Die Psalmen und das Gebet der Sammlung bei Romano Guardini

As part of the event "The meaning of prayer", 17.02.2025

Monk by the Sea (1808/1810), Caspar David Friedrich / Wikimedia Commons, Public Domain

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

mein Vortrag besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil geht es um das Gebet der Sammlung bei Romano Guardini. Aus dem Gebet der Sammlung geht nach Guardini das mystische Gebet hervor. Damit beschäftigen wir uns im zweiten Teil meines Vortrags. Und im dritten Teil stelle ich Guardinis Verständnis der Psalmen vor, das sich aus den beiden vorangehenden Themen erschließt.

 

Das Gebet der Sammlung

 

Schule der Sammlung

Romano Guardini gehörte zu einer philosophischen Bewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die als Schule der Sammlung bezeichnet wird. Dazu sind so bekannte Philosophen wie Max Scheler, Martin Buber, Gabriel Marcel und Martin Heidegger zu rechnen. Bewusst oder unbewusst knüpften sie mit dem Begriff der Sammlung an eine Tradition an, die bis in die Anfänge der christlichen Spiritualitätsgeschichte zurückreicht. In Kreisen katholischer Intellektueller sah man in der Katastrophe des ersten Weltkriegs einen „Zusammenbruch des neuzeitlichen Geistes“. Die Niederlage des als protestantisch verstandenen Deutschen Reiches von 1918 deuteten einflussreiche katholische Intellektuelle als Sieg des Katholizismus über den Protestantismus. Als maßgeblichen Philosophen des Protestantismus sah man Immanuel Kant (1724–1804) an. Der mit ihm verbundene reformatorische Individualismus und Skeptizismus, der dem Menschen metaphysische Erkenntnisse abspreche, sei gescheitert.

Bei aller Eigenständigkeit war auch Romano Guardini von dieser geistesgeschichtlichen Atmosphäre beeinflusst. Ohne sie lässt sich seine Theologie des Gebetes nicht verstehen. Für Guardini und viele seiner katholischen Zeitgenossen repräsentiert der Philosoph Immanuel Kant das Selbstverständnis der Moderne par excellence. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus, derzufolge Gott und das Wesen der Dinge nicht erkannt werden können, geht auf den Philosophen aus Königsberg zurück. Die zeitgenössische Philosophie, so Guardini, sei dabei, durch die „Wende zu den Dingen“ die Philosophie Kants zu überwinden. Damit werde das „katholische Seinsverständnis“ rehabilitiert. Das Wort von der „Wesensschau“ machte in diesen Kreisen die Runde.

Die hier skizzierten philosophischen Hintergründe sind für das Verständnis des Gebetes bei Guardini von Bedeutung. Für Guardini beginnt das Gebet mit der Sammlung des Bewusstseins. Diese führt zu einer vertieften Form der Wahrnehmung. In der Zerstreuung nimmt der Mensch nur die äußere Seite der Wirklichkeit wahr, in der Sammlung gelangt er in Kontakt mit der Innenseite der Dinge, mit ihrem Wesen. Erst wenn wir in diesen Bereich eintreten, kann sinnvollerweise von Gott und vom Gebet gesprochen werden. In der Neuzeit, so Guardini, hat der Mensch seine ganze Energie auf das Tun und auf den Willen, auf die vom Menschen gewollte Formung der äußeren Wirklichkeit gerichtet. So beeindruckend die Errungenschaften in Wissenschaft und Technik, die dieser Haltung entspringen, auch sein mögen, so haben sie doch eine innere Leere hinterlassen. Guardini und viele seiner (katholischen) Zeitgenossen sahen die Zeit gekommen, diese einseitige Mentalität zu überwinden und die Dinge wieder ins Lot zu bringen. In der zeitgenössischen Philosophie, insbesondere der Phänomenologie und zum Teil auch der Lebensphilosophie, sahen sie Verbündete, um den neuzeitlichen „Willen zur Macht“ (Nietzsche) und zur „Tat“ (Fichte) zu unterbrechen, und (wieder neu) nach dem „Sinn von Sein“ (Heidegger) zu fragen. Nicht haben sich die Dinge nach dem Menschen, sondern der Mensch hat sich nach der „Wahrheit der Dinge“ zu richten. In der Orientierung am Mittelalter, das vom Vorrang des beschaulichen vor dem tätigen Leben geprägt war, fand Guardini eine Quelle der Inspiration, um die dunkle Seite der Moderne zu überwinden. Das Schlusskapitel in seinem Werk The spirit of the liturgy trägt die Überschrift Der Primat des Logos über das Ethos. Darum geht es Guardini auch im Gebet. Bevor man versucht, Gott seinen eigenen Willen aufzuzwingen, ihn in seine Alltagssorgen einzuspannen, geht es im Gebet zunächst einmal darum, wahrzunehmen, was ist und was Gott (von mir) will. Das aber ist nur möglich, wenn ich bei mir selbst einkehre, wenn ich mich sammle.

