Die Religion und ihre Bilder

As part of the event "Myth and truth", 10.01.2025

Raffael (1499–1502) / Wikimedia Commons, Public Domain

Die Beiträge von Klaus Bieberstein haben tief hineingeführt in die Welt und Umwelt der Bibel und ihre Mythen. Diese sind geprägt von einer bunten Vielfalt. Deutlich wurde, wie eng verflochten die biblischen Texte mit den Mythen anderer Religionen sind. All diese Texte, Bilder und Bauten dienten und dienen Menschen dazu, sich zu orientieren: im Raum, in der Zeit und im Verstehen ihrer eigenen Existenz.

Ganz ähnlich hat sich der Philosoph Hans Jonas in enger Zusammenarbeit mit seinem Lehrer, dem Theologen Rudolf Bultmann, intensiv mit mythischen Texten innerhalb und außerhalb der Bibel befasst (Jonas, Kampf). Und ähnlich wie Klaus Bieberstein diente beiden die Philosophie dazu, Inhalt und Struktur der Mythen aufzudecken. Sie alle lasen und lesen die Mythen als spezifische und zeitgebundene Antworten auf existenzielle Fragen der Menschen. An diese Arbeit knüpft mein folgender Beitrag an. Der Fokus liegt dabei auf der von Cassirer eingeführten Unterscheidung von Mythos und Religion, die eng mit der Frage nach der Wahrheit religiöser Vorstellungen verbunden ist. Im zweiten Teil dieses Beitrags werde ich Cassirers
Einsichten auf einige zentrale Glaubensinhalte des Christentums anwenden.

 

Der Schnitt

 

Die Kreativität des mythischen Denkens führte nach Cassirer in eine Krise. Es entstanden immer mehr und immer ausdifferenziertere mythische Bilder der Wirklichkeit. So kam es früher oder später zu Konflikten, weil sich diese Vielfalt nicht mehr harmonisieren ließ. In dieser Situation mussten die Menschen über die Mythen und deren Entstehung nachdenken. Aus dieser Reflexion entstand, so Cassirer, die Religion.

„Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: indem sie sich der sinnlichen Zeichen und Bilder bedient, weiß sie sie zugleich als solche, – als Ausdruckmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ‚hinweisen‘, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.“ (ECW 12, 280)

Unter den Zeichen und Bildern versteht Cassirer hier die gesamte Welt der Mythen, ihre Geschichte, Riten, Tänze, Opfer und Vorstellungen. Es läge nahe, den von Cassirer genannten Schnitt als Abkehr von all diesen sinnlichen Zeichen zu verstehen. Doch genau dies geschieht nicht. Viel mehr ist davon die Rede, dass „die Religion sich der sinnlichen Zeichen und Bilder bedient“. Wenn diese erhalten bleiben, muss der Unterschied zwischen Mythos und Religion woanders liegen als in der Zurückweisung der Bilder: im Umgang mit ihnen. Anders als das mythische Denken weiß die Religion, dass die Zeichen und Bilder Zeichen und Bilder sind. Will heißen: Religiöse Menschen haben erkannt, dass sie diese hervorgebracht haben. Im Mythos waren Zeichen und Bezeichnetes identisch. Ich erinnere an die Donar-Eiche. In der Religion sind Zeichen Hinweise auf das Bezeichnete. Dieses Bezeichnete nennt Cassirer „Sinn“ und fügt direkt hinzu, dass dieser Sinn in der Religion mit ihren Zeichen und Bildern niemals vollständig erfasst wird. Eine solche Nutzung mythischer Bilder (nicht mythischen Denkens) hält Cassirer für die Religion nicht nur möglich, sondern notwendig. Sie kann dieser Bilder „nicht entraten“ (ECW 11, 48).

