I.
„Verflucht ist der Erdboden (ʼadāmāh) um deinetwillen; mit Beschwernis sollst du ihn (=seine Früchte) essen alle Tage deines Lebens. Und Dornen und Dorngestrüpp wird er dir hervorsprossen lassen, und du sollst das Grün (Kraut) des Feldes essen. Im Schweiß deines Angesichts wirst du Brot essen bis zu deiner Rückkehr zum Erdboden (ʼadāmāh), denn vom ihm bist du genommen worden. Ja, Staub bist du und zum Staub wirst du zurückkehren“ (Gen 3,17-19).
Mit diesem Strafspruch über den Menschen kommt die Geschichte vom Garten Eden zu ihrem Ende, und gleichzeitig kommt sie in der harten Realität des palästinischen Ackerbauern an: Was am Anfang der Schöpfungserzählung in Gen 2 noch als „Manko“ der Welt erscheint – dass nämlich kein Mensch da ist, um den Erdboden zu bebauen (Gen 2,5) – , erfüllt sich jetzt: dem Menschen, hebräisch „ʼādām“, dem „vom Erdboden Genommenen“, wird die Aufgabe erteilt, den Erdboden, Hebräisch „ʼadāmāh“, zu bebauen (Gen 3,23). Allerdings ist es nicht mehr die Arbeit in einem Lustgarten mit Obstbäumen, sondern mühevolle Plackerei in der unwirtlichen und kargen Welt – „östlich von Eden“ (Gen 3,24), in der der Ackerbauer dem Boden den Ertrag abtrotzen muss. Denn: „Verflucht ist der Erdboden um deinetwillen.“ Insbesondere die Nennung der „Dornen und Disteln“, von denen es über 20 Arten in Palästina gibt, lässt erahnen, welche mühevolle Arbeit dem Menschen bevorsteht: Dornen und Disteln ersticken die Saaten (vgl. Mk 4,7) und müssen unter großen Anstrengungen herausgerissen werden, um ein Feld zu bewirtschaften. So erschließt sich der Sinn des Verses 19: „Im Schweiß deines Angesichts wirst du dein Brot essen.“
Auch im Strafspruch an die Frau zeigt sich die Realität des antiken Palästina: „Zur Frau sprach er: Ich werde wahrlich die Beschwerden deiner Schwangerschaft groß machen, mit Schmerz wirst du Kinder gebären und zu deinem Mann hin wird dein Verlangen sein, er aber wird über dich herrschen“ (Gen 3,16).
Das Leben der Frau wird von Mühsal geprägt sein – der biblische Text verwendet hier sogar zweimal denselben Wortstamm „ʽaeṣeb/ōn“, „Beschwernis, Mühsal“ wie beim Spruch über Adam: Ihre „Frauenmühsal“ soll die Geburt der Kinder sein, die nur „unter Schmerzen“ erlitten wird. In einer Gesellschaft, in der Kinder, vor allem Söhne, unerlässlich für die Arbeit und die Altersversorgung waren, Kinder also eine Art „Lebensversicherung“ darstellten, war eine Großfamilie, das heißt viele Geburten, das Normale, und somit diese Mühsal groß und auch lebensbedrohlich. Doch noch eine zweite Mühsal tritt hinzu: War nach der Schöpfungserzählung in Gen 2 die Frau eine „Hilfe, die ihm entspricht“, „(s)ein Gegenstück“ für Adam, das er freudig begrüßt und um derentwillen er, der Mensch, Vater und Mutter verlassen wird (Gen 2,23f), so sind am Ende der Geschichte vom Garten Eden die Verhältnisse umgekehrt: Die Verbundenheit zwischen Mann und Frau auf Augenhöhe ist aufgebrochen. Die Frau soll in ihrem Verlangen ganz auf den Mann ausgerichtet sein, der Mann aber soll über sie herrschen. Hier wird die übergeordnete Stellung des Mannes in der patriarchalen Gesellschaft des antiken Palästina offenbar, die dem Mann als „pater familias“ die Verfügungsgewalt auf allen Gebieten, vom rechtlichen bis zum sexuellen, zugesteht. Die Frau ist ganz auf das Wollen des Mannes angewiesen: er ist der bestimmende Partner.
Diese Strafsprüche über die Frau und den Mann, die die Realität menschlichen Lebens abbilden – es sind im Gegensatz zu den Versen über die Schlange keine Verfluchungen –, lassen zweierlei erkennen:
- Sie wollen die Realität der Menschen, für die diese Geschichte geschrieben wurde, erklären: die Mühsale, die ihr Leben ausmachen und beschweren. Erklären, warum ihre Welt ist, wie sie ist. Erklären, wie es kommt, dass ihr Leben so hart ist. Diese Erklärung ist das Ziel der Geschichte vom Garten Eden, und von diesem Ziel/Ende muss die gesamte Erzählung gelesen und verstanden werden.