Die Übung der Sammlung

Nach seiner einflussreichen Schrift The spirit of the liturgy (1918), in der sich Romano Guardini mit der liturgischen Form des Betens beschäftigt hatte, musste er sich erst allmählich zu einer ausdrücklichen Wertschätzung des persönlichen Gebetes durcharbeiten. Doch das gelang ihm erstaunlich schnell. Die im Jahre 1921 erschienenen Briefe über Selbstbildung enthalten erste Ansätze in diese Richtung. Deutlich zu spüren ist der Einfluss der Jugendbewegung. Einige Jahre später erschien eine Aufsatzfolge Über einige Fragen des inneren Lebens, die im Jahre 1929 unter dem Titel Das Gute, das Gewissen und die Sammlung in Buchform herauskam.

Darin unterscheidet Guardini ein äußeres und ein inneres Leben. Beide sind miteinander verbunden, aber doch zu unterscheiden. Wenn das innere Leben verwahrlost, dann auch das äußere. Den Grund für die „Verwahrlosung unserer Zeit“ sieht Guardini in der inneren Verwahrlosung des Menschen: „Wir müssen unser Inneres reinigen. Müssen aufmerksam und bereit werden“ (53). Dazu gibt es eine Übung: „Die Übung der Sammlung. Alle Meister des inneren Lebens sprechen von ihr“ (55). In jedem Menschen gibt es einen „inneren Raum“ (55). Doch die meisten wissen nicht darum; bei ihnen ist der innere Raum verschlossen und verwahrlost. „Hier liegt also eine Aufgabe. […] Die Innenwelt muss aufgetan werden“ (56).

Guardini gibt nun sehr konkrete Anleitungen, wie diese Übung im Alltag praktiziert werden kann. Das Gegenteil der Sammlung ist die Zerstreuung. Das Leben des modernen Menschen spielt sich weitgehend im Äußeren ab. Häufig erliegt er dabei der Gefahr der Zerstreuung. Das war auch bereits in den 1920er Jahren der Fall, als Deutschland die Phase einer überhitzten Modernisierung erlebte, die einige Jahre später in die Katastrophe führte. Guardinis Weisungen könnten unmittelbar in unsere Zeit gesprochen sein, wenn er schreibt: „Wir haben eine Hygiene des Essens; aber es kommt uns nicht in den Sinn, ob es nicht auch eine Hygiene des Sehens, des Hörens, des Lesens gebe. Müssen wir wirklich alles in uns hineinlassen? Machen wir einmal den Versuch: Wenn wir durch die Stadt gegangen sind, durch belebte Straßen, an Menschen und Läden vorbei; prüfen wir dann unser Inneres, wie es darin aussieht. Welche Wirrsal von Eindrücken! Welche Zerfahrenheit der Gedanken! Welches Hin und Her von Erregungen und Wünschen; von Unruhe und Unzufriedenheit! Wieviel Hässliches auch! Muss das sein? Hier gehört das her, was die geistliche Lehre die ‚Hut der Sinne‘ heißt, die Zucht der Aufmerksamkeit“ (60). Übung der Sammlung würde bedeuten, „dass wir alledem gegenüber Ruhe gewinnen. Dass wir die Eindrücke sieben“ (61). Schritte auf dem Weg der Sammlung sind nach Guardini die „Zucht der Sinne und der Aufmerksamkeit“ (59), „die Einsamkeit und das Schweigen“ (62), „die stille Aufmerksamkeit nach innen hin“ (63). Er rät dazu, zweimal am Tag diese Übung zu praktizieren. Anders ist kein Fortschritt zu erzielen. Wenn wir in die Stille gehen, merken wir „erst richtig, wie tief die Unrast in den Nerven sitzt. Tausend Dinge kommen und wollen getan sein“ (67). Im Stile der Autosuggestion führt Guardini in seinem Vortrag in die Stille ein: „nun bin ich ruhig; ganz ruhig. Bis in mein Innerstes hinein. […] Die vielerlei Gedanken – weg! Das unrastige Wünschen – weg! Nicht durch Willenszwang, sondern durch ein leises, entschiedenes Hinaustun. […] Ganz gegenwärtig sein. Ganz da“ (67). Wer diese Übung regelmäßig praktiziert, erlebt „Erquickung und Erneuerung“ (67).

Was Guardini hier vorträgt, nennen wir heute geführte Meditation. Sie kann eine erste Hilfe sein, in die eigene Tiefe zu kommen. Sie ist allerdings nur der Beginn eines Weges, der noch weiter führt. Doch ohne Sammlung geht es nicht. Die Übung der Sammlung ist nach Guardini die Voraussetzung für das Gebet. Mehr noch: Wenn wir „die Stille hinuntersinken lassen; immer tiefer ins eigene Selbst hinab“ steigen, sind wir bereits im Gebet: „Wer sich so bereitet, aus dem geht das Gebet fast von selbst hervor“ (68).

 

Geistliche Übungen

Im Herbst 1930 hat der damals 45-jährige Romano Guardini auf Burg Rothenfels erstmals geistliche Übungen angeboten. Bei geistlichen Übungen denken wir in der katholischen Tradition gewöhnlich an theologisch-besinnliche Vorträge im Rahmen von Exerzitien. Guardini hat dieses Modell jedoch wesentlich erweitert. Damit wurde er zu einem Pionier der modernen Meditationsbewegung.