Es ist interessant, dass sich Cassirer an dieser Stelle eines spezifisch religiösen Begriffs bedient, wenn er von der „offenbarenden“ Kraft der menschlichen Bilder spricht. Damit kann hier nicht gemeint sein, dass bestimmte Inhalte, Dogmen und Normen übermittelt werden. Die gemeinte Offenbarung hat eher mit Öffnung zu tun. Die Zeichen öffnen einen Horizont, in dem ein Mensch sich und die Welt neu verstehen, sich verorten kann. Er erkennt einen Sinn und weiß gleichzeitig, dass der ihm eröffnete Horizont damit bei weitem nicht erfasst ist. Er kann sich in diesem Horizont bewegen, gar neue Horizonte entdecken. Der Preis für diese Freiheit ist der Verlust der Gewissheit, die der Mythos bot.

Für Cassirers Philosophie der symbolischen Form hat der dargestellte Schnitt, der die Religion vom Mythos trennt, weitreichende Bedeutung. Erst wenn zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen sinnlichem Zeichen und geistiger Bedeutung unterschieden wird, ist eine Vielfalt symbolischer Formen möglich. Das mythische Denken dagegen erhebt den Anspruch einer umfassenden und eindeutigen Wahrheit. Es kann nach Cassirer keine anderen Formen des Weltverstehens neben sich dulden. Erst die Anerkennung von Vieldeutigkeit und Freiheit ermöglicht eine
Pluralität von Deutungen.

Doch keine symbolische Form ist davor gefeit, ins mythische Denken zurückzufallen. Das geschieht immer dann, wenn ein spezifisches Denken behauptet, das allein richtige und wahre zu sein. Einen solchen Standpunkt vertreten können ein Naturwissenschaftler wie eine Künstlerin, ein politisch wie ein weltanschaulich Überzeugter. Sie alle denken, so könnte es Cassirer sagen, mythisch. Wie man dieser Gefahr entgeht, lässt sich schon von Platon lernen. Er gab, wie bereits dargestellt, den mythischen Erzählungen wie der rationalen Vernunft ihren Platz. Scheinbar paradox bediente er sich mythischer Bilder, ohne mythisch zu denken.

Auf diesem Fundament der Philosophie Cassirers werde ich im Folgenden versuchen, das Verhältnis von Mythos und Wahrheit mit besonderem Blick auf die christliche Theologie zu bestimmen.

 

Begrenztheit und Offenheit

 

Cassirer spricht davon, es könne der Religion niemals gelingen, den Sinn, auf den sie hinweist, „zu erfassen und auszuschöpfen“. Diese These scheint in direktem Widerspruch zu dem Wahrheitsanspruch zu stehen, den das Christentum, speziell die kirchliche Dogmatik, erhebt. Doch bei genauerem Hinsehen sind in der Bibel und in der theologischen Tradition zahlreiche Texte zu finden, die die Begrenztheit menschlicher Gedanken und Vorstellungen von Gott und seiner Wirklichkeit betonen. An einige von ihnen sei hier kurz erinnert.

Prominent ist das zweite Gebot des Dekalogs. „Du sollst Dir kein Gottesbild machen“ (Ex 20,4 und Dt 5,8). Zu seiner Entstehungszeit diente dieses Gebot der Abgrenzung Israels von den Religionen seiner Nachbarvölker, in denen von Menschen gefertigte Götterbilder zentrale Bedeutung hatten. Intern war es eine Kritik an den auch in Israel verbreiteten Darstellungen Jahwes, nicht selten begleitet von seiner Gefährtin Aschera. Doch bald schon wurde das Verbot, materielle Götterbilder herzustellen, ausgedehnt und fokussiert auf jede Gottesvorstellung, die behauptete, Gott erfassen und definieren zu können. Gott ist menschlichem Denken unverfügbar. So betont es auch die ebenfalls in der Thora zu findende Warnung Gottes: „Kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben“ (Ex 33,20).

Auch im Neuen Testament finden sich Hinweise auf die Unfassbarkeit Gottes. Man denke etwa an eine Bemerkung im Markusevangelium: „Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen; seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war“ (Mk 4,34). Deutlicher noch: „Niemand weiß, wer der Sohn ist, nur der Vater, und niemand weiß, wer der Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will“ (Lk 10,22). Die beiden zitierten Verse lassen die Spannung erkennen, in der der Glaube an Gott in biblischem Verständnis immer steht. Die Unfassbarkeit Gottes und die als Offenbarung geglaubten menschlichen Vorstellungen von Gott sind ebenso gegensätzlich wie untrennbar verbunden.

