The genetic origin of Europeans

Biologische Anpassung und Mobilität in der Vorgeschichte

As part of the event "The beginnings of man", 24.11.2018

Die Genom-Revolution

 

Genetische Forschung erlebte im vergangenen Jahrzehnt eine wahre Revolution. Mit der Entwicklung hochmoderner DNA-Sequenziertechnologien wurde es im Laufe von nur wenigen Jahren möglich, die Leistungsfähigkeit und Effizienz genomischer Untersuchungen um einen Faktor von zehn Millionen zu vervielfachen. Im Jahr 2016 verfügten wir über Technologien, die es uns erlauben, für nur noch wenige hundert Euro und innerhalb weniger Stunden ganze menschliche Genome mit ihren Milliarden von Basenpaaren zu entschlüsseln. Mit dem Ergebnis, dass wir aktuell in einer Art „Sequenzierzeitalter“ leben, in dem bereits jetzt zehntausende Genome von Menschen aus der ganzen Welt entschlüsselt sind und täglich neue hinzukommen.

Der Reiz und die Hoffnung dieser massiven genetischen Forschung besteht darin, Antworten auf große Fragen der Menschheitsgeschichte zu finden: Wie hat sich der Mensch entwickelt und woher kommt er? Welche Rolle spielen Gene für die Entwicklung und Ausbreitung von Krankheiten? Welche genetisch bedingten Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen menschlichen Populationen? So hat die Genetik, entgegen ihrer fatalen Assoziation mit rassistischen und kolonialistischen Regimes im 19. und 20. Jahrhundert, die Erkenntnis geliefert, dass ein Großteil der genetischen Vielfalt nicht zwischen unterschiedlichen menschlichen Populationen besteht, sondern gerade innerhalb einer einzelnen Population existiert.

Mehr als 80 Prozent aller genetischen Unterschiede in der DNA-Sequenz von Menschen, die als Single Nucleotide Polymorphismen (SNPs) bezeichnet werden, treten innerhalb einer einzigen menschlichen Population, wie den Europäern oder den Asiaten, auf. Mit anderen Worten: Um einen Großteil der genetischen Vielfalt der Menschen außerhalb Afrikas zu erfassen, braucht man nicht möglichst weit voneinander entfernte Individuen zu untersuchen, sondern es reicht völlig aus, ein paar hundert Thüringer oder Rheinländer genetisch miteinander zu vergleichen.

Eine weitere wichtige Erkenntnis populationsgenetischer Forschung ist, dass Afrikaner eine höhere genetische Vielfalt aufweisen, als die Populationen außerhalb Afrikas. Diesen Befund interpretiert man als Beweis für den Ursprung des modernen Menschen in Afrika. Dies wird auch deutlich, wenn man mit Hilfe der DNA Stammbäume rekonstruiert, in diesen stellen sich die Menschen außerhalb Afrikas als kleiner Zweig der afrikanischen Diversität dar, oder anders gesagt: Genetisch gesehen sind alle Menschen dieser Erde Afrikaner!

Genetische Analysen erlauben es auch, die evolutionäre Abspaltung einzelner menschlicher Populationen zeitlich einzuordnen. Dazu kalibriert man die „molekulare Uhr“. Diese nimmt an, dass die Rate an genetischen Veränderungen (z.B. Mutationen) in der DNA-Sequenz des Menschen immer ungefähr gleich hoch ist. Man geht heute davon aus, dass jeder Mensch etwa 100 Basenveränderungen (Mutationen) in sich trägt, die in der Keimbahn der Eltern neu entstanden sind und damit nicht Teil der elterlichen DNA waren. Daraus ergibt sich eine Mutationsrate des Menschen von circa 50 Veränderungen pro Generation pro Genom.

Wenn man annimmt, dass pro Generation etwa 25 bis 30 Jahre vergehen, kann man anhand der genetischen Unterschiede zwischen zwei Populationen berechnen, vor wie vielen Jahren sich diese voneinander getrennt haben. Vergleicht man beispielsweise die Unterschiede zwischen Afrikanern und Nicht-Afrikanern (z.B. Europäer, Asiaten, Ureinwohner Australiens) kommt man auf eine Abspaltung vor ca. 2.000 bis 2.500 Generationen, was einer Dauer von rund 50.000 bis 60.000 Jahren entspricht. Diese Berechnung passt auch gut zu den existierenden archäologischen und paläoanthropologischen Befunden, die darauf hinweisen, dass vor ca. 42.000 Jahren die ersten modernen Menschen nach Europa einwanderten und den dort ansässigen Neandertaler verdrängten.