Worin bestand das Neue seiner Übungen? Ein Blick in den Tagesplan seiner Kurse zeigt Überraschendes: Schweigen – Zur Ruhe kommen – Heilige Schrift – Einsamkeit – Gegenwärtigkeit – Gymnastik – Atem – Meditation – Absichtslosigkeit. Das klassische und auch heute noch verbreitete Modell der Einführung in den Glauben besteht in der Abfolge von: Glauben – Verstehen – Praktizieren. Der Inhalt des Glaubens (fides quae) wird in Vorträgen erklärt, die Teilnehmer verstehen einiges und bringen das, was sie verstanden haben, in ihrem Alltag zur Anwendung. Ohne dieses Modell komplett über Bord zu werfen, stellt ihm Guardini ein Modell an die Seite, das die Reihenfolge umkehrt: Praktizieren – Erfahren – Verstehen.

Das Paradoxe ist: Es beginnt mit einem Tun, das jedoch bei genauerem Hinsehen ein Nicht-Tun ist. Am Anfang von Allem steht das Schweigen. Hören wir Guardini: „Vor Allem: Wir wollen lernen, still zu werden. Alles das, worum es hier geht, wird zerstört, wenn es nicht vom Schweigen umfangen wird“ (12). Mit dem äußeren Schweigen ist es allerdings nicht getan. Es geht um einen Prozess innerer Wandlung: „Schweigen bedeutet nicht Abwesenheit des Sprechens, sondern den lebendigen Gegenwert dazu: Den Akt der Stille; die Haltung, die horcht, in welcher die Tiefe sich auftut und die Kräfte sich sammeln. […] Wir können uns den Mund verbieten und dahinter geschwätzig sein. […] Worauf es ankommt, ist, dass die Stille hineinsinke; dass unser Wesen sich immer tiefer in der Ruhe löse“ (13).

Dieses zutiefst persönliche Tun, dieses „innere Einsamsein“, wie Guardini sagt, hat enorme Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Es ist ein Paradox: Die Gemeinschaft wird nicht durch äußere Einwirkungen verändert, sondern von innen her. Alles äußere Tun soll gelassen werden: „Was aber sonst Gemeinsamkeit ausmacht: Das Miteinander-Reden, das Beieinander-Sitzen, der besondere Verkehr der Gruppen und kleinen Kreise – darauf wollen wir verzichten. Jeder soll mit sich allein sein. Das schafft freien Raum; macht, dass der Einzelne zu sich kommt, sich richtig sieht und sich selbst standhält“ (13). Es entsteht eine Gemeinschaft, die „in den Seelen erwacht“, die von innen her trägt.

Guardini weiß um die Herausforderungen, die mit diesem Weg verbunden sind. Er verspricht kein Wolkenkuckucksheim und tappt nicht in die Falle der Wellness-Spiritualität. Er beschreibt die Übungsschritte und die Haltungen, um die es geht, nüchtern und klar. Eine davon lautet: Wahrnehmen, nicht bewerten! Hier zeigt sich der Einfluss der Lebensphilosophie. Guardini schreibt: „Die Kritik abtun. Was wir vorhaben, können wir nicht mit der Frage beginnen, ob es so richtig ist, wie es hier gemacht wird. […] Beginnen wir […] mit der Kritik, dann kommen wir überhaupt zu keinem Anfang. […] Mit dem Wegtun der Kritik ist […] nicht gemeint, dass wir kritiklos sein sollen, sondern es wird darauf aufmerksam gemacht, in welcher Weise solche Dinge zustandekommen, wie sie uns hier vorschweben. Wer Kritik übt, tritt aus dem lebendigen Strom heraus. Statt zu leben, beurteilt er. Dann erstarrt der innere Vorgang; gerade das, worauf es ankommt, hört auf. Wir wollen also vertrauend in das lebendige Gefüge eintreten und uns dem auftun, was hier getan wird“ (13f).

Ein weiterer, sehr wichtiger Punkt: Absichtslosigkeit: „Keine Absichten haben. Wir wollen nichts erreichen, erarbeiten, durchkämpfen oder wie man das ausdrücken mag, sondern nur da sein, leben und uns öffnen, was an uns kommt. […] Es gibt tiefe Dinge, die nur geschehen können, wenn man nichts beabsichtigt“ (14).

Es wird auf diesem Weg Phasen der Trockenheit geben. Dann kommt es darauf an, dranzubleiben und nicht aufzugeben: „Sicher kommen Stunden der Erschlaffung, der Gleichgültigkeit, der Unlust. Lassen wir los, dann zerrinnt das schöne Werk. Also wollen wir treu sein, und was hier wächst, zu guter Vollendung bringen“ (15).

In seinen Ausführungen zur Meditation ist eine leise Kritik an den Exerzitien des hl. Ignatius herauszuhören, zumindest in der Form, wie sie damals – vereinzelt wohl auch noch heute – praktiziert wurden, mit ihrer starken Betonung des Willens und des Vorsatzes: „Gott wirkt nach der Weise des Lebens: Er rührt an und löst Bewegung aus; er legt einen Samen, der keimt, wenn es Zeit ist; er senkt eine Gestalt ein, die dann langsam durchdringt. […] Vielleicht kommt kein einziges ‚Ergebnis‘ heraus; keine niederzuschreibende Erkenntnis; keine besonderen Vorsätze nach Erstens, Zweitens, Drittens“ (16f).