Der sogenannte Bilderstreit begleitet fast die gesamte Kirchengeschichte. Es wird darüber gestritten, ob Gott, Christus oder wenigstens Heilige bildlich dargestellt werden dürfen. Die Gegner solcher Darstellungen berufen sich auf das alttestamentliche Bilderverbot. Die Befürworter verweisen darauf, dass doch bereits in der Bibel Jesus als „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) bezeichnet wird. Schließlich habe der als Christus geglaubte Jesus eine irdisch sichtbare Gestalt gehabt. In den meisten kirchlichen Traditionen setzte sich die Verwendung von Bildern durch. Zum Streitpunkt wurde nun der rechte Umgang mit den Bildern. Papst Gregor I. fand im Jahr 600 die Lösung, dass Bilder verehrt, aber nicht angebetet werden dürfen (Denzinger / Hünermann 1991, Nr. 477). Diese Regelung bestätigte das zweite Konzil von Nicäa im Jahr 787 (Denzinger / Hünermann 1991, Nr. 600–607). Das bedeutet, im Anschluss an Cassirer formuliert, den Abschied vom mythischen Denken: Das Bild selbst ist nicht Gott und darf deshalb nicht angebetet werden; es ist ein Zeichen, das auf Gott verweist und deshalb wertgeschätzt wird.

Die kirchliche Praxis weist bis heute ein denkbar breites Spektrum auf. Es reicht von den bayerischen Barockkirchen, die vor Bildern überquellen, bis zu den Kirchenräumen der reformierten Kirche, in denen keinerlei Bilder zu finden sind und das Kreuz – immer ohne Corpus – das einzige Zeichen ist, das auf Christus verweist.

Ebenfalls schon in der Antike begann die Strömung der negativen Theologie. Sie geht davon aus, dass positive, Gott mit Eigenschaften versehende Aussagen nicht möglich sind. Diese müssten stets bestritten werden. Einen weniger radikalen Gebrauch von Zeichen, Bildern und Vorstellungen erlaubt die sogenannte Analogielehre. Ihr zufolge darf man Gott Eigenschaften zuschreiben. Dafür stehen uns aber nur menschliche Begriffe und Vorstellungen zur Verfügung. Wenn solche Begriffe aber auf Gott angewendet werden, ist die Unähnlichkeit stets erheblich größer ist als die Ähnlichkeit ihrer jeweiligen Bedeutung. Gottes Liebe ist von der menschlichen Liebe weit stärker unterschieden als sie ihr ähnlich ist. Trotzdem wird die Verwendung menschlicher Begriffe in Theologie und Liturgie als Hinweis auf Gott als legitim und wichtig angesehen.

Eine letzte hier anzusprechende Tradition findet sich in fast allen Religionen. Es ist die Sehnsucht nach einer intensiven Gottesbeziehung, die der Worte und Bilder nicht bedarf. Ihr Ziel ist das Beleben einer Vereinigung des frommen Menschen mit der göttlichen Wirklichkeit. Fernöstliche Meditationstraditionen streben ein solches Ziel an, im Christentum finden sie sich in der sogenannten Mystik. Doch auch die Mystiker sind, spätestens wenn sie von ihrem mystischen Erleben berichten wollen, mit der Unverzichtbarkeit wie mit der Unzulänglichkeit der Sprache konfrontiert.

Die Beispiele für das Wissen um die Begrenztheit menschlicher Rede von Gott ließen sich beliebig vermehren. Sie sind ein Stachel im Fleisch der Vertreter einer Wahrheitsgewissheit, die sie mit Verweis auf die göttliche Offenbarung vertreten. Wer diesen Wahrheitsanspruch einschränken will, wird bezichtigt, die Wahrheit des Glaubens der Beliebigkeit zu opfern. Damit steht erneut die Pilatus-Frage im Raum: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38).

