Die Orthodoxe Kirche lebt in ihrer zweitausendjährigen Geschichte, mit konkreten Fakten und in der lebendigen Tradition. Es ist die Tradition (Überlieferung), die einen eigenen Wert an sich darstellt und wie ein Kirchenrecht wirkt! Dem Ökumenischen Patriarchat steht innerhalb der Orthodoxie ein von Ökumenischen Konzilien verliehener, allgemeiner Vorrang zu und es handelt in verschiedensten gesamtorthodoxen Angelegenheiten innerhalb dieser allgemeinen lebendigen Tradition. Historisches Faktum ist, dass alle autokephalen Kirchen, die im zweiten Jahrtausend ihre Selbstständigkeit und Patriarchatswürde erhalten haben, diese nur durch das Ökumenische Patriarchat erhalten haben, ohne eine vorherige panorthodoxe synodale Vorbereitung oder Genehmigung, auch ohne eine formelle gesamtorthodoxe synodale Bestätigung. Ein Autokephalie-Status war sofort nach der Entscheidung der Synode der Kirche Konstantinopels und der Überreichung des Tomos wirksam.
I.
In der Ökumene stören sich viele an der Größe und Macht der russischen Nation. Man meint verstärkte nationalistische Tendenzen zu erkennen, die dem Christentum schaden und etwa den übernationalen Charakter des Christentums herabsetzen. Das Ökumenische Patriarchat fördert grundsätzlich konkret in seinen Diözesen den übernationalen Charakter der Gesamtorthodoxie. Darf die nationale Identität Kriterium der Strukturierung und der Einheit der Gesamtorthodoxie sein?
Der Moskauer Patriarch Kyrill hatte laut Beschluss der Synode des Moskauer Patriarchates vom September 2019 an die russischen Gemeinden des Auslandes appelliert, zu ihrem Volk und zu ihrem Vaterland zurückkehren. Betreibt etwa die Kirche Russlands eine Beeinträchtigung der Einheit der Gesamtorthodoxie, eine Verunsicherung der gesamtorthodoxen Struktur? Was passiert, wenn jemand in der Gesamtorthodoxie ein neues oder anderes Koordinationsorgan beantragen würde? Hat das Ökumenische Patriarchat bei der Ausübung seiner die Gesamtorthodoxie betreffenden Aufgaben unrechtmäßig gehandelt und damit sein etwaiges Koordinationsrecht verwirkt? Existiert überhaupt ein solches Recht?
Für die Kirche Konstantinopels ist die neue Ukrainische Kirche bereits ein Faktum, bedingungslos und ohne formelle Anerkennung von anderen Orthodoxen Kirchen. Nach der wiederholten Ablehnung Moskaus hätten sich u. a. die Herren Dumenko und Denissenko letztendlich direkt an die „einzig richtige Instanz“ gewandt, die das alleinige Recht habe eine Autokephalie zu verleihen. Nachdem im zweiten Jahrtausend einige Tochterkirchen von der Mutterkirche in ihre Selbstständigkeit entlassen worden waren, schrumpfte tatsächlich das umfangreiche Jurisdiktionsgebiet der Kirche Konstantinopels zusammen. Die Mutterkirche hat also im zweiten Jahrtausend durch die Gewährung von Autokephalie ihr eigenes Jurisdiktionsgebiet bewusst und selbstlos kleiner gemacht!
Ansonsten wären die meisten der heutigen Kirchen schlicht Kirchengebiete und Diözesen unter der unmittelbaren Jurisdiktion Konstantinopels geblieben! Diese großzügige Freigabe mag von manchen Orthodoxen undankbar geringgeschätzt worden sein, denn als ehemalige Gebiete der Kirche Konstantinopels hätten ja die neuen Kirchen selbst, als Autokephale Kirchen, überhaupt nie existiert, sondern wären eher eine oder mehrere Diözesen der Kirche Konstantinopels geblieben. Dem Ökumenischen Patriarchat wird trotzdem vorgeworfen bei nicht gerade übermächtiger Größe und keiner übermäßigen Zahl von Gemeinden und Gläubigen, überheblich zu sein.
Im Phanar wird die Vorstellung abgelehnt, der zufolge der Ökumenische Patriarch schlicht Schismatiker der Ukraine eingeladen habe, autokephal zu werden. Nein! Alle Bischöfe in der Ukraine waren eingeladen! Darüber hinaus stelle der Tomos keine Neuerung dar, sondern sei ähnlich in jener Art und Weise verfasst worden, so wie auch alle anderen Autokephalie-Urkunden (Tomoi) von der Kirche Konstantinopels für die späteren orthodoxen Autokephalen Kirchen im zweiten Jahrtausend überreicht worden sind. Die Kirche Konstantinopels möchte wissen lassen, ein lang andauerndes Schisma in der Ukraine nun beenden zu wollen, wobei sie meint, gar nicht den kanonischen Metropoliten Onufrij übergangen zu haben.