Ähnliche Berechnungen lassen sich auch für Populationsaufspaltungen zwischen Asiaten und den Ureinwohnern Australiens oder Amerikas durchführen. Häufig werden für solche Berechnungen jedoch nicht neue und damit eher seltene Mutationen verwendet, sondern Verschiebungen in der Frequenz häufig vorkommender Mutationen (z.B. SNPs). Die Häufigkeit dieser SNPs in menschlichen Populationen verändert sich im Laufe der Zeit. Solche Veränderungen können „gerichtet“ sein, z.B. wenn eine bestimmte genetische Variante zu einem biologischen Vorteil führt, wie etwa die Fähigkeit, Milch als Erwachsener zu verdauen und so mehr Nahrung in einem neuen Lebensraum zu erschließen.

Eine solche „gerichtete Verschiebung“, die eine bestimmte vorteilhafte Genvariante bevorzugt, bezeichnet man auch als positive Selektion. Auch das Gegenteil, eine „negative Selektion“, kann der Fall sein, wenn eine bestimmte genetische Veränderung zur Verringerung der Fitness des Individuums führt – etwa wenn ein Gen kaputt geht, das z.B. für die Nahrungsaufnahme wichtig war. Eine solche Veränderung würde im Laufe der Zeit negativ selektiert, d.h. Individuen mit diesem Gendefekt haben weniger oder keine Nachkommen und werden wahrscheinlich nach wenigen Generationen wieder verschwinden.

Der Großteil der genetischen Unterschiede zwischen menschlichen Populationen führt allerdings nicht zu einer Selektion, sondern verhält sich neutral und ist damit „ungerichtet“, das heißt, der Träger einer bestimmten Variante hat keinen Vor- oder Nachteil gegenüber dem Träger der anderen Variante. Je länger Populationen voneinander getrennt leben bzw. keine Gene miteinander austauschen, desto mehr Unterschiede in der Frequenz dieser SNPs sammeln sich an. Dieser Prozess wird als genetische Drift bezeichnet. Sie führt auch dazu, dass diejenigen Populationen, die sich in geographischer Nähe befinden, sich kürzlich voneinander getrennt haben oder regelmäßig miteinander Gene austauschen, weniger Frequenzunterschiede aufweisen als Populationen, die geographisch voneinander isoliert leben. So entsteht ein enger Zusammenhang zwischen menschlicher Genetik und geographischer Herkunft.

Eine Studie um John Novembre aus dem Jahre 2008 konnte den Zusammenhang zwischen der geographischen Herkunft und der genetischen Zusammensetzung besonders eindrucksvoll herausstellen. Dem Populationsgenetiker und seinem Team war es gelungen, nur anhand der genetischen Unterschiede zwischen heutigen Einwohnern, deren Großeltern nicht weiter als 200 km entfernt vom Wohnort ihrer Enkel lebten, eine genetische Karte zu erstellen, die der Europakarte stark ähnelt. Damit wurde deutlich, dass es möglich ist, nur anhand der genetischen Daten eines Menschen die geographische Herkunft seiner Vorfahren abzulesen.

Auffallend an dieser Studie war auch, dass sie für Europa einen genetischen Gradienten aufzeigt, also eine kontinuierliche genetische Veränderung, die sich keinesfalls mit den existierenden National- oder Sprachgrenzen deckt bzw. diese wiederspiegelt: Genetisch betrachtet, sind Ländergrenzen unhaltbar. Anders verhält es sich dagegen mit schwer überwindbaren natürlichen Grenzen: Geographische Isolation, wie etwa die Insellage Sardiniens, macht sich genetisch deutlich bemerkbar, und man kann davon sprechen, dass die Sarden eine vom italienischen Festland abgegrenzte Population darstellen, ohne direkten graduellen Übergang. Der für das Festland charakteristische Gradient macht deutlich, dass benachbarte europäische Populationen im Laufe ihrer Geschichte immer auch Gene ausgetauscht haben, insofern es keine größeren geographischen Barrieren zwischen ihnen zu überwinden galt.

Leider lässt die Untersuchung von genetisch im Austausch stehenden, eng verwandten heutigen Populationen nur begrenzt Rückschlüsse auf deren Vorgeschichte zu. Um größere genetische Veränderungen von Populationen im Laufe der Zeit zu verstehen, wird deshalb zunehmend auf genomweite Daten aus der Vergangenheit zurückgegriffen.