In der Religionsdefinition von Cassirer kommt der Begriff von Wahrheit nicht vor. Doch er lässt sich meines Erachtens aus ihr ableiten. Die Wahrheit ist der letzte Zielpunkt des von Cassirer so genannten Sinns, auf den die Zeichen verweisen. Ihr ist nur über den Weg vielfacher Bedeutungen näher zu kommen.

 

Erprobungen

 

Abschließend möchte ich an vier markanten und kontrovers diskutierten Beispielen die bisherigen Überlegungen konkretisieren. Das heißt, ich werde an den Fragen der Verbindlichkeit der Bibel, der Schöpfungsberichte, der Gegenwart Christi in der Eucharistie und der Auferweckung Jesu prüfen, welchen Sinn diese Zeichen „offenbaren“.

 

Die Verbindlichkeit der Bibel

Es zeichnet die Schriftreligionen aus, dass sie ihre heiligen Bücher als verbindliche Grundlage und Norm ihres Glaubens ansehen. Wie lässt sich diese Normativität religiöser Texte mit der von mir betonten Pluralität von Deutungen vereinbaren? Im Folgenden werde ich mich auf die Bibel als Heilige Schrift von Juden und Christen beschränken, obwohl die muslimische Koranhermeneutik genau so interessant und der jüdischen und christlichen Tradition nah verwandt ist.

Die Bibel ist eine Sammlung von Texten, die, berücksichtigt man ihre ältesten Quellen, im Lauf von mehr als tausend Jahren entstanden sind. Viele dieser Texte sind während ihrer Überlieferung mehrfach überarbeitet worden. In beiden Religionen kam es ab der Zeitenwende zu Prozessen der Kanonbildung, die nicht vor dem 4. Jahrhundert, zum Teil erst viel später abgeschlossen war. Die so festgelegte Sammlung von Schriften, zu der natürlich nur für Christen auch das Neue Testament gehört, wird von den Gläubigen als Heilige Schrift anerkannt. In der westkirchlichen Tradition wird die Heilige Schrift als norma normans non normata bezeichnet, als höchste verbindliche Norm, die von Gott gegeben ist. Sie ist der letzte Maßstab des Glaubens, der nicht noch einmal – etwa vom kirchlichen Lehramt – gemessen werden kann. Muss vor diesem Hintergrund ein gläubiger Mensch alles bisher Gesagte, vor allem die Betonung der Vieldeutigkeit nicht strickt ablehnen?

Zunächst sei auf ein unbestreitbares Faktum hingewiesen. Die Bibel bleibt nur lebendig, indem sie gelesen wird. Lesen aber heißt zwangsläufig Interpretieren. Denn jeder Lesende hat einen eigenen Erfahrungshintergrund und wird das Gelesene in diesen einfügen. Zugespitzt gesagt: Jede und jeder liest die Bibel auf eigene individuelle Weise. Mit Cassirer gesagt: Die sinnlichen Zeichen, also die Buchstaben der Schrift, werden mit vielfältigen Bedeutungen verknüpft. Daraus entstehen Gruppen und Konfessionen, in denen Menschen zusammenfinden, die ein ähnliches Verständnis der Bibel haben und sich strikt, nicht selten gewaltsam, von anderen Gruppen abgrenzen. Es ist nicht die Frage, ob es diese Vielfalt gibt, sondern allein die Frage, wie mit ihr umzugehen ist.

Um individualistische Beliebigkeit zu vermeiden, wird von allen jüdischen und christlichen Überzeugungen verlangt, Rechenschaft darüber zu geben, wieso man die eigenen Glaubensvorstellungen als legitime Interpretation der Bibel ansehen kann. Zu prüfen ist sodann, ob und wie man die je anderen Deutungen tolerieren, gegebenenfalls sogar wertschätzen kann. Sinnlos dagegen wäre die Frage, was denn nun wirklich in der Bibel steht. Denn die Antwort darauf wäre selbst wieder eine mögliche Interpretation unter anderen.