- Wie die hier schon angedeuteten engen literarischen Anspielungen und Bezugnahmen von Gen 2 „Schöpfung“ und Gen 3 „Vertreibung aus dem Garten Eden“ deutlich werden lassen, müssen beide Kapitel als ein Erzählzusammenhang gelesen werden, der als spannungsvolle Einheit verstanden werden will. Die Wirklichkeit vom Menschen und seiner Frau wird entfaltet und erklärt vor dem Hintergrund der Schöpfungsgeschichte in Gen 2, in Spannung zu den idealen Möglichkeiten, die verloren sind: Aus der innigen Beziehung zwischen dem Adam und seiner Frau wird eine hierarchisch strukturierte Abhängigkeit der Frau vom Mann. An die Stelle des Lustgartens als Lebenswelt tritt eine karge Dornenlandschaft, der das Brot zum Leben abgerungen werden muss. Aber man täte der Erzählung Unrecht, wenn man sie nur in eine Richtung lesen würde: Man versteht die Komplexität der Erzählung erst, wenn man sie vom Ende her neu liest.
II.
Das spannende und vielleicht nie ganz ausgeschöpfte Sinnpotential dieser Geschichte vom Garten Eden besteht darin, wie diese Entwicklung von paradiesischen zu realen Verhältnissen erzählt wird, wie beides miteinander verknüpft ist und welche Facetten und Ambivalenzen des Menschseins auf diese Weise deutlich werden. Wenden wir uns also dem oft als „Sündenfall“ – an dieser Stelle muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass der Begriff „Sünde“ in Gen 2-3 nicht verwendet wird – bezeichneten Geschehen am Anfang des Kapitels zu:
„Und die Schlange war klüger als alles Lebendige des Feldes, das JHWH Gott gemacht hatte, und sie sagte zu der Frau: „Sollte Gott etwa gesagt haben: ‚Ihr sollt nicht essen von jedem Baum des Gartens!‘?“ Und die Frau sagte zur Schlange: „Von den Früchten der Gartenbäume (sg.) essen wir, aber von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Garten (ist), hat Gott gesagt: nicht sollt ihr essen von ihm und nicht sollt ihr ihn berühren, damit ihr nicht sterbt. Da sagte die Schlange zur Frau: „Ihr werdet wahrhaftig nicht sterben!“ Denn ein Wissender ist Gott, dass an dem Tag, an dem ihr esst von ihm, dann werden eure Augen geöffnet werden und ihr werdet sein wie Gott, Erkennende des Guten und Bösen. Und die Frau sah, dass der Baum gut war zur Speise und dass er (etwas) Begehrenswertes für die Augen war und dass der Baum begehrenswert/köstlich war, um klug zu werden/Einsicht zu haben, und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab auch ihrem Mann bei ihr und er aß“ (Gen 3,1-6).
Mit der Schlange tritt ein Wesen in die Erzählung ein, mit dem im Alten Orient wie auch an einigen Stellen im Alten Testament vielerlei Assoziationen verbunden werden: Die Schlange wird oft der göttlichen Sphäre zugerechnet, sie gilt als weise, und ihr wird wegen ihrer Häutung eine enge Verbindung zur Unsterblichkeit zugestanden. In der Erzählung vom Garten Eden wird die Schlange explizit als von Gott geschaffen und mit Klugheit ausgestattet bezeichnet, eine widergöttliche Macht stellt sie nicht dar. Ihre Besonderheit hat die Schlange in Gen 3 nicht nur durch ihre Sprachfähigkeit, die sie deutlich von „normalen Tieren“ abhebt, sondern durch ihre Klugheit, hebräisch „ʽarūm“. Hier weist der hebräische Text ein interessantes Sprachspiel auf. Denn der Begriff für „nackt“, hebräisch „ʽarōm“, in Gen 2,25 („Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau“) hat dieselbe Konsonantenfolge, klingt also für hebräische Ohren sehr ähnlich, das heißt Klugheit und (die Erkenntnis) der Nacktheit werden hier eng miteinander verbunden. Es wird schon am Anfang auf der Erzählebene vorweggenommen, dass die Klugheit der Schlange die Menschen dazu (ver)führen wird, ihre Nacktheit zu erkennen. Doch davon ahnt die Frau, mit der die Schlange das Gespräch sucht, nichts.