 

Molekulare Zeitreisen

 

Die Revolution in der Sequenziertechnologie hat sich auch auf die Analyse von DNA aus lange toten Organismen ausgewirkt. Bereits im Jahr 2008, kurz nach dem technologischen Durchbruch, war es erstmals gelungen, das Genom eines ausgestorbenen Mammuts zu entschlüsseln. Zwei Jahre später gelang ein weiterer wichtiger Durchbruch, als die Genome eines 4.000 Jahre alten Paläo-Eskimos sowie des ausgestorbenen Neandertalers entschlüsselt wurden. Im selben Jahr gelang es eine bisher völlig unbekannte Menschenform, den Denisovaner, nur anhand einer genetischen Untersuchung eines kleinen Fingerknochens nachzuweisen und dessen Genom zu entschlüsseln.

Die Analyse von bis zu 500.000 Jahre alter DNA aus menschlichen Knochen bietet die Möglichkeit, die genetischen Zusammensetzungen heutiger und vergangener Populationen miteinander zu vergleichen bzw. vergangene, inzwischen ausgestorbene Populationen aufzuspüren. Der Vergleich von heutiger mit alter DNA kann größere Verschiebungen in der genetischen Struktur menschlicher Populationen zwischen einzelnen Zeitperioden sichtbar werden lassen und liefert damit wertvolle Hinweise auf epochale Populationsumbrüche und Veränderungen in der Mobilität bzw. die Ausbreitung einzelner Gruppen in der Vorgeschichte. Mithilfe der Analysen von alter DNA können so Hypothesen aus der Archäologie und Geschichtsforschung getestet werden und weiter beleuchtet werden, inwiefern kultureller Wandel mit veränderter Mobilität, Einwanderung und den daraus resultierenden Genflüssen korreliert.

 

Die Sesshaftwerdung des Menschen

 

Als eine der wohl wichtigsten Fragen im Hinblick auf die Frühgeschichte Europas galt lange, ob der Übergang von Jägern und Sammlern zu Ackerbauern vor rund 7.500 Jahren auch mit einem Bevölkerungswechsel einherging. Handelte es sich bei diesem für die Entwicklung des modernen Menschen fundamentalen Epochenwechsel eher um das Resultat einer langsamen kulturellen Entwicklung oder war eine Einwanderung von Menschen nach Europa dafür verantwortlich? Es standen sich zwei Hypothesen gegenüber: Eine Hypothese besagt, dass es sich bei der sogenannten Neolithischen Revolution um die reine Verbreitung von Kultur und Wissen handelte, die von Region zu Region weiter gegeben wurde. Nach dieser Theorie wanderte Wissen, aber nicht die Menschen selbst. Die alternative Hypothese besagt, dass der Beginn des Ackerbaus in Europa auf eine Einwanderung von Menschen aus dem Nahen Osten zurückzuführen sei, die aus der Region des sogenannten fruchtbaren Halbmonds stammen, in dem die ältesten Spuren von Ackerbau gefunden wurden.

Um diese Hypothesen mithilfe der Genetik zu testen, wurden in einer Reihe von Studien kurze Abschnitte der – nur über die weibliche Linie vererbten – mitochondrialen DNA von Skeletten früher Ackerbauern und später Jäger und Sammler untersucht. Die Ergebnisse dieser Gegenüberstellung waren eindeutig: Die genetische Zusammensetzung der Jäger und Sammler unterschied sich deutlich von der frühen Ackerbauern. Folglich begannen die Neolithische Revolution und die Sesshaftwerdung des Menschen mit einer Einwanderung.

Aufgrund der Arbeit mit mitochondrialer statt der Zellkern-DNA blieben diese Pionierarbeiten zunächst auf die maternale Linie beschränkt. Damit erlaubten sie noch keine detaillierten Erkenntnisse über die Herkunft und genaue genetische Zusammensetzung der prähistorischen Populationen bzw. über deren biologischen Beitrag zu den heutigen Europäern. In einer wegweisenden Studie, die von der Harvard Medical School und der Universität Tübingen koordiniert wurde, gelang es im Jahr 2014 erstmals, die vollständigen Genome von einem Dutzend Jägern und Sammlern, die um 8.000 vor heute gelebt hatten, und frühen Ackerbauern Europas, die zwischen 7.200 und 5.400 vor heute lebten, zu entschlüsseln und miteinander zu vergleichen.