Guardini zeigt uns, worauf es ankommt: „still werden …, gegenwärtig sein, offen werden“ (20). Mit dieser Haltung beginnt das Gebet. Mehr noch, sie ist bereits Gebet: „Von der Sammlung hängt alles ab. Keine Mühe, die darauf verwendet wird, ist vertan. Und wenn selbst die ganze Gebetszeit damit hinginge, sie zu suchen, wäre sie gut verwendet, denn im Grunde ist die Sammlung ja in sich schon Gebet.“

 

Vorschule des Betens

Mit der erstmals im Jahre 1943 erschienen Schrift Vorschule des Betens hat Guardini einen Klassiker der modernen Gebetsliteratur verfasst, der in vielen Auflagen erschienen und vielfach übersetzt worden ist. Der Grundgedanke des Buches lautet: Beten kann man lernen, wenn man es übt. „Von diesem Üben des Gebets soll hier die Rede sein. Es besteht vor allem darin, dass es zu bestimmten Stunden verrichtet wird: morgens, vor dem Beginn des Tagewerkes und abends, bevor man zur Ruhe geht. […] Zu jedem Üben gehört auch die rechte Haltung, die äußere und besonders die innere; die Sammlung vor dem Beginn und die Selbstzucht im Fortgang des Gebetes. […] Ohne Gebet wird der Glaube matt, und das religiöse Leben verkümmert. Man kann auf die Dauer kein Christ sein, ohne zu beten – sowenig man leben kann, ohne zu atmen“ (14f). Das Buch besticht durch seine Klarheit, seinen Realismus und seine geistige Tiefe. Guardini weiß um die Not des Gebets: „Im allgemeinen betet der Mensch nicht gern. Er empfindet dabei leicht eine Langeweile, eine Verlegenheit, einen Widerwillen, geradezu eine Feindseligkeit. Alles andere erscheint dann reizvoller und wichtiger. Er sagt, er habe keine Zeit, und das und jenes sei dringlich; sobald er aber daraufhin das Gebet verlassen hat, kann er die überflüssigsten Dinge tun“ (15). Wer kennt das nicht?

Guardini geht noch einen Schritt weiter. Beten ist nicht nur etwas zutiefst Christliches, sondern etwas zutiefst Menschliches. Er greift Beobachtungen von Ärzten und Therapeuten auf: „Der Mensch, der nur nach außen hin lebt, von einem Eindruck zum anderen gerissen wird, redet, strebt, arbeitet, kämpft, sich schließlich verbrauchen und verkrampfen muss. Soll das nicht geschehen, dann muss das Leben auch die Gegenrichtung nach innen nehmen; es muss sich von den Wurzeln her erneuern, Kraft sammeln, Spannung gewinnen“ (16). Urlaub und Erholung, so die Erfahrung, reichen nicht. Sie bewirken zwar „eine körperlich-seelische Kräftigung, die sich aber bald wieder verbraucht. Was not tut, ist ein echtes Gegengewicht, das immer wirkt. […] Der Mensch bedarf des Gebetes, um seelisch gesund zu sein“ (16f). Es geht um die rechte Weise des Betens, so ist zu ergänzen, denn es gibt auch Formen des Betens, die den Menschen krank machen und verkümmern lassen. Auch darauf geht Guardini ein.

Die Anthropologie, die der Gebetslehre Guardinis zugrunde liegt, ist die Lehre vom äußeren und vom inneren Menschen. Wir finden sie bei Paulus, aber auch bei Platon, in vielen Religionen und Kulturen. Ihr zufolge gibt es in jedem von uns ein inneres und ein äußeres Leben. Das äußere, das „natürliche“ Leben ist unserem unmittelbaren Fühlen und Wissen zugänglich; das andere, innere Leben „hingegen ist verborgen, dringt nur selten in die Erfahrung, muss geglaubt und gepflegt werden“ (18). Darum geht es im Gebet. Bekommt der innere Mensch keine bekömmliche Nahrung, verkümmert er und stirbt. Das hat gravierende Konsequenzen für den Einzelnen wie für die gesamte Kultur.

 