Sie möchte wissen lassen, dass nun mit diesem Tomos die vom Moskauer Patriarchat als schismatisch verurteilten Bischöfe und „Millionen von Gläubigen“, auf deren Wunsch hin, da sie sich ohne ihr Verschulden in einer untragbaren kirchlichen Situation befinden, endlich von Moskau unabhängig werden. Die von manchen als sinnvoll erklärte Handlung der Kirche Konstantinopels zur Wiederherstellung einer kirchlichen Gemeinschaft aller Christen in der Ukraine, sei nicht personenbezogen gewesen, beispielsweise auf die Herren Dumenko und Denissenko, sondern habe, wie erwähnt, ausnahmslos alle orthodoxen Gläubigen in der Ukraine betroffen, also nicht nur die schismatischen Teile, sondern sämtliche Bischöfe in der Ukraine.
Die Kirche Konstantinopels habe dies zwar jetzt erst durchgesetzt, aber theoretisch habe sie diese Handlung auch schon viel früher durchsetzen müssen. Der ökumenische Patriarch habe gar nicht voreilig gehandelt, sondern nach reiflicher Überlegung! Als alle Versuche zur Lösung des Problems ohne Ergebnis blieben, habe die bischöfliche Vollversammlung der Kirche Konstantinopels beschlossen, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, allen Orthodoxen in der Ukraine die Autokephalie zu gewähren, einschließlich Metropolit Onufrij, und zwar als reales Angebot an alle Orthodoxen in der Ukraine, wobei im Vorfeld zunächst einmal die „Schismatiker“ durch das Ökumenische Patriarchat rehabilitiert worden waren. Handelt es sich hier eigentlich um ein „Schisma“ oder um eine Krise, die vorübergehen wird?
II.
Die Bemühungen um Einheit der Gesamtorthodoxie und auch die Arbeit in der ökumenischen Bewegung sind aber damit beeinträchtigt worden, was unserem heiligen Anliegen der Wiederherstellung der vollen Einheit aller Kirchen Christi nachteilig ist. Das Moskauer Patriarchat hat nämlich seine Teilnahme in jenen orthodoxen und ökumenischen Organisationen und Kommissionen aufgekündigt, denen Vertreter der Kirche Konstantinopels vorsitzen. Dies erschwert eine Rückkehr zu Normalität. Die Fortführung und die Ergebnisse der bilateralen ökumenischen Dialoge der Gesamtorthodoxie mit den anderen Kirchen werden vermutlich wegen der Nicht-Teilnahme der Kirche Russlands beeinträchtigt werden. Bevor es nämlich gilt, die substanziellen Inhalte der ökumenischen Dialoge objektiv zu beurteilen, wird wohl zunächst geklärt werden müssen, wie alle orthodoxen Schwesterkirchen mit dieser neuen, radikal negativen Entwicklung umgehen.
Das Moskauer Patriarchat besteht jedenfalls darauf, dass das Ökumenische Patriarchat die gewährte Autokephalie an die Kirche der Ukraine zurücknimmt, während das Ökumenische Patriarchat dies ablehnt, weil sie dann demzufolge jede gewährte Autokephalie grundsätzlich zurücknehmen könnte. Für die Kirche Konstantinopels befindet sich die weitere Anerkennung der neuen Ukrainischen Kirche in einem Prozess, der früher oder später zur Gesamtanerkennung innerhalb der Orthodoxie führen soll. Andererseits sind einige Gegner des Ökumenischen Patriarchats und besonders Zeloten, die speziell auch die ökumenische Bewegung ablehnen, beispielsweise in Griechenland, zu Befürwortern des Moskauer Patriarchats und zu Gegnern der Autokephalie-Gewährung geworden.
Könnten künftig auch die Schismatiker der Altkalendarier in Griechenland und weltweit anerkannt werden? Der Tag der Wiederherstellung und Verwirklichung einer großen kirchlichen Einheit sollte ein Tag großer Freude und Dankbarkeit werden, ein großer Tag unterwegs zur Verwirklichung der vollen kirchlichen und sakramentalen Einheit aller Kirchen, ein großer Tag für die ökumenische Bewegung mit beispielhafter dynamischer Wirkung. Hinsichtlich der unierten Ukrainischen griechisch-katholischen Kirche hätte eine gemeinsame Lösung innerhalb der Ukraine gesucht werden sollen.
