bewegt. Dort waren schließlich 400 Feuerwehrleute erfolgreich im Einsatz. Bei den Bränden der Residenzen und Kirchen in Deutschland Ende des Krieges gab es mangels Infrastruktur, zerstörter Wasserleitungen und bescheidenem Gerät kaum noch nennenswerten Rettungs-Widerstand.
Wenn man die Zerstörungswirkungen durch den Bombenkrieg detaillierter beschreibt, muss man zwingend zwei Fragen beantworten – auch in einer Veranstaltung, in der es um Bausubstanz und Stadtgestaltung geht.
Die eine ist die Frage: Ist die Aufzählung der entsetzlichen Fakten auch eine Anklage?
In der Nachkriegszeit gab es zu dieser Frage vielfach Streit, auch peinliche Aufrechnung. Die Wertungen sollte jeder für sich entscheiden. Für mich persönlich will ich feststellen: Der flächendeckende Angriff auf die deutschen Städte war für die Alliierten militärisch nicht notwendig, er war Bestrafung. Natürlich ist zu bewerten, dass die Nazis den Krieg begonnen haben, England zuerst bombardiert haben, ab September 1940 bis Mai 1941. Aber deutsche Angriffe haben ein totalitäres Unrechtssystem zu verantworten; umfassend geantwortet haben demokratisch legitimierte Staaten, die Freiheit und Menschenwürde in ihren Verfassungen stehen hatten und haben. Dies macht die Bedeutung des alliierten Bombenkrieges so bitter.
Die zweite Frage bezieht sich auf die Problematik der Gewichtung der Bombardierungsfolgen. Ihr redet von zerstörten Palästen und Kirchen und betrachtet nicht das Leid der Menschen!!
Tatsächlich: Im Winter 1945/46 herrschte in Deutschland große Hungersnot; im Herbst 1945 standen pro Kopf durchschnittlich tausendfünfhundert Kalorien zur Verfügung, im Februar 1946 waren es nur noch tausendeinhundert. Das reichte gerade zum Überleben. Durch die verwüsteten Städte gingen Frauen, Kinder und Greise. Die Männer waren gefallen oder noch in Kriegsgefangenschaft. Verbrechen grassierten, die Selbstmordrate war erschreckend, Prostitution war weit verbreitet.
Aber wir wollen mit dieser Veranstaltung nicht menschliches Leid verdrängen: Unser Anliegen ist es, auf die Dramatik der Zerstörung zu erinnern und die Herausforderung und das Wunder des Wiederaufbaus zu zeichnen.
Der Wiederaufbau
Zerstört waren in München – mehr oder weniger – alle öffentlichen Gebäude, Kirchen, Kulturbauten. Hausenstein schrieb verzweifelt: „Das kann ja wohl nicht mehr aufgebaut werden!“ Aber es wurde wieder aufgebaut – trotz der entsetzlichen Rahmenbedingungen. Diese außergewöhnliche Aufbauleistung, über viele Jahrzehnte hinweg, lässt sich – sicherlich vergröbert – in vier Phasen einteilen:
- Die erste Phase bis Mai 1945. Noch während des Krieges wurde mit Vorsorgemaßnahmen und Planungen der Wiederaufbau vorbereitet und ermöglicht. Dies gilt insbesondere für die Münchner Residenz, wie ich in meinem späteren Vortrag darlegen werde.
- Die zweite Phase ist zu überschreiben mit Aufräumarbeiten und Schutzmaßnahmen. Da ging es um Schuttbeseitigung und Abtransport (mit skurrilen Eisenbahnzügen in den Straßen), mit dem Bau von Notdächern und Behelfsbauten. Diese Phase würde ich bis zum Jahr 1956 eingrenzen. In dieser Phase, unmittelbar nach Kriegsende, war die Kirche gelegentlich schneller als der Staat: Schon 1947 begann der Wiederaufbau der Frauenkirche, 1948 war sie so gut wie fertig.
Diese Zeit war begleitet durch einen erbitterten Streit zwischen Bewahrern und Neuerern, zwischen Alt und Neu. Gott sei Dank haben in diesem Grundsatzstreit die Bewahrer gesiegt! Durch weitschauende Männer, wie dem Vater von Otto Meitinger, Karl Meitinger, oder dem ersten Präsidenten der Schlösserverwaltung, Professor Rudolf Esterer, sind die radikalen Pläne der Erneuerer zurückgewiesen worden. In den ersten Jahren nach dem Kriege wurden die Weichen gestellt für die Bewahrung des Münchner Stadtbildes, die weitgehende Wiederherstellung historischer Substanz und die Sicherung der Münchner Innenstadt-Atmosphäre. Ich bin gespannt auf die Ausführungen von Generalkonservator Professor Pfeil zu diesem Thema.
- Die dritte Phase beginnt etwa im Jahr 1956. Der wachsende Wohlstand ermöglichte es Staat und Stadt, größere Wiederaufbaumaßnahmen und nicht nur Reparaturen in Angriff zu nehmen. Diese Wiederaufbaumaßnahmen dauerten bis zum Ende des letzten Jahrhunderts.