Das Erwachen der geistlichen Sinne

Christliches Beten richtet sich auf Gott hin aus. Doch ohne innere und äußere Ordnung ist Gott „nicht zu haben“: „Im Raum der Sammlung […] tritt die Wirklichkeit des lebendigen Gottes hervor. Vor diese Wirklichkeit zu gelangen, ist die erste Aufgabe und Mühsal des Gebetes – die zweite, seiner heiligen Gegenwart standzuhalten und ihren Forderungen zu genügen“ (44). Guardini kommt auf das Thema der Gotteserfahrung zu sprechen. Einerseits ist Gott in dieser Welt nicht zu erfahren; er ist nichts von dem, was wir in und um uns herum wahrnehmen. Diese Leere gilt es – auch im Gebet – auszuhalten. Mehr noch, in diese Leere müssen wir ganz bewusst hineingehen. Dazu brauchen wir einen starken Willen; Guardini spricht von der „Mühsal des Gebetes“: „Wir haben das Wort ‚Mühsal‘ gebraucht, und mit Bedacht, denn das Gebet kann wirklich eine solche sein. Manchmal geht es leicht, als lebendige Sprache, vom Herzen; aufs Ganze des Lebens und die Vielheit der Menschen gesehen, bleibt das aber die Ausnahme. Meistens muss es gewollt und geübt werden, und die Mühe dieser Übung kommt zu einem guten Teil daher, dass die Wirklichkeit Gottes nicht empfunden wird. Dem Betenden ist dann zumute, als ob er im Leeren stehe, und alles andere scheint dringlicher, weil es fühlbar da ist. So kommt es darauf an, auszuharren. […] Denn in der Leere der Stunde auszuhalten, hat einen besonderen Sinn, der durch kein noch so ursprüngliches Gebet zu anderer Zeit ersetzt werden kann. Es bedeutet nämlich, mit dem Glauben im strengsten Sinne Ernst zu machen; das Gebet ganz aus der Treue gegen Gottes Wort zu vollbringen und ins Dunkle zu sprechen, auf Den hin, der hört, auch wenn man von Ihm nichts weiß“ (44).

Viele sagen: „Das Gebet bringt mir nichts“. Diese Erfahrung gilt es ernst zu nehmen, und doch dürfen wir nicht aufgeben. Denn Gott will uns etwas geben, mehr noch: er will sich uns selbst geben, doch er kann nicht, da wir keinen Platz für ihn haben; wir sind besetzt mit allen möglichen Gedanken, Wünschen und Phantasien, mit allem, was uns beschäftigt. In der Vorschule des Betens wird uns dies auf schmerzhafte Weise bewusst. Wenn wir dabei aushalten, findet ein Prozess der Reinigung statt. Die Tradition spricht von der via purgativa, dem Weg der Reinigung. Es ist eine Art von Fegefeuer (purgatorium), ein Feuer, das uns reinigt.

Wenn wir dabei aushalten, dann kann es geschehen, dass sich nach einiger Zeit die Leere füllt. „Gott ist ja nicht nur Gedanke oder Phantasie oder Gefühl, sondern Wirklichkeit. Und Er lebt nicht in selig-gleichgültiger Enthobenheit über uns dahin, sondern liebt uns […] und Er wird sich dem, der in Treue ausharrt, bezeugen“ (45).

Nach einer (längeren) Zeit der Übung kann sich so etwas wie eine Wahrnehmung Gottes einstellen – eine Wahrnehmung nicht mit den körperlichen, sondern mit den geistlichen Sinnen. „Darum sprechen die Meister des religiösen Lebens von den geistlichen Sinnen: dem inneren Auge und Ohr und Gefühl und Geschmack und meinen damit verschiedene Weisen, wie Gottes Wirklichkeit erfahren werden kann“ (46). Wenn wir nicht mehr gut hören können, gehen wir zum Ohrenarzt, wenn unser Augenlicht schwächer wird, hilft uns der Augenarzt. Doch wir haben nicht nur körperliche, sondern auch geistliche Sinne. Bei vielen Menschen sind die geistlichen Sinne abgestorben oder eingeschlafen. Deshalb können wir Gott nicht wahrnehmen und meinen, er sei nicht da oder es gäbe ihn nicht. Hier setzt die Übung des Gebetes an, wie Guardini sie beschreibt. Sie kann tatsächlich zu einer echten Erfahrung Gottes führen: „Diese Wirklichkeit Gottes kann sich in verschiedener Stärke bezeugen, vom leisen Hauch bis zur Macht, die den Menschen ganz überflutet. Sie wird mit dem Eigenlichsten unseres Wesens aufgenommen: mit dem Grunde der Seele, mit der Höhe des Geistes, mit dem Lichtesten des inneren Lebens“ (46).

Allerdings dürfen wir uns mit diesen Erfahrungen nicht identifizieren. Wir können sie nicht festhalten. Der Grund dafür, dass Gott sich immer wieder unserer Erfahrung entzieht, liegt darin, dass wir nur allzu leicht der Gefahr erliegen, nicht Gott zu lieben, sondern die schönen Gefühle, die mit seiner Gegenwart einhergehen. Deshalb warnt Guardini zu Recht: „Doch muss das Gebet von solchen Erfahrungen unabhängig bleiben. Gibt sich Gott zu fühlen, darf der Betende in der Fülle stehen, dann soll er dafür dankbar sein und sie wohl hüten. Kommt er aber ins Leere, dann muss er sich auf den bloßen Glauben stützen und ausharren“ (46).