Dass hier die Frau zur Gesprächspartnerin der Schlange wird, hat über Jahrhunderte bis in wissenschaftliche Kommentare hinein zu vielen frauenfeindlichen Schlussfolgerungen geführt: Die Frau sei „begehrlicher“ (H. Gunkel) als der Mann oder leichter verführbar oder gar selbst als große Verführerin (L. Ruppert) anzusehen. Doch dass am Anfang von Gen 3 die Frau als Handelnde erscheint, lässt sich durchaus aus dem Erzählverlauf verstehen. Nachdem in Gen 2 Adam seine Entsprechung in der Frau gefunden hat, steht nun die Frau als Protagonistin im Mittelpunkt der Erzählung. Allerdings spricht die Frau nie nur für sich (V. 2f), sondern immer im inklusiven „wir“, das der Anrede durch die der Schlange entspricht. Das weist darauf hin, dass – entgegen der Wirkungsgeschichte von der verführenden Frau – ihr Mann der Szenerie die ganze Zeit bewohnt. Und auch Gen 3,6 betont, dass ihr Mann bei ihr war.
In dem Dialog nun führt die Schlange ihre schon sprichwörtliche Klugheit (V. 1) vor, denn sie scheint mehr über den Garten und seine Bäume zu wissen als die Menschen. In geschickter Gesprächsführung lässt sie die Frau die Grenze, die Gott gesetzt und die Folgen einer möglichen Übertretung aussprechen: „Aber von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Garten (ist), hat Gott gesagt: nicht sollt ihr essen von ihm und nicht sollt ihr ihn berühren, damit ihr nicht sterbt“ (Gen 3,3), um diese dann zu konterkarieren: „An dem Tag, an dem ihr esst von ihm, dann werden eure Augen geöffnet werden und ihr werdet sein wie Gott, Erkennende des Guten und Bösen.“ Nicht Sterben und Tod, sondern Erkenntnis von Gut und Böse und darin Gott gleich sein – das ist der neue Horizont, der sich vor den Menschen auftut und der den Früchten des verbotenen Baumes eine besondere Süße verleiht. Es ist nicht gemeint, dass die Menschen göttlich werden, der Text unterscheidet sehr klar zwischen Gottes, hebräisch „ʼälohim“, und dem Gottesnamen JHWH, der allein der Gott Israels ist. Aber: Erkenntnis von Gut und Böse haben – wie Gott – ist die Herausforderung an den Menschen! Es geht um die Entscheidung, Gott und seiner Anweisung für das Leben im Garten Eden „blind“ zu vertrauen oder sich selbst unbekannte Horizonte zu eröffnen, autonom über Gut und Böse entscheiden zu können.
Damit nimmt der Dialog zwischen Frau und Schlange einen wesentlichen Aspekt menschlichen Seins in den Blick. Denn Kenntnis des Guten und Bösen, die Unterscheidungsfähigkeit von Gut und Böse – wer wollte sie nicht als wertvolle und unbedingt zu erlernende Eigenschaft des Menschen beschreiben? Ist sie nicht Grundlage unseres moralischen Denkens und Handelns? Auch das Alte Testament spricht immer positiv von dieser Unterscheidungsfähigkeit: So lautet der Wunsch König Salomos an den Gott Israels: „So wollest du deinem Knecht ein hörendes Herz geben, dass er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist“ (1 Kön 3,9). Und der Prophet Amos erinnert seine Zeitgenossen inmitten seiner Gerichtspredigt: „Suchet das Gute und nicht das Böse, auf dass ihr lebet und der Herr, der Gott Zebaoth, mit euch sei, wie ihr rühmt“ (Am 5,14). Diese Unterscheidungsfähigkeit gehört so konstitutiv zum Menschsein, dass die Möglichkeit, diese Erkenntnis nicht zu wagen, gar nicht denkbar scheint. Kann man diese Entscheidung überhaupt als „Sünden-Fall“ – die biblische Erzählung tut es nicht – verstehen?
III.
„Und die Frau sah, dass der Baum gut war zur Speise und dass er (etwas) Begehrenswertes für die Augen war und dass der Baum begehrenswert war, um Einsicht zu haben, und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab auch ihrem Mann bei ihr und er aß“ (Gen 3,6).