Für eine solche, Vielfalt erlaubende Schriftdeutung hat sich im Judentum früh eine bemerkenswerte Tradition entwickelt. Der Talmud, entstanden ab dem 4. Jahrhundert u. Z., ist eine in zwei Versionen vorliegende Sammlung von Interpretationen der Thora. Auf den großformatigen Buchseiten befinden sich in der Mitte jeweils kurze Textabschnitte aus der Mischna und Gemara, die ihrerseits erzählende Deutungen der Thora sind. Eingerahmt werden diese tradierten Texte durch deren erneute Interpretationen, die von angesehenen Gelehrten stammen. Auch widersprüchliche Deutungen stehen friedlich nebeneinander. So entstand ein beziehungsreiches Geflecht an Gedanken. Gleichwohl wurde über diese Vielfalt heftig gestritten. Eine Legende erzählt, dass in einen solchen Streit Gott selbst eingegriffen habe, um die richtige Interpretation durchzusetzen. Sofort haben sich die Streithähne verbündet und waren sich einig, dass Gott sich aus der Interpretation seiner Offenbarung herauszuhalten habe. Eine rabbinische Tradition geht sogar so weit, dass sie die menschlichen Deutungen der Gott zugeschriebenen Thora ebenfalls als Offenbarung, als münd-
liche Offenbarung bezeichnet.

Es hat viele Jahrhunderte gedauert, bis sich die christlichen Konfessionen dazu durchringen konnten, die verschiedenen Interpretationen der Bibel positiv anzuerkennen. So paradox dies klingen mag: Die bunte, keineswegs harmonische Vielfalt der Bibelverständnisse kann die Glaubenden der Wahrheit näherbringen. Denn sie bewahrt sie davor, in ein mythisches Denken zurückzufallen, das für sich die alleinige Wahrheit reklamiert.

 

Vom Anfang

Spätestens seit Gründung der sich selbst so nennenden Fundamentalisten, eines Zusammenschlusses freikirchlicher Gruppen Anfang des 20. Jahrhunderts, tobt ein erbitterter Streit zwischen Naturwissenschaftlern und ihren christlichen Gegnern. Die einen halten auf Grundlage der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung des Kosmos, der Erde und des Menschen die biblischen Texte endgültig für widerlegt. Die anderen versuchen, die Autorität der Bibel zu verteidigen unter Verweis auf deren göttliche Autorität und alternative, angeblich ebenfalls naturwissenschaftliche Fakten. Dieser Streit beruht, nüchtern betrachtet, auf einem gemeinsamen Missverständnis, das die Gegner vereint. Beide nämlich halten den Schöpfungsbericht für eine naturwissenschaftliche Theorie. Dies ist schon aus historischen Gründen sinnlos. Gab es doch zur Zeit der Entstehung der Schöpfungsmythen noch keine Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes. Weder die religionsfeindlichen Wissenschaftler noch die Fundamentalisten erkennen, dass Naturwissenschaften und die religiösen Überzeugungen gänzlich unterschiedliche Fragen stellen und Antworten geben. Ihre Verstehenshorizonte (symbolischen Formen) sind vollkommen unterschiedlich.

Es gibt eine überzeugende Alternative zu dem so genannten Kreationisten-Streit. Sie wird gelebt von ernsthaften Naturwissenschaftlerinnen, die sich der Begrenztheit ihrer Wissenschaft bewusst sind und außerhalb der Naturwissenschaft Antworten auf ihre Fragen nach Sinn und nach Gott suchen. Sie verstehen sich gut mit gläubigen Menschen, die zugleich an Naturwissenschaften interessiert sind und darauf verzichten, Gott als Lückenbüßer für noch nicht verstandene Naturprozesse einzusetzen.

 

Sprachverwirrung: der Abendmahlsstreit

Für Katholiken sind Brot und Wein nach den Wandlungsworten in der Eucharistiefeier wirklich verwandelt in Leib und Blut Christi. Protestanten sehen Brot und Wein nur als Zeichen für die Gegenwart Christi im Abendmahl. Es dürfte nur wenige theologische Streitfragen geben, die so vielen Gläubigen bekannt waren und als Hauptgrund für die Trennung der Konfessionen angesehen wurde. Dieser Gegensatz führte dazu, dass die Protestanten die Katholiken beschuldigten, tief in mythologische Abgründe zurückgefallen zu sein. Die Katholiken dagegen hielten die Protestanten schlicht für Ungläubige.