 

Das mystische Gebet

 

Wenn das Gebet der Sammlung konsequent praktiziert wird, geht es fließend in das mystische Gebet über. Zumindest kann das so sein. Von daher ist es folgerichtig, dass Guardini in seiner Vorschule des Betens auch auf das mystische Gebet eingeht, obwohl ihm natürlich klar ist – und er sagt es ausdrücklich –, dass er damit weit über eine Vorschule des Betens hinausgeht. Guardinis Ausführungen zum mystischen Gebet sind für unser Thema aus zwei Gründen wichtig: Zum einen zeigen sie, dass Guardini selbst ein Mystiker war. Anders kann man seine Ausführungen zum mystischen Gebet nicht verstehen. Hier spricht jemand aus eigener Erfahrung, nicht aus angelesenem Wissen. Und zweitens ist dies für den dritten Teil meines Vortrages von Bedeutung: Guardinis Verständnis der Psalmen. Deshalb möchte ich in diesem zweiten Teil meines Vortrags einige Passagen aus dem Abschnitt Das mystische Gebet vorstellen und mit wenigen Worten kommentieren:

„Vielleicht macht der Betrachtende einmal eine eigentümliche Erfahrung. Lange Zeit hat er aus dem Glauben heraus über Gott nachgedacht; plötzlich ist Gott selbst da. Damit ist nicht gemeint, der Betende sei besonders andächtig, der Gedanke an Gott werde ihm sehr eindrucksvoll, sein Herz empfinde starke Liebe zu Ihm oder etwas Derartiges, sondern er fühlt, dass das, was ihm da entgegentritt, ganz neu und anders ist. Eine Wand ist durchstoßen, die vorher da war. […] In der Erfahrung, von der wir reden, fällt die Schranke des Gedachtseins weg, und eine unmittelbare Innewerdung geschieht.“ (120f)

„Das kann den Erfahrenden zuerst sehr verwirren. Er fühlt sich in einer ganz neuen Weise berührt; in einen Zustand versetzt, den er bis dahin noch nicht kennengelernt hat. Sein Innerstes aber ahnt: ‚das ist Gott‘ oder doch wenigstens: ‚das hängt mit Gott zusammen‘. Diese Ahnung schreckt ihn vielleicht. Er weiß nicht, ob er wagen darf, so zu sprechen, und ist unsicher, wie er sich verhalten soll. Aus der Ahnung wird aber bald eine Gewissheit; sogar eine von besonderer Sicherheit. Während des Erfahrens selbst ist ein Zweifel kaum möglich“ (121)

„Die Zweifel kommen erst nachher; etwa wenn er merkt, dass die gewöhnlichen Vorstellungen vom inneren Leben nicht mehr zutreffen, oder andere Menschen von diesen Dingen nichts wissen. Verwirrend ist auch, dass ihm die Worte fehlen, sie auszusprechen. Sein Inneres weiß, worum es sich handelt; ebenso sicher weiß er aber auch, dass er das, was er klar in Geist und Gemüt hat, nicht aussprechen kann. Und nicht nur, weil es zu groß oder zu tief wäre, sondern weil es dafür schlechterdings keinen Ausdruck gibt. Er könnte nur Dinge sagen wie: ‚Es ist heilig; es ist nahe; es ist wichtiger als alles andere sonst, lohnt allein und genügt allein; es ist still, zart, einfach, fast ein Nichts und doch Alles – es ist eben Er!‘ So etwa könnte er sprechen, wüsste aber dabei, dass er damit dem Hörenden, der nichts Ähnliches erfahren hat, gar nichts sagt“ (121).

„Was hier mit ganz flüchtigen Zügen gezeichnet wurde, nennen die Lehrer des geistlichen Lebens die mystische Erfahrung. […] Diese Erfahrung bedeutet aber auch eine Forderung. Gott ruft durch sie den Menschen in größere Nähe und tiefere Gemeinschaft. Sie verlangt, dass der Gerufene sich reinige, die Verstrickung der Welt entschiedener löse und sich inniger Gott zuwende“ (122).

„Ein solches Erfahren hat auch Bedeutung für die anderen. Der, dem es zuteil wird, vermag Zeugnis abzulegen. Er kann sagen: ‚Ich weiß, dass Gott lebt.‘ Er kann jedem Zweifel und Einwand die Kraft des Satzes entgegenstellen: ‚Es ist aber doch so, denn ich habe es erfahren.‘ So kann er für Gottes Ehre eintreten und anderen zum Halt werden“ (123).

„So soll er dem Ruf folgen und mit großer Lauterkeit beten. Freilich auch Maß halten; denn der gewöhnliche Zustand ist verändert, und es besteht die Gefahr, sich zu überanstrengen … Diese Erfahrung kann aber auch Schwierigkeiten, zuweilen sehr bedrängender Art bringen. So kann es sein, dass die Dinge, welche bisher wichtig waren, ihre Bedeutung verlieren und die Menschen eigentümlich fernrücken; dass das Dasein leer wird und man sich in ihm nicht mehr zurechtfindet; dass man sich gedrängt fühlt, etwas zu tun, und nicht weiß, was; ja, dass man zweifelt, ob das ganze neue Erleben nicht Täuschung und Versuchung sei. Alledem gegenüber soll man ruhig bleiben und auf Gott vertrauen; immer wieder sich für seinen Willen bereitmachen und um Klarheit bitten; bis aber diese kommt, in der Bedrängnis ausharren und ruhig weiter tun, was man bisher getan hat. Darin erstarkt der Glaube, und die Liebe wird rein“ (123).