- Dem schließt sich die vierte, letzte Phase, die der Spätrenovierungen an. Für die vielen Verzögerungen in dieser Zeit gibt es mehrere Gründe: Mangelndes Geld, mangelnde Fachkräfte, mangelnder politischer Druck. Lassen Sie mich diese Frage später anhand des Beispiels Residenz beantworten. Zu diesen Spätrenovierungen gehört auch die Umwandlung des Armeemuseums zur Staatskanzlei bis zum Jahr 1993, über die Dr. Altmann berichten wird.
Ein anderes Beispiel noch zu den Spätrenovierungen: Wir dachten, dass nach dem unendlich langen Streit um den Wiederaufbau der Allerheilligen Hofkirche die feierliche Eröffnung dieses Kirchenraumes am 3. Juni 2003 der Schlusspunkt der großen Baumaßnahmen der Residenz sei. Gefehlt! Die Grundrenovierung der klassizistischen Räume im Königsbau, die Neugestaltung der Räume im rückwärtigen Teil des Königsbaus, sind erst im letzten Jahr abgeschlossen worden. Und die historische gelbe Treppe ist jetzt erst im Bau. Dr. Neumann ist der Experte und Macher dieser jüngsten Entwicklung.
Der Wiederaufbau ist hier und auch an anderen Stellen der Stadt noch nicht beendet. Man sollte für den Wiederaufbau keinen endgültigen Schlusspunkt definieren wollen.
Über den gesamten Prozess des Wiederaufbaus mit seinen Wert-Abwägungen, Stilentscheidungen, zeitbestimmten Prioritätenbildungen werden die beiden bedeutenden Historiker, Prof. Körner und Prof. Rumschöttel diskutieren. Freuen Sie sich auf dieses Gespräch.
Die Kosten
Professor Körner war bei der Vorbereitung unserer Tagung sehr streng zu mir. Er meinte: „Sie als ehemaliger Finanzminister müssen auch auf die Kosten des Wiederaufbaus eingehen.“ Eine derartige Kostenaufstellung von 1946 bis heute erscheint zunächst unsinnig, da früher das Bauen – zumindest nach unserer heutigen Optik – viel preiswerter war. Otto Meitinger berichtet zum Beispiel, dass die Einsetzung des Cuvilliés Theaters zwischen 1956 und 1958 in den sogenannten Apothekerstock der Residenz lediglich umgerechnet fünf Millionen Euro gekostet hat. Damals sicherlich eine große Summe, später eine Bagatelle. Das zeigt der Vergleich mit den Kosten der Grundsanierung des Cuvilliés Theaters in den Jahren 2004 bis 2008: Kosten von insgesamt fast 25 Millionen Euro.
Und dann lieber Herr Körner: Müsste man die Bücher sehr unterschiedlicherer Bauherren sichten; man müsste die Kosten der schrittweisen Baumaßnahmen der Universität, vieler Prachtbauten, wie z. B. das Leuchtenbergpalais, das Künstlerhaus, die Staatsbibliothek, die Alte Pinakothek, Neubauten wie die Neue Pinakothek oder die Neue Staatskanzlei eruieren und auf das heutige Preisniveau hochrechnen, um einen realistischen Kostenrahmen erahnen zu können. Hierzu kommen die Kosten des Wiederaufbaus von 29 Kirchen. Da müsste man eine Doktorarbeit vergeben.
Aber: Es gibt ein Dokument, das präzise die Kosten des Wiederaufbaus beispielhaft dokumentieren kann: Hermann Neumann, verantwortlich für die Baumaßnahmen der Residenz, hat die Kosten des Wiederaufbaus der Residenz von 1945 bis 2005 aufgelistet, die Beträge auf Euro umgerechnet und inflationsbereinigt. Unter Einzelrechnung der Maßnahmen am Miniaturenkabinett und Allerheiligen-Hofkirche kommt Neumann bis 2005 auf einen Gesamtbetrag von 214 Millionen Euro. Rechnet man die Maßnahmen nach 2005 – etwa die technische Gesamtrenovierung der Residenz und die Renovierung des Königsbaus, die uns Neumann noch vorstellen wird, hinein, kommt man auf etwa 260 Millionen Euro.
Ich war überrascht, wie ich diese Neumann-Tabelle las: „So preiswert!“ Ich hatte vorher mehr als die doppelten Kosten geschätzt; aber dabei war ich wohl von der enormen Preisentwicklung der letzten 15 Jahre geblendet worden. Mehr als das, Herr Körner, kann ich zu den Kosten heute nicht bieten.
Schluss: Phönix
Während der Schlussphase des Krieges, am 16. Februar 1945, wurde der Verein der „Freunde der Residenz“ in einem kleinen Baubüro der Residenz gegründet. Reinhard Riemerschmid hat das Logo dieses Vereins entworfen: den „Phönix“ , jenen mythologischen Vogel, der am Ende seines Lebens verbrennt, dann wieder aus der Asche neu entsteht.
München ist nach seiner totalen Zerstörung tatsächlich wie ein Phönix aus der Asche wieder auferstanden. Dies ist der Weitsicht von großen Persönlichkeiten, dem Fleiß der Bürger und der Fachkunde vieler Macher zu verdanken. Diese Veranstaltung kann auch ein kleiner Dank an diese Menschen sein.