Erst in den vergangenen Jahrzehnten ist es gelungen, diese Stereotypen zu überwinden. Am Ende intensiver Forschungen und Gespräche stellte sich heraus, dass das Problem ein sprachgeschichtliches war. In der Antike versuchten Theologen, die stark vom Denken Platons geprägt waren, zu erklären, was in der Abendmahlfeier geschieht. Ausgangspunkt waren die biblisch überlieferten Worte Jesu: dieses Brot „ist mein Leib“, dieser Wein „ist mein Blut“ (Mt 26,26–28). Verändert hat sich, so die Theologen, die Substanz von Brot und Wein. Der Begriff Substanz, wörtlich übersetzt das „Darunterstehende“, meinte das Wesen oder die Bedeutung dessen, was man sieht. Als Substanz des Brotes verstand man alltäglich dessen Nahrhaftigkeit. Zur Substanz des Weines zählten seine medizinische Wirkung, aber auch seine Kraft, Menschen zu erfreuen. Diese Substanz ändert sich, wenn Jesus – oder nach ihm die Vorsteher der Eucharistiefeier – die Einsetzungsworte sprechen. Dieser sprachliche Akt ist eine durchaus gravierende Umdeutung. Denn nun bedeuten Brot und Wein die Gegenwart Jesu in der feiernden Gemeinde. Diese „Verwandlung“ bezeichnete man mit dem folgenreichen Begriff „Transsubstantiation“. Von einer Veränderung der Materie war in diesem Verständnis der Wandlung mit keinem Wort die Rede.

So betont auch Thomas von Aquin Jahrhunderte später, dass sich Brot und Wein auf der Ebene der Materie in der Eucharistiefeier nicht verändern. Das bis heute verbreitete Loblied auf die Eucharistie, das Thomas zugeschrieben wird, drückt dies plastisch aus: „Augen, Mund und Sinne täuschen sich in dir. Unter diesem Zeichen bist du wahrhaft hier“ (Gotteslob 2013, Nr. 497).

Wenig später kam es zu dem schon erwähnten Sprachwandel, der bis heute Bestand hat. Mit dem Begriff Substanz wird zumindest im alltäglichen Sprachgebrauch nicht mehr das Wesen eines Gegenstands beschrieben. Stattdessen wird der Begriff „Substanz“ mehr und mehr gleichbedeutend mit dem Begriff „Materie“. So fragt man nach den Substanzen, die in einer Flüssigkeit enthalten sind. Diese Veränderung hatte dramatische Auswirkungen auf das Eucharistieverständnis. Vor allem die katholische Tradition nahm keine Rücksicht auf den Sprachwandel. Die Menschen waren jetzt davon überzeugt, sie müssten an die materielle Verwandlung der Gaben glauben, auch wenn es ihnen absurd erschienen sein mag. Die protestantische Seite übernahm den Sprachwandel und musste deshalb den Begriff der Transsubstantiation zurückweisen.

Für beide Seiten war allerdings noch nicht hinreichend verständlich, wie ein Zeichen Wirklichkeit vermitteln kann. Hier vermag Cassirers Betonung der engen Verbindung von Zeichen und Bedeutung neue Denkmöglichkeiten eröffnen: Die Zeichen von Brot und Wein verweisen auf die reale Gegenwart Christi, an die die Feiernden glauben, ohne sie vollständig zu erfassen. Die evangelisch-lutherische und die katholische Kirche haben wechselseitig erklärt, dass das Eucharistie- bzw. Abendmahlsverständnis kein trennendes Element zwischen den Konfessionen mehr ist (Meyer/
Pfnür 1979). Auf den heute noch andauernden Streit, wer zum Vorsitz eines Abendmahls befugt ist, kann ich hier nicht näher eingehen. Aber nur dieser Streit ist es, der der katholischen Kirche die Abendmahlsgemeinschaft mit den protestantischen Kirchen noch
unmöglich macht.