„Auch wird er nicht ohne besonderen Grund von diesen Dingen reden. Das Sprechen vom eigenen Inneren ist immer eine fragwürdige Sache; hier aber besonders, da es sich um ein Geheimnis handelt, das zwischen Gott und diesem Menschen besteht. Zudem wird jede Erfahrung durch die Aussprache vergegenständlicht; hier aber kommt es gerade darauf an, dass sie eng mit dem eigenen Dasein verbunden bleibe. Und auch ohne solche Erwägungen wird keiner, dem so geschieht, leicht darüber reden, weil es dafür zu heilig ist“ (124).

„Die Erfahrung, von der wir sprechen, ist, wie alles Lebendige, ein Keim, der sich entwickelt; diese Entwicklung aber geht durch verschiedene Stufen, stellt immer neue Forderungen und bringt mancherlei Krisen mit sich. […] In einer Zeit, in der so vieles zerfällt, öffnen sich die inneren Quellen weiter als sonst, und manch einer, dessen Leben auf nichts Ungewöhnliches hindeutet, wird von ihm durchströmt. Denn dass das geschehe, hängt weder von Begabung noch von Bildung ab, sondern ist eine Gnade des freien Gottes, die Er schenkt, wie es Ihm gefällt“ (125).

Für mich sind diese Worte ein eindeutiger Beweis, dass Guardini hier aus eigener Erfahrung spricht. Vor diesem Hintergrund wenden wir uns nun den Psalmen zu. Und damit komme ich zum dritten Teil meines Vortrags.

 

Über die Bedeutung der Psalmen im Christlichen Dasein

 

Zu den Psalmen liegen mir aus der Feder Guardinis drei Publikationen vor:

(1) Zum einen der Deutsche Psalter. Nach der lateinischen Ausgabe Pius‘ XII übersetzt von Romano Guardini, erschienen in der 1. Auflage 1950. Auch dazu gibt es eine Vorbemerkung des Übersetzers“, also: Guardinis

(2) Ein kleiner Beitrag von 11 Seiten, den er im Jahre 1951 unter dem Titel Über die Bedeutung der Psalmen im christlichen Dasein publiziert hat.

(3) Eine Publikation im Umfang von 130 Seiten unter dem Titel Die Weisheit der Psalmen aus dem Jahre 1963. Darin bietet er eine kurze Einleitung mit dem Titel
Der Geist der Psalmen (121–128) und anschließend eine
Auslegung von 14 Psalmen.

Ich beschränke mich hier auf den Beitrag aus dem Jahre 1951 Über die Bedeutung der Psalmen im christlichen Dasein.

Ich möchte im Folgenden Guardini selbst zu Wort kommen lassen. Seinen Worten möchte ich eine These voranstellen. Diese lautet: Guardini hat ein mystisches Verständnis der Psalmen. Das heißt, bei den Psalmen handelt es sich um Texte, die sich letztlich nicht der Aktivität des Menschen verdanken, sondern aus der Erfahrung einer Wirklichkeit hervorgegangen sind, die sich ihnen mitgeteilt hat und die mit Gott in Verbindung steht. Kurzum: Die Psalmen sind Wort Gottes, genauer: Sie bezeugen das Wort Gottes.

Folglich kann die Rezitation der Psalmen eine Hilfe sein, mit der göttlichen Wirklichkeit in Kontakt zu kommen, sich von ihr berühren und verwandeln zu lassen.

Ich referiere nun den Gedankengang des Aufsatzes:

Der Vergleich biblischer Bücher mit anderen bedeutenden Werken der Weltliteratur geht am Eigentlichen vorbei. Der „Sinn“ der Heiligen Schrift „liegt nicht in philosophischen oder künstlerischen oder irgendwelchen sonstigen kulturellen Qualitäten“ (12).

„Entsprechend besteht die Bedeutung der Heiligen Schrift darin, dass sie Gottes Wort ist. Was aber die Psalmen angeht, so sind sie Sein Wort in der Form des Gebetes. In ihnen redet Gott so, dass Er uns Sein Wort gibt, damit wir es zu Ihm sprechen. Er lässt es im Herzen und Geiste eines Menschen erstehen, der etwa unrecht getan hat, oder bedrängt ist, oder voll Dankbarkeit, oder von der Größe der Worte Gottes ergriffen. Nun ist das Wort Gebet dieses Menschen, aber es ist vom Hauche Gottes gelenkt und hat dadurch eine Gültigkeit, die es zum Menschengebet überhaupt macht: zum Gebet für uns. Daher ist die Weise, wie wir einen Psalm gebrauchen sollen, gewiss die des Lesens und sinnenden Durchdenkens, vor allem aber die des Betens. Tun wir das, dann nimmt er uns in die religiöse Haltung hinein, in welcher er selbst steht, und führt uns zu Gott“ (12).

„Die Menschen, die in den Psalmen sprechen, sind […] keine vereinzelten Persönlichkeiten, sondern stehen in einem großen Zusammenhang: im Gesamtleben des Volkes, mit welchem Gott seinen Bund geschlossen; im Gefüge des Gesetzes, durch das Er das Leben dieses Volkes geordnet hat; im Fortgang der Geschichte, die er durch die Jahrhunderte auf das Kommende hin führt. Die Haltung, welche den Beter im Psalm erfasst, ist also nicht individualistisch. Das ist kein isoliert-persönliches Erfahren und Suchen, durch welches der Einzelne als solcher mit Gott in Verbindung träte, sondern ein ganzes, in welchem der Einzelne lebt“ (13).