Während in Gen 2,18 JHWH Gott für das sorgt, was gut für den Menschen ist, entscheidet jetzt die Frau (für die Menschen), dass der Baum gut zur Speise sei, weil der Verzehr seiner Früchte Einsicht in Gut und Böse verheißt. Die Frau und auch der Mann (!) erproben sich in ihrer menschlichen Autonomie und lassen die göttliche Warnung hinter sich. Dass hier die jeweils individuelle Entscheidung der Frau und dann ihres Mannes gemeint ist, wird sprachlich durch das jeweils den Satz abschließende »….und sie/er aß« betont (V. 6a.b), was in V. 12 und 13 wieder aufgenommen wird. Es ist also mitnichten die Frau, die ihren Mann verführt, sondern ihr Mann entscheidet sich selbst, von der ihm dargereichten Frucht des Baumes zu essen. Mit dem „Essen“ der Frucht – auch wenn es entgegen der Wirkungsgeschichte kein Apfel gewesen ist – vollzieht sich symbolisch, dass das Wissen von Gut und Böse vom Menschen ganz leibhaftig in sich aufgenommen und damit zu einem Teil von ihm wird. Die Menschen internalisieren diese Einsicht, es wird zu einem Teil ihrer selbst. Die Folgen ihres autonomen Aktes treten sofort ein. Es ist nicht der befürchtete (sofortige?) Tod, aber dennoch wird ihr Dasein und ihre Selbst- und Weltsicht vollkommen verändert.
„Und die Augen der Zwei wurden geöffnet und sie erkannten, dass sie nackt waren und sie nähten Blätter des Feigenbaums zusammen und machten sich Schurze“ (Gen 3,7).
Liest man diesen Vers vom erzählten (!) Ende der Schöpfungserzählung her (Gen 2,25: „Und sie waren beide nackt („ʽarōm“) der Mensch und seine Frau, und sie schämten sich nicht voreinander“), wird die Veränderung sichtbar: Die Augen der beiden werden einer neuen Erkenntnis geöffnet: Sie werden ihrer Nacktheit gewahr und machen sich Schurze, um ihre Blöße voreinander zu bedecken. Denn sie wollen sich den Blicken des anderen, die bislang kein Problem waren, entziehen. Sie empfinden Scham voreinander, und diese Scham treibt den Mann und die Frau im Gegensatz zu Gen 2,25 auseinander, ihre ungestörte Gemeinschaft zerbricht.
Das hebräische Wort „jādah“ an dieser Stelle meint nicht allein den kognitiven Akt des Kennens und Wissens, sondern steht auch für das intime Zusammensein von Mann und Frau (vgl. Gen 4,1). Daher ist die Scham aufgrund der Nacktheit in Gen 3 oft auf Sexualität bezogen worden und hat wohl einer Körperfeindlichkeit im Christentum Vorschub geleistet. Doch mit dieser verengten Sicht wird man weder der Bedeutung von Nacktheit noch von Scham gerecht.
Nacktsein weist im Alten Orient wie im Alten Testament einen niedrigen sozialen oder ehrlosen Status an, wie umgekehrt Kleidung, zum Beispiel Purpur, die besondere – königliche – Dignität anzeigt. Auf altorientalischen Darstellungen werden daher geschlagene oder inhaftierte Feinde stets nackt, also ihres sozialen Standes beraubt, dargestellt. Ist diese Nacktheit im Status der ungestörten Zweisamkeit kein Problem, weil der Blick des anderen eben noch nicht als der Blick des anderen bedrängend und urteilend ins eigene Bewusstsein getreten ist (Gen 2,25), wird in Gen 3,7 die Wahrnehmung für den Blick des anderen offenbar: Sie sehen sich vom anderen her und erblicken das eigene ehrlose und bedürftige Sein vor dem anderen und trachten danach, es vor dem anderen zu verbergen. Dieses Gesehenwerden vom Anderen beziehungsweise das Erkennen, dass der andere einen sieht, in seinen im wahrsten Sinne des Wortes „nackten Dasein“ sieht, ist Auslöser der Scham und führt zum Aufbrechen der Gemeinschaft. Von diesem Zeitpunkt an reden der Mann und die Frau in Gen 3 nur noch vom Ich (vgl. V 12f)! Der andere ist aus dem Blick geraten, die Verantwortung für die Gebotsübertretung wird daher auch immer einem anderen angelastet.
Der Gewinn der Erkenntnis bedeutet nicht nur eine Entfremdung zwischen Mann und Frau, die in dem Strafspruch über die Frau soziale Realität wird, sondern auch das Gottesverhältnis verändert sich zum Unguten:
„Und sie hörten die Stimme JHWH Gott, der im Garten umherging beim Wehen des Tages (= im erfrischenden Wind des Abends), und der Mensch verbarg sich und seine Frau vor dem Angesicht JHWH Gott inmitten der Bäume des Gartens. Und JHWH Gott rief zu dem Menschen, und er sagte ihm: Wo (bist du)? Und er sagte: Ich habe deine Stimme gehört im Garten und ich fürchtete mich, denn ich bin nackt und (darum) verbarg ich mich“ (Gen 3,8-19).
Setzt das Bild des im Garten lustwandelnden JHWH Gottes ein harmonisches Verhältnis zwischen Gott und Mensch voraus, so zerbