Das Thema, das diese Tagung nun beschließen soll, die Frage also, inwiefern auch mit Blick auf die Flüchtlingspolitik von einem differenzierten Konsens oder einem begrenzten Dissens gesprochen werden kann, ist auf den ersten Blick schnell erledigt. Das Thema scheint eher was fürs Kleingedruckte zu sein. Lediglich in einer Fußnote findet sich etwa in Walter Leschs Buch zur Migrationsethik die Bemerkung, dass man beim Thema Migration das Wort Church im Singular benutzen könne, da es hier auf Konfessionsunterschiede nicht ankäme. Und in der Tat: Beide Kirchen haben in beeindruckend schneller Weise ihren Standpunkt innerhalb der Flüchtlingsdebatte eingenommen und gehören zu engagierten Verfechterinnen der so genannten Willkommens- und Anerkennungskultur und damit zu Unterstützerinnen der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung im Jahr 2015. Von einem Dissens erst einmal keine Spur.
Die zwei Kernfragen
Aus ethischer Perspektive lassen sich in der Flüchtlingsdebatte meines Erachtens zwei Kernfragen herausschälen, zwischen denen sich das weitläufige Feld einer stark polarisierten Debatte aufspannt: Gefragt wird erstens nach den Adressaten unserer Verantwortlichkeit, also etwa, ob es richtig ist, sich um Flüchtlinge zu kümmern, während es weitere Bedürftige im Land gibt. Gefragt wird zweitens nach den Dimensionen unserer Verantwortlichkeit. Verhandelt wird hier, wie unsere Gesellschaft auf das Schutzbedürfnis von Flüchtlingen adäquat reagieren kann, was machbar ist und wo Überforderung beginnt.
Diese beiden Fragen werden auch in kirchlichen Stellungnahmen aufgegriffen: Im Jahr 2013 setzte Papst Franziskus mit seiner ersten Reise als Pontifex ein unmissverständliches Zeichen. Im Angesicht der vielen im Mittelmeer ertrunkenen Menschen übte der Papst auf Lampedusa scharfe Kritik an Europa – und das zu einer Zeit, als noch keine Boote mit Geflüchteten tagelang vor europäischen Küsten herumirrten, weil sie kein Hafen aufzunehmen bereit war. Seitdem fordert Franziskus Barmherzigkeit und Mitgefühl gegenüber Geflüchteten, eine Willkommenskultur, die Achtung ihrer Würde als Personen, die Einhaltung der Menschenrechte. Im Laufe der Zeit systematisiert der Papst sein Anliegen in vier Imperativen: aufnehmen, schützen, fördern und integrieren! An ihnen orientieren sich auch die 20 Handlungsschwerpunkte, die der Papst mit Blick auf die beiden Global Compacts der Vereinten Nationen formuliert. In seiner jüngsten Botschaft zum katholischen Welttag des Migranten und des Flüchtlings stellt Franziskus schließlich sehr konkrete Forderungen auf: Er spricht sich für humanitäre Korridore und Familiennachzug aus, verlangt Zugang zum Arbeitsmarkt schon für Asylbewerber und Einbürgerungserleichterungen. Beim Thema Grenzkontrollen müsse die Sicherheit der Schutzsuchenden Vorrang vor der nationalen Sicherheit haben, so der Papst. Auch die katholische Kirche hierzulande versteht sich als Anwältin der Flüchtlinge. Die deutschen Bischöfe vertreten eine Politik der Offenheit gegenüber Geflüchteten. Sie plädieren für die Aufnahme von Schutzbedürftigen, ihre menschenwürdige Behandlung, faire Asylverfahren und die Bekämpfung von Fluchtursachen. Das Mittelmeer dürfe nicht zur Todeszone werden. Und die Bischofskonferenz bekennt sich zu der vom Papst geforderten Globalisierung der Nächstenliebe als christliche Antwort auf die Globalisierung der Gleichgültigkeit. Konfessionelle Differenzen in der Flüchtlingsfrage fallen nicht ins Auge. Anders als bei bioethischen Fragen, etwa zuletzt im Hinblick auf den nicht-invasiven Pränataltest (NIPT), scheint es mit Blick auf Fragen jenseits der individuellen Lebensführung eher weniger Dissens zu geben, was sich auch in der Studie der Bilateralen Arbeitsgruppe zeigt. Im Themenbereich Kinderarmut und Bildung ist von großen Gemeinsamkeiten die Rede. Mit Blick auf offizielle kirchliche Verlautbarungen zur Flüchtlingsdebatte kann hier zu Lande ebenso von einem breiten Konsens gesprochen werden – und viele haben die entschiedene Positionierung der Kirchen begrüßt.