„Dieses Ganze erfüllt sich in jener Gestalt, auf welche die Heilsgeschichte des Alte Testamentes zugeht, dem Messias – um dann in Ihm, seinem Wort und Werk, erfüllt und damit verwandelt, in der Geschichte des Neuen Testaments weiterzugehen. So gehen auch die Psalmen in dieser neuen Geschichte weiter und erhalten darin eine neue, erfüllende und verwandelnde Bedeutung“ (13).

„Der in den Psalmen betet, der da kämpft und verfolgt wird, leidet und triumphiert, ist nach Augustinus immer in irgendeiner Weise Christus“ (13). Guardini vertritt ein christologisches Verständnis, wie es in der christlichen Tradition von Anfang an der Fall war und in besonderer Weise von Augustinus in seinen Enarrationes in Psalmos ausgearbeitet wurde.

„Freilich bringt der symbolische Charakter der augustinischen Auffassung auch einen Nachteil mit sich: die Gefahr, den unmittelbaren Sinn des Gesagten aus dem Auge zu verlieren und ins Willkürliche zu geraten. So darf man ihr gegenüber eine andere Bedeutung der Psalmen nicht vergessen: jene, die auf die unmittelbare geschichtliche Wirklichkeit zurückgeht. Auch sie ist tief; nur ist ihre Tiefe von anderer Art“ (14). Im Hintergrund steht die Frage nach dem Verhältnis von literarischem (historischem) und geistigem Schriftverständnis: dem Verständnis secundum litteram auf der einen und secundum spiritualem sensum auf der anderen Seite.

„Der Mensch, der in den Psalmen redet, ist der Mensch des Alten Bundes. Als solcher befindet er sich in einem besonderen Zustande: er ist unterwegs; er geht auf ein Kommendes zu“ (14).

In gewisser Weise gilt diese aber auch die Christen: „Wir ‚sind‘ nicht Christen, sondern haben […] angefangen, es zu werden. […] Der Zustand des glaubenden Menschen ist der eines fortdauernden Werdens. Immerfort soll aus dem Menschen, wie er durch Schöpfung und Sünde ist, derjenige werden, der aus Erlösung und Gnade lebt. Immerfort soll die alte Wirklichkeit überwunden werden in die neue hinein, welch letztere die Wirklichkeit Christi ist. Paulus – ebenso wie Johannes – drückt diesen Vorgang durch den Begriff der Wiedergeburt aus: der Mensch, der aus dem Alten, aus der Natur in ihrer Verwirrung und Gottesferne stammt, soll durch die Kraft des Heiligen Geistes, durch die Geburt aus Christus neu erstehen. Aber diese Wiedergeburt, als Anfang entschieden in Glaube und Taufe, soll weitergehen. Sie soll den Grundvorgang des christlichen Daseins bilden. Ist das so, dann sind die Psalmen in einem sehr tiefen Sinn das Gebet des christlichen Menschen“ (16).

„Durch diese realistisch-anthropologische Deutung wird die symbolisch-christologische nicht entwertet, denn wer hinter der geschilderten Umwerdung steht, ist ja doch Christus – Er, der durch seine Erlösungstat den Hinübergang in das Neue möglich gemacht hat; in dessen Bild der Hinübergang beständig geschieht; durch dessen Geist er allein vollzogen werden kann. Sie hat aber den Vorteil, die symbolisch-christologische immer in der Nähe der Wirklichkeit zu halten und vor der Willkür der Phantasie zu schützen“ (17).

Mit diesem Modell deutet Guardini die oft als schwierig und problematisch empfundenen Stellen im Psalter; sie seien, so wird oft gesagt, „vor-christlich“ oder „un-christlich“ und müssen aus dem Stundengebet gestrichen werden, was ja nach dem II. Vatikanischen Konzil auch geschehen ist. Die Antwort Guardinis: Auch wir Christen sind immer noch unvollkommen, wir sind immer noch auf dem Weg. Und das verbindet uns mit den Menschen des Alten Testaments. Wenn wir die Psalmen beten, wird uns das bewusst; es konfrontiert uns mit der Wahrheit unserer eigenen Existenz und zugleich spornt es uns an, uns auf die Vollgestalt der Erlösung in Christus zuzubewegen. „Von hier aus gesehen, sind die Psalmen das Gebet dessen, der nicht mit trüglicher Sicherheit im Christlichen steht, sondern unterwegs ist, beständig aus dem Alten ins Neue hinübergehend. Jenes große Ereignis aber, welches für immer das Bewusstsein des alttestamentlichen Menschen geprägt hat, nämlich der Auszug aus der Knechtschaft des ägyptischen Heidentums und die Wanderung durch die Wüste, durch deren Einsamkeit, Gefahr und Anfechtung, aber an der Hand des führenden Gottes, ins versprochene Land Seines Königtums, das alles wird zu einem Symbol, worin sich unser eigenes Dasein ausdrückt“ (19).

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