Dabei stellte sich einerseits heraus, dass sich auch die Zellkern-DNA, die auch als das Genom bezeichnet wird, beider Gruppen stark voneinander unterscheiden. Andererseits wurde sichtbar, dass die frühen Ackerbauern genetisch eine höhere Ähnlichkeit mit heutigen Einwohnern des Nahen Ostens aufweisen als mit europäischen Jägern und Sammlern. Somit konnte die Einwanderungstheorie der frühen Ackerbauern aus dem Fruchtbaren Halbmond auch genomweit bestätigt werden.

Die Studie brachte weitere bahnbrechende Erkenntnisse über die Herkunft und Entwicklungsgeschichte der Europäer zum Vorschein: So tragen heutige Europäer nicht nur die genetischen Spuren der Ureuropäer in sich und erweisen sich als genetische Mischung aus frühen Ackerbauern und Jägern und Sammlern, sondern sind offenbar auch durch eine dritte Population geprägt worden, die aus Nordeurasien zu stammen scheint. Diese dritte Komponente ist zwar in allen heutigen Europäern zu finden, allerdings weder in den Jägern und Sammlern noch in den frühen Ackerbauern, und damit ein eindeutiger Hinweis auf eine weitere spätere Einwanderung.

Drei weitere Studien, die im Jahr 2015 publiziert wurden, haben die Genome von insgesamt 230 prähistorischen Individuen aus West-Eurasien untersucht. Die Individuen stammen aus einem Zeitraum von 8.000 bis ca. 3.000 vor heute und belegen mit ihren Genomen den großen genetischen Unterschied zwischen den frühen Ackerbauern und den späten Jägern und Sammlern Europas. Es konnte unter anderem gezeigt werden, dass die ersten Ackerbauern Europas eine verblüffend hohe genetische Ähnlichkeit mit den frühen Ackerbauern Anatoliens sowie den heutigen Einwohnern Sardiniens aufweisen.

Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Sardinien nach der Besiedlung durch frühe Ackerbauern vor ca. 7000 Jahren kaum noch zusätzliche genetische Komponenten von außerhalb der Insel hinzu bekommen hat. Entwicklungsgeschichtlich konnte mithilfe der Genomanalysen der 230 Skelette auch gezeigt werden, dass der Anteil an Jäger- und Sammler-DNA in den frühen Ackerbauern Zentraleuropas nach deren Einwanderung wieder anstieg. Daraus wurde geschlussfolgert, dass die frühen Ackerbauern nach ihrer Einwanderung in Europa die dort ansässigen Jäger und Sammler nicht verdrängten, sondern beide Populationen für mehrere tausend Jahre parallel existierten und sich erst dann genetisch vermischten.

 

Die Einwanderung der Steppennomaden

 

Eine der drei Studien um Wolfgang Haak stellte außerdem erstmals heraus, dass es neben der Einwanderung der frühen Ackerbauern noch zu einer weiteren massiven genetischen Einwanderung nach Europa kam. Diese erfolgte in der Kupferzeit am Übergang zwischen Mittel- und Endneolithikum vor ca. 4.800 Jahren in Zentraleuropa und etwas früher und später in anderen Teilen Westeurasiens. Die ersten Spuren dieser massiven Einwanderung und der daraus resultierenden genetischen Verschiebung fanden sich in Skeletten, die mit der vor ca. 4.800 Jahren beginnenden Schnurkeramik-Kultur in Zentraleuropa in Verbindung stehen.

Die Skelette mit schnurkeramischen Beigaben, wie z.B. mit Schnurmustern verzierte Keramik, zeigten überraschenderweise eine hohe genetische Ähnlichkeit zu ca. 5.000 Jahre alten Individuen aus der pontischen Steppe nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres. Die dortigen Individuen standen mit der materiellen Kultur der Jamnaja in Verbindung, einer Population von Pastoralisten, die einen nomadischen Lebensstil in der Steppe pflegten. Ihre Kultur zeichnet sich auch durch eine vermehrte Nutzung von Rad und Wagen aus, was wahrscheinlich auch eine erhöhte Mobilität zur Folge hatte. Die Gene dieser Menschen breiteten sich offenbar im frühen fünften Jahrtausend vor heute in wenigen hundert Jahren über die Steppe nach Osten bis ins Altai-Gebirge und nach Westen bis in die Schweiz aus.

Für die Mittel-Elbe-Saale-Region, aus der ein Großteil der untersuchten Skelette stammt, ließ sich berechnen, dass mehr als 75% der ortsansässigen Ackerbauern-Gene durch die mit den Schnurkeramikern assoziierten Gene aus der Pontischen Steppe verdrängt wurden (siehe Graphik 1). Innerhalb der nächsten Jahrhunderte breiteten sich die Gene aus der Steppe in ganz Europa aus, sodass sie heute bei allen Europäern zu finden sind, wobei der Anteil der Steppen-DNA im Nord-Osten Europas am höchsten ist und in Richtung Süd-Westen graduell abnimmt: Die größte genetische Steppen-Komponente findet sich heute bei den Einwohnern Estlands und die niedrigste bei den Einwohnern Sardiniens (siehe Graphik 1).

Die erste große Einwanderung nach Europa vor ca. 7.500 Jahren lässt sich gut durch den veränderten Lebensstil erklären: Ackerbau und Viehzucht ermöglichten eine stabilere Versorgung mit Lebensmitteln und führten so zu einer Bevölkerungszunahme, die eine territoriale Ausbreitung der Ackerbauern nach sich zog. Die zweite große Verschiebung in der genetischen Zusammensetzung der Europäer vor ca. 4.800 Jahren infolge der massiven Einwanderung aus der pontischen Steppe lässt sich nur schlecht mit der unterschiedlichen Lebensweise erklären, da es sich – zumindest in Zentraleuropa – sowohl bei den Einwanderern aus der Steppe als auch bei den bereits Ansässigen um Ackerbauern bzw. Viehzüchter handelte.

Hierzu gibt es verschiedene mögliche Erklärungsansätze: Eine Möglichkeit wäre eine höhere Lebensmittelproduktion bei den Einwanderern aus der Steppe durch die Erschließung von Weideflächen, die für Ackerbau nicht geeignet waren. Eine andere Möglichkeit wären kriegerische Auseinandersetzungen, worauf archäologische Funde, unter anderem die für die Schnurkeramik typischen Grabbeigaben wie Streitäxte, die dieser Kultur einst den Namen Streitaxtkultur verliehen haben. Allerdings lassen sich bei den Skeletten dieser Zeit keine Anzeichen für vermehrte Gewalt finden, die eine fast komplette Verdrängung der lokalen Ackerbauern plausibel erklären könnten. Eine dritte mögliche Erklärung könnte ein Zusammenbruch der ansässigen Ackerbauern-Population durch das Auftreten von Krankheiten sein.

Die letztere Erklärung bekam im letzten Jahr Aufwind, als es Genetikern und Archäologen um Simon Rassmussen von der Universität Kopenhagen gelang, aus Skeletten der frühen Bronzezeit erstmals Pesterreger-Genome zu rekonstruieren. Die ältesten untersuchten Pesterreger stammen aus ca. 5.200 Jahre alten Skeletten aus der zentralasiatischen Steppe. Dort könnte die Krankheit ihren Ursprung haben. Es wurde auch spekuliert ob sich die Pest mit den Steppenbewohnern nach Westen ausgebreitet hat. Darauf deutet hin, dass die Forscher auch in ca. 4.500 Jahre alten Skeletten Zentraleuropas und des Baltikums Pesterreger-DNA fanden.

Man kann also spekulieren, dass es vor 5.000 Jahren zu einer ersten großen Pestepidemie kam, die sich aus der Steppe nach Westen ausbreitete. Es ist möglich, dass die bronzezeitliche Pest die frühen Ackerbauern Europas stärker beeinträchtigte als die Nomaden der pontischen Steppe. Letztere lebten eventuell seit Jahrhunderten mit dem Pesterreger, der heutzutage endemisch in Nagetieren der Steppe vorkommt, und hatten daher möglicherweise eine höhere Immunität. Ein seuchenbedingter Zusammenbruch der Ackerbauern Europas könnte wiederum ein Populationsvakuum verursacht haben, in das die Steppen-Nomaden vordringen konnten. Es ist auch vorstellbar, dass sowohl die Wirtschaftsweise als auch die kriegerischen Auseinandersetzungen sowie Krankheiten gemeinsam für den Bevölkerungsumbruch vor ca. 4.800 Jahren in Europa verantwortlich waren.

 

Dunkle Haut und blaue Augen – Das Erscheinungsbild der frühen Europäer

 

Die Analyse der alten Genome aus unterschiedlichen Zeitpunkten in der Vorgeschichte erlaubt es auch, Veränderungen im Aussehen der frühen Europäer im Laufe der Zeit zu bestimmen. So gibt es genetische Varianten, die bestimmte Phänotypen verursachen und in hoher Frequenz in heutigen Europäern zu finden sind. Ein Beispiel wäre das Gen HERC2, das in einer mutierten Form den jeweiligen Trägern dieser Mutation eine helle Augenfarbe verleiht. Die Analyse von alten menschlichen Genomen zeigt, dass alle bisher untersuchten Jäger und Sammler Europas vom Ende der letzten Eiszeit vor ca. 14.500 Jahren bis zum Beginn des Neolithikums vor ca. 7.500 Jahren eine helle Augenfarbe besessen haben. Zugleich war die Hautfarbe der meisten dieser frühen Europäer allerdings kaum von der Hautfarbe heutiger Afrikaner zu unterscheiden. Die für die heutigen Europäer typische helle Haut breitete sich erst mit den frühen Ackerbauern aus dem Nahen Osten aus und verbreitete sich vor allem während der Bronzezeit im fünften Jahrtausend vor heute in ganz Europa.

Es wird spekuliert, ob es sich bei der Ausbreitung der hellen Hautfarbe um eine Anpassung an das Leben als Ackerbauern in Europa handelt: Über die Nahrung nehmen Ackerbauern – im Gegensatz zu Jägern und Sammlern – nur geringe Mengen Vitamin D auf. Dieses Vitamin ist wichtig für den Aufbau der Knochen und des Immunsystems und kann, im Gegensatz zu anderen Vitaminen vom Körper des Menschen mit Hilfe von Sonneneinstrahlung selbst hergestellt werden. Eine stark pigmentierte Haut lässt weniger UV-Licht durch und verursacht somit auch eine verringerte Vitamin-D-Produktion.

In den meisten Regionen der Erde, in der Landwirtschaft betrieben werden kann, scheint jedoch auch im Winter genügend Sonne, um ausreichend Vitamin D über die Haut zu produzieren. Mitteleuropa und vor allem Skandinavien bilden geografische Ausnahmen, sodass hier eine dunkle Haut vermutlich einen Mangel an Vitamin D nach sich ziehen würde. Während das Klima in Europa aufgrund des Golfstroms zwar besonders mild ist und auch in nördlichen Breiten ganzjährigen Ackerbau ermöglicht, führen allerdings die langen und dunklen Winter zu einer stark verminderten Vitamin-D-Produktion. Ebenso verringert das Leben in permanenten Behausungen und die damit einhergehende Vorratswirtschaft die Sonnenexposition der Haut noch weiter.

Als eine direkte Folge haben sich wahrscheinlich in den Ackerbauern in nördlichen Breiten Gene ausgebreitet, welche unter positiver Selektion standen und eine hellere Hautfarbe verursachen, um somit mehr Vitamin D im dunklen Winter zu produzieren.

Gleichzeitig fanden sich bei den genetischen Analysen der alten Skelette weder in den Jägern und Sammlern noch in den frühen Ackerbauern die Variante des Laktase-Gens (LCT), welches vielen heutigen Europäern die Möglichkeit gibt, als Erwachsene größere Mengen von Milchzucker zu verdauen. Häufig wird die Abwesenheit dieser Genvariante auch als Laktoseintoleranz bezeichnet, wobei die meisten Menschen auf der Welt sowie auch alle Säugetiere laktoseintolerant sind. In Europa hat sich aber scheinbar in den letzten Jahrtausenden eine Mutation dieses Gens ausgebreitet, die rund 70 Prozent aller Mittel-Europäer eine Laktosetoleranz beschert.

Die genetischen Untersuchungen der alten Skelette zeigen, dass in der frühen Bronzezeit die mutierte Variante des Laktase-Gens nur bei wenigen Individuen aus der Steppe vorlag, die frühen Ackerbauern Europas waren zu dieser Zeit noch alle laktoseintolerant. Die Tatsache, dass die mutierte Variante des Gens heute in der Mehrheit aller Zentraleuropäer zu finden ist, ist offenbar einer starken positiven Selektion zu verdanken, die wohl frühestens nach der Einwanderung aus der Steppe vor ca. 4.800 Jahren begann und wahrscheinlich bis in die Neuzeit weiter selektiert wurde. Diese Variante des Laktase-Gens weist die stärkste positive Selektion auf, die bisher bei einem menschlichen Gen detektiert worden ist.