Aber: Die Haltung der Kirchen stößt auch auf scharfe Kritik – von innen und von außen. So stellt Heimbach-Steins fest: „Zwar vertritt die große Mehrheit etwa katholischer Sozialethikerinnen und Sozialethiker differenzierte Positionen einer menschenrechtlich und kosmopolitisch ausgerichteten Migrationsethik, zugleich wird aber von einigen theologischen – sowohl katholischen wie protestantischen – Stimmen teils harsche Kritik an einem Kurs laut, der mit biblischen und sozialethischen Argumenten zugunsten einer offenen, nationale Grenzen überwindenden, die Rechte der Menschen unterwegs achtenden und aufnahmebereiten Herangehensweise argumentiert.“ Warum wird der migrationsfreundliche Kurs der Kirchen mitunter so hart angegangen? Kommentatoren sprechen mit Blick auf die Kirchen von einer Art „außerparlamentarischer Opposition“ (Claudia Keller), einer „christlich inspirierten Antifa“ (Frank Drieschner), prangern an, dass Kirchenvertreter zu Parteifunktionären würden und beklagen einen überschießenden Moralismus, der alle Andersdenkenden, alle Skeptiker bezüglich offener Grenzen exkludiere. Auf die Moralisierung von Religion wird äußerst allergisch reagiert.
Bevor ich einige neuralgische Punkte dieser Debatte aufgreife, möchte ich die Analyse noch mit Blick auf unser Thema Ökumene weiter vorantreiben: Könnte es sein, dass die große ökumenische Einmütigkeit, die per se natürlich zu begrüßen ist, umso mehr, weil sie in anderen ethischen Konfliktzonen zuweilen schmerzlich vermisst wird, dass diese ökumenische Einmütigkeit im Bereich der Migrationsethik eine nicht zu unterschätzende Schlagseite offenbart? Meine Vermutung, die zu diskutieren wäre, ist, dass der breite kirchliche Konsens über die Konfessionsgrenzen hinweg Moralisierung begünstigt. Offensichtlich wurde vor lauter Einigkeit die Notwendigkeit nicht gesehen, dass die guten und überzeugenden theologischen Argumente, die für eine Offenheit gegenüber den Fremden sprechen, auch stark gemacht und vermittelt werden müssen. Thomas Söding hat in seinem Vortrag bilanziert, dass die Studie die Erwartung kritisiere, dass die Menschenwürde sich in direkte politische Imperative übersetzen lasse. Das tut sie natürlich zu recht. Nur muss man dann auch fragen, ob die Menschenwürde als Konsensgarantin taugt. Gegner und Befürworter etwa der aktiven Sterbehilfe berufen sich auf die Menschenwürde.
Zurück zur Flüchtlingsfrage: Der konfessionsindifferente Konsens sieht sich mit einem harschen Dissens konfrontiert, der sich konfessionell nicht orten lässt. Soweit ich das beurteilen kann, vollzieht sich Ähnliches auf evangelischer wie auf katholischer Seite. Es kommt zu heftigen Debatten, unter Theologinnen und Theologen, aber vor allem auch unter dem Kirchenvolk. Tiefe Gräben gehen „mitten durch Kirchengemeinden, in denen das Spektrum der auch sonst in der Bevölkerung vorhandenen Haltungen zu Flüchtlingen zu beobachten ist.“ Das wird von kirchlicher Seite wahrgenommen. Die Kirchen üben sich mittlerweile in Selbstkritik, sprechen von mangelhafter Vermittlung ihrer Position, beklagen, dass diese von vielen als Durchhaltparole missverstanden worden sei, so pointiert etwa der EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm im November 2017. Was lehrt uns diese Auseinandersetzung im Hinblick auf die Fragen der Ökumene? Der Konsens in offiziellen kirchlichen Verlautbarungen wird von einem Dissens auf theologischer Ebene, aber nicht nur dort, sondern vor allem auch auf Gemeindeebene unterspült. Dabei könnte ein offenes Ringen um das bessere Argument sich als wirksames Antiserum gegen Moralisierung erweisen. Der Austausch rationaler Argumente, „kommunikative Pluralität“, ist notwendig, wenn der Diskurs nicht umschlagen soll.
Die drei Baustellen
Ich möchte Ihnen gern in aller Kürze wenigstens drei der Baustellen vorstellen, an denen man darum ringen müsste, die besseren Argumente zu finden. Es sind neuralgische Punkte, an denen sich die Kontroversen entzünden. Auf einer ersten Baustelle werfen Kritiker der kirchlichen Position hermeneutische Defizite in der biblischen Begründung vor. Hinsichtlich der Frage nach einer Rangfolge von Verantwortlichkeiten in der Flüchtlingsfrage wird intensiv etwa über unterschiedliche Lesarten des Gebots der Nächstenliebe diskutiert. Kurz gesagt geht es um die Frage, ob das Gebot der Nächstenliebe Vorzugsregeln impliziere. Grundsätzlicher könnte man sagen, dass das Thema Migration als biblisches Thema par excellence in besonderer Weise die Frage provoziert, wie christliche Ethik überhaupt ihre biblische Verankerung hermeneutisch einholt. Eine Frage, um die theologisch offenbar nach wie vor gerungen wird, gerungen werden muss.
Die zweite Kernfrage nach den Dimensionen der Verantwortlichkeit mündet derzeit in eine Kontroverse um Gesinnung und Verantwortung, eine zweite Baustelle. Hier wird an eine Diskussion angeknüpft, die zurückreicht in die großen Auseinandersetzungen um normative Begründungsfragen innerhalb der Moraltheologie. Gefragt wird etwa, ob es nicht gute moraltheologische Tradition sei, teleologisch zu argumentieren. Konstatiert wird, dass „teleologische gegenüber der deontologischen Argumentation in die Defensive geraten“ sei und deshalb „ein diskursives Vakuum entstanden [sei], in das zum Teil rechtsextreme Positionen eingedrungen sind, die mit christlicher Ethik nicht mehr zu vereinbaren sind“ – so Schwienhorst-Schönberger. Hier scheint es Klärungsbedarf zu geben.
Die Debatte wird schließlich auf einer dritten Baustelle durchzogen von einer tief reichenden Auseinandersetzung über das Verhältnis von Religion und Politik. Die Flüchtlingsdebatte macht damit die seit langer Zeit schwelende Frage nach dem Zusammenhang von Theologie und Politik zu einer offenen Kontroverse. Es geht dabei um das Selbstverständnis christlicher Theologie im Hinblick auf die Frage nach ihrem politischen Potential. Mit der Migrationsdebatte brechen diese Fragen in lange nicht mehr dagewesener Schärfe hervor, und die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Auseinandersetzung über die politische Relevanz der Theologie wird meines Erachtens nun sichtbar. Es herrscht Uneinigkeit, sowohl innerhalb der katholischen als auch der evangelischen Kirche. Dabei irritiert eine Theologie, die sich wissenschaftlich oder kirchlich artikuliert und dabei politisch positioniert, viele – nicht nur Nicht-Christen. Die Flüchtlingsdebatte, die sich an ethisch unterschiedlich bewerteten Streitfragen entzündet hat, erfährt offenbar eine erhebliche Verschärfung, wenn theologisch argumentiert wird. Der Eindruck könne entstehen, so Lesch, „dass mit einer ‚Theologie der Migration‘ noch stärkere ideologische Geschütze aufgefahren werden als mit der ethischen Argumentation, die kompliziert genug ist“. Theologisierung der Debatte und Ideologisierung werden in einem Atemzug genannt. Von einer „Politisierung des Christentums“ (Schwienhorst-Schönberger) ist die Rede, im Gestus des Vorwurfs. Befürchtet oder unterstellt wird, dass Theologie, die sich als politische Theologie verstehe, auch Politik machen wolle, dass sie sich parteipolitisch instrumentalisieren lasse.