Die synodale Struktur und eine neue Interpretation der Rolle des Bischofs von Rom hätten dabei für die endgültige Gestalt der gesamten Kirche hilfreich sein können, um künftig gemeinsam ein neues Oberhaupt zu wählen. Das wünschten sich auch Papst Franziskus und Patriarch Kyrill in ihrem gemeinsamen Kommuniqué bei ihrer Begegnung in Kuba im Februar 2016: zur Versöhnung beitragen, das Recht einräumen existieren zu können und alles für die geistlichen Ansprüche ihrer Gläubigen unternehmen, im Bemühen, mit allen Nachbarn in Frieden zu leben.
Für den unierten Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk ist und bleibt das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel die Mutterkirche. Patriarch Bartholomaios ist bereit, die ökumenische Kooperation mit den unierten griechisch-katholischen Christen in der Ukraine zu intensivieren. Stehen die Unierten in der Ukraine Herrn Dumenko deshalb so positiv gegenüber, weil sie dies ausnützen wollen, um die Orthodoxen der Jurisdiktion des Papstes zu unterwerfen? Es war Schewtschuk, der an den Appell von Papst Johannes Paul II. in Ut unum sint (1995) erinnerte, in dem der Papst Kirchenführer und Theologen aus nichtkatholischen Kirchen aufrief, mit ihm über mögliche alternative Formen des Einheitsamtes des Bischofs von Rom nachzudenken und einen Dialog zu führen, der momentan wirklich Früchte bringt.
Als Antwort auf die berühmte Enzyklika des Ökumenischen Patriarchates an alle Orthodoxen Autokephalen Kirchen des Jahres 1902 lautete im Jahre 1904 die offizielle Position des Moskauer Patriarchates: „Wir ehren die apostolische Sukzession der lateinischen Hierarchie und diejenigen, die zu unserer Kirche kommen, akzeptieren wir in jenem Weihegrad, den sie hatten… So akzeptieren wir auch die Armenier, die Kopten, Nestorianer usw., die die apostolische Sukzession nicht verloren haben.“
So betrachtete die Russische Kirche im Jahr 1904 die Weihen jener Kleriker, die sie nicht nur als Schismatiker, sondern auch als Häretiker bezeichnete. Kann das Moskauer Patriarchat die Weihen der Schismatiker in der Ukraine künftig anerkennen, weil die Schismatiker durch das Ökumenische Patriarchat rehabilitiert wurden? Das Moskauer Patriarchat hat das Schisma mit der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (ROCOR) nur mit einer Erklärung beendet, die von beiden Seiten am 17. Mai 2007 unterzeichnet wurde. Alle Kleriker der früheren schismatischen Kirche wurden in allen Weihestufen in ihrem Amt anerkannt, ohne eine besondere liturgische Handlung oder gar eine Wiederweihe. Nach der gemeinsamen Unterzeichnung gab es eine feierliche Konzelebration. Welche Kriterien wurden hier angewandt?
Statt uns mit den alltäglichen existenziellen Problemen der Menschen auf der Welt zu beschäftigen, müssen wir uns nun mit kirchenpolitischen und machtpolitischen Konfrontationen beschäftigen. Dabei entsteht schlechthin die Gefahr, dass die Kirchen ihre Glaubwürdigkeit und die Wirksamkeit bei der Verkündigung des Evangeliums verlieren. Die Gläubigen überall sind müde geworden, alle diese Kämpfe erleben zu müssen, und sie verstehen nicht, warum solche Probleme nicht mehr das Evangelium im Vordergrund stehen lassen.
III.
Die Gewährung der Autokephalie für die Orthodoxe Kirche in der Ukraine durch das Ökumenische Patriarchat wurde zum Anlass für zusätzliche Sorgen innerhalb der Gesamtorthodoxie und darüber hinaus. Eine negative Entwicklung ist entstanden, die nicht notwendig war, sondern vermeidbar gewesen wäre. Zweifelsohne hatte sich in der Vergangenheit die Orthodoxe Kirche bei unordentlichen Zuständen traditionell immer auf die authentische, objektive und weise Führung der Kirche Konstantinopels berufen. Bisher wurden gesamtorthodoxe Probleme und Probleme einzelner Kirchen traditionell dank der Koordination des Ökumenischen Patriarchats, aufgrund seiner besonderen Rolle innerhalb der Gesamtorthodoxie im Sinne der Einheit behandelt. Erzpriester Nikolaj Danilevic aus Kiew hat immer wieder behauptet, dass sich die zerspaltenen Parteien traditionell und privat öfters beim Bier getroffen haben und über ihre Zukunft gesprochen hätten.