Über die Ursachen, warum sich die Fähigkeit, Milch auch im Erwachsenenalter in größeren Mengen zu verdauen, in den letzten Jahrtausenden schlagartig durchgesetzt hat, kann bislang nur spekuliert werden. Eventuell wurde die Milchwirtschaft stark intensiviert und auch die Milchproduktion pro Kuh durch gezielte Züchtung verstärkt. So können heutige Kühe zwischen zehn- und 20-mal mehr Milch produzieren als die Kühe der ersten Ackerbauern Europas.

Aber auch Veränderungen in Eigenschaften wie der Körpergröße, die durch viele unterschiedliche Gene beeinflusst werden, lassen sich aus alten Skeletten entschlüsseln. So konnte gezeigt werden, dass sich bei den frühen Ackerbauern in der Mittelmeerregion überproportional viele Gene ausbreiteten, die eine kleinere Körperstatur bewirken, wohingegen sich bei den Steppenbewohnern, die im fünften Jahrtausend vor heute nach Europa vordrangen, besonders solche Genvarianten durchsetzten, die zu einer größeren Körperstatur führen. Man kann im Moment nur spekulieren, warum sich im Norden und im Süden Europas so unterschiedliche Phänotypen durchgesetzt haben.

 

Summary

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Analyse der Genome von alten Skeletten aus der Vorgeschichte Europas erstaunlich viele biologische Veränderungen erkennen lässt. Innerhalb von nur wenigen tausend Jahren kam es zu zwei massiven Einwanderungen nach Europa, die genetische Zusammensetzung der ansässigen Jäger und Sammler deutlich erweiterten. Mit den Einwanderern aus dem Nahen Osten vor ca. 8.000 Jahren kamen auch die Landwirtschaft und Viehzucht nach Europa und damit die Grundlage der Zivilisation und moderner Gesellschaften. Gleichzeitig begannen sich Gene in Europa auszubreiten, die eventuell eine wichtige biologische Anpassung an das Leben als Ackerbauer in Europa waren – wie z.B. helle Haut in Nordeuropa.

Die Steppenbewohner Osteuropas brachten vor rund 5.000 Jahren in der zweiten massiven Einwanderung neben neuen Technologien und Kulturen auch Gene nach Europa, die es unter anderem auch Erwachsenen erlauben, größere Mengen an Milch zu verdauen. Allerdings deuten die genetischen Untersuchungen auch darauf hin, dass die zunehmende Bevölkerungsdichte sowie Mobilität der Europäer die Ausbreitung von Krankheiten mit sich brachte, mit eventuell katastrophalen Folgen. Mit den Einwanderern kamen wahrscheinlich auch Sprachen nach Europa, viel deutet darauf hin, dass auch die von den meisten heutigen Europäern gesprochenen Indoeuropäischen Sprachen sich ursprünglich mit den Steppennomaden ausbreiteten.

Mithilfe genetischer Untersuchungen ist eindrucksvoll bestätigt worden, dass Migration und Mobilität schon immer ein Teil der Menschheitsgeschichte waren: Alle heutigen Europäer sind ein Potpourri von Genen aus unterschiedlichen Teilen Eurasiens, die sich im Verlauf der letzten Jahrtausende vermischten und keine klare genetische Abgrenzung zwischen den heutigen Einwohnern Europas erkennen lassen. Es zeichnen sich aber Verwandtschaftsgradienten ab, die nah beieinander wohnende Populationen auch genetisch näher verwandt erscheinen lassen als geographisch weit entfernte Menschen. So sind z.B. heutige Bewohner Süddeutschlands näher verwandt mit Ostfranzosen als mit Einwohnern Ostdeutschlands. Letztere sind hingegen näher verwandt mit Menschen aus dem heutigen Polen als mit Einwohnern des Rheinlandes. Aus genetischer Sicht lassen sich keine Nationen als eigenständige Population erkennen. Eine weitere Erkenntnis besteht darin, dass innerhalb der Geschichte Europas mit großen Einwanderungen auch immer Innovationen nach Europa gelangten, ohne die wir wohl heute noch als dunkelhäutige Jäger und Sammler durch Europas Wälder streifen würden.

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