Den Verfechtern einer sich politisch verstehenden Theologie ist daran gelegen, hier Klarstellungen vorzunehmen. Einer Theologie, die sich als politische begreife, gehe es darum, die Zeichen der Zeit (GS 4) wahrzunehmen und die christliche Botschaft unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen für die Menschen von heute zu formulieren und zu deuten. Konzediert wird, dass sich christliche Ethik dabei nicht durch parteipolitische Interessen vereinnahmen lassen dürfe. Es sei ein Trugschluss, wenn das Eintreten für eine weniger offene Migrationspolitik nicht als ‚politisch‘ identifiziert würde. Es gehe darum, die Option für Gerechtigkeit und Solidarität stark zu machen und einzubringen. Aufgabe der Theologie sei es aber nicht, unmittelbar anwendbare politische Rezepte zu liefern.
Summary
Ich komme zum Schluss. Klar geworden ist, dass der Dissens in der Flüchtlingsthematik nicht entlang der Konfessionsgrenzen verläuft. In aller Kürze habe ich drei Baustellen besichtigt, die in der Flüchtlingsdebatte theologisch kontrovers diskutiert werden. Angesichts der Fragen nach dem Verhältnis von Religion und Politik, der Überzeugungskraft normativer Begründungstheorien und einer biblischen Hermeneutik, ist „kommunikative Pluralität“ gefragt – wie es die Studie nennt. Hier muss um das bessere Argument gerungen werden. Und das impliziert, dass sich die Kirchen stärker mit den Vermittlungsproblemen auseinandersetzen müssen. Nur die offene argumentative Auseinandersetzung mit den Differenzen schützt vor Moralisierung. Die Studie Gott und die Würde des Menschen selbst schlägt vor, „die Unterschiede nicht nur als Probleme“ zu sehen, die gelöst werden müssen, sondern vielmehr als „mögliche Lösungen, die zur wechselseitigen kritischen Hinterfragung der jeweils eigenen Position anregen und dadurch Alternativen generieren“ können. (Nr. 263) Die Wahrnehmung von Unterschieden in der Flüchtlingsfrage könnte so auch mit Blick auf andere ethische Konfliktzonen als Chance wahrgenommen werden, um argumentative Stringenz und Überzeugungskraft zu erzeugen, moralische Urteils- und Handlungsfähigkeit zu erhalten und nicht in Moralisierungen abzugleiten. Insgesamt würde das eine größere Gelassenheit gegenüber dem Dissens fördern: er scheint mir fruchtbarer zu sein als gedacht.
Mit Blick auf die Studie lässt sich vor dem Hintergrund der Flüchtlingsfrage aber meines Erachtens auch noch eine weitere Herausforderung benennen, die ich nur andeuten möchte. Die Option für Menschlichkeit (Studie 266) wird als gemeinsames Fundament für den ökumenischen Konsens verstanden. „Unterschiede bei der Anwendung ethischer Prinzipien“ (so im Vorwort) seien höchstens als Anzeichen für einen begrenzten Dissens zu werten. Beim Thema Flüchtlinge sticht allerdings ins Auge, dass die Antworten auf die Frage, like the Option für Menschlichkeit in die Tat umgesetzt werden soll, doch sehr divergent ausfallen. Die Flüchtlingsdebatte zeigt insofern besonders eindrücklich, dass der Rekurs auf Menschenwürde immer erst noch seine eigentliche Feuerprobe bestehen muss: ein Schicksal, das dieses Prinzip mit anderen Prinzipien teilt, die stets auf ihre handlungsleitende Relevanz befragt werden müssen. In vielen bioethischen Debatten etwa nehmen ja auch sich zutiefst widerstreitende Parteien gleichermaßen Bezug auf das Menschenwürde-Argument. Das heißt, man muss schon genau hinsehen, wie die Option für Menschlichkeit verstanden und interpretiert wird. Und das erweist sich eigentlich erst daran, wie Menschenrechte ganz konkret anerkannt, geachtet und gewährleistet werden. Das wird an der Flüchtlingsfrage besonders gut sichtbar.