Statt der Einheit und der harmonischen Gemeinschaft innerhalb unserer Kirchen müssen wir also bedauerlicherweise innerhalb der Orthodoxie selbst Schwierigkeiten und Spannungen und Probleme feststellen. Es entsteht der Eindruck, dass durch die Gewährung der Autokephalie in der Ukraine vergessen wurde, dass ohne Frieden und Gemeinschaft zwischen den Kirchen auch kein echter Frieden zwischen den Menschen und den Völkern erreicht werden kann. Hier ist etwas Voreiliges geschehen! Orthodoxe Christen sind weltweit vor vollendete Tatsachen gestellt worden, was Schmerz und Trauer bereitet.
Auch wenn Kraft und Wille weiter besteht, wird es aufgrund der entstandenen chaotischen Lage sehr schwierig werden, richtige Lösungen zu finden, außer mit Gottes Hilfe. Es ist schmerzlich, dass wir uns in einer derartigen Situation befinden, aber wir dürfen auch nicht die Hoffnung verlieren. Denn Resignation und Christsein ist ein Widerspruch in sich.
Könnte als höhere Instanz die Synode der Kirchenoberhäupter einberufen werden, um eine Lösung zu finden? Während manche orthodoxen Kirchenoberhäupter die Einberufung einer Panorthodoxen Synode zur Lösung des Problems der Ukraine wünschen, wollen andere zunächst erleben, dass alle polemischen Behauptungen, dass das Ökumenische Patriarchat etwa unkanonisch gehandelt habe, zurückgenommen werden. Die Kirche Konstantinopels sieht jedenfalls ihre Sicht der grundlegenden Struktur der Gesamtorthodoxie gefährdet, ja vor ihrer Zerstörung.
Die Verwirklichung einer gesamtorthodoxen Synaxis, sowohl als Treffen von Kirchenoberhäuptern als auch als Gesamtorthodoxe Synode, ist wohl zum Scheitern verurteilt. Wer realitätsnah diskutieren möchte, wird sich künftig mit dem Unangenehmen und dem Problematischen beschäftigen müssen. Es bleibt offen, ob unsere Kirchen trotz ihrer dogmatischen und liturgischen Nähe überhaupt in der Lage sind, die Dinge offen miteinander auszusprechen. In zahlreichen konkreten kritischen Fällen hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass das Ökumenische Patriarchat mit seiner gesamtorthodoxen Rolle hilfreich gewesen ist, wofür die Kirchen dem Patriarchat von Konstantinopel dankbar sind.
Es sind in der Vergangenheit keine neuen gesamtorthodoxen Regelungen erreicht worden, also hätte man die bisher praktizierten Regelungen, die Gewährung der Autokephalie aufschieben müssen, weil für die Gesamtorthodoxie offensichtlich die Kirche Konstantinopels nicht unbedingt jene Instanz sein muss, die allein das Recht hätte, eben auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion, Autokephalien zu verleihen. Hat Metropolit Hilarion tatsächlich konkretisiert, dass Moskau bereit sei, die Autokephalie zu verleihen, wenn exklusiv die Ukrainische Orthodoxe Kirche unter Metropolit Onufrij darum bitten würde?
Meint er damit eine Autokephalie mit oder ohne Konstantinopel? Im Vorfeld des Konzils von Kreta 2016 wurde ein Entwurf zur Frage der Autokephalie-Gewährung erarbeitetet, der aber wegen verschiedener Einwände nicht fertiggestellt und auf dem Konzil von Kreta nicht berücksichtigt werden konnte. Auf dieser Basis sollte die Diskussion über die Art und Weise einer neuen Regelung der Autokephalie-Gewährung, im festen Willen eine praktikable Lösung für die Zukunft zu finden, fortgesetzt werden.
Es wäre wünschenswert gewesen, dass sich die Kirche Konstantinopels bei der Autokephaliefrage für die Orthodoxen in der Ukraine zunächst mit allen anderen Schwesterkirchen beraten hätte. Wie auch alle anderen Autokephalen Kirchen zuvor, etwa auch die Serbische Kirche, hätte sich in irgendeiner Zukunft diese neue Ukrainische Kirche beim Ökumenischen Patriarchat für die Gewährung ihrer Autokephalie bedanken können. Es wäre ein Erfolg der Kirche Konstantinopels gewesen, in diesem Sinne zu gegebener Zeit der Ukrainischen Kirche zu guter Letzt die Patriarchatswürde zu verleihen.