 

Auferweckung

Der jüdische Philosoph Cassirer sah – ähnlich wie Hans Jonas einige Jahrzehnte später – das Christentum vor weit größeren Schwierigkeiten als die jüdische Tradition, das mythische Denken zu überwinden. Es sei unübersehbar, dass im Neuen Testament die Berichte und Deutungen der Auferweckung Jesu wie der Toten besonders stark mythisch geprägt sind. Dennoch scheine es für den christlichen Glauben unverzichtbar zu sein, die Erzählungen von den Erscheinungen des Auferstandenen als Schilderung historischer Ereignisse zu verstehen.

Es ist in der Tat nicht zu bestreiten, dass viele Christinnen und Christen die Osterberichte des Neuen Testaments als historische Tatsachenberichte ansehen. Die Texte selbst aber halten diesem Verständnis nicht stand. Die verschiedenen Ostererzählungen sind wegen widersprüchlicher Aussagen nicht kohärent als historische Ereignisse aufzufassen. Wie soll, um nur ein Beispiel zu nennen, der Auferstandene, der durch verschlossene Türen kommt, berührbar sein und etwas essen können? Eine andere Lesart der Texte liegt näher: Nach dem Tod Jesu stürzten die Jüngerinnen und Jünger zunächst in resignierte Verzweiflung. Doch dabei blieb es nicht. Sie spürten, nicht selten plötzlich, eine ihnen geschenkte Kraft. Diese ermöglichte es ihnen, der Botschaft Jesu und seiner Aufforderung zur Nachfolge treu zu bleiben. Sie waren sich gewiss, dass Jesus selbst weiterwirkt, spürten seine Nähe und glaubten daran, dass er dauerhaft mit Gott verbunden ist. Um diese überraschenden Erfahrungen, die ihnen widerfuhren, weitergeben zu können, fehlten ihnen zunächst die Worte (Mk 16,8). Um dennoch von dem, was sie erlebten, berichten zu können, lag es im Kontext der damaligen Zeit nahe, sich mythischer Bilder zu bedienen, um das Unerwartete zu schildern. Sie lagen bereit in vielfältigen Mythen von Totenerweckungen und von einem Leben jenseits des Todes. Obwohl diese mythischen Bilder ihnen unzureichend schienen, das Erfahrene wiederzugeben, dienten sie ihnen als Hinweise auf das unfassbare Geschehene. In Cassirers Sprache: Sie hofften, dass ihre „Zeichen und Bilder […]“ auf die Wahrheit Christi hinweisen. Über die Jahrhunderte haben die Kirchen unzählige weitere Bilder geschaffen, die den Glauben an die bleibende, nie festzuschreibende Präsenz des Gekreuzigten und Auferweckten wachhalten.

 

Die Aufgabe

 

Mythos und Wahrheit. Der christliche Glaube an Gott richtet sich auf eine ungreifbare Wirklichkeit. Er bleibt in der Schwebe, ist ein Raum der Freiheit, Zweifel und Hoffnung begleiten ihn. Er ist ausgerichtet auf die Wahrheit, die er noch nicht kennt. Das mythische Denken kennt eine solche Haltung nicht. Es ist sich seiner Wahrheit gewiss, weil es zwischen Zeichen und bezeichneter Wirklichkeit nicht unterscheidet. Der Glaube weiß um diesen Unterschied. Doch noch einmal sei gesagt: Kein Glaubender ist davor gefeit, in das mythische Denken zurückzufallen. Denn es bleibt verlockend, die ersehnte Sicherheit mit dem Verlust der Freiheit zu bezahlen.

Ich schließe mit einem bemerkenswerten Satz Karl Barths: „Wir sollen als Theologen [zu ergänzen wäre: und als Glaubende insgesamt, MB] von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben. Das ist unsere Bedrängnis. Alles andere ist daneben Kinderspiel.“ (Barth 1922, 859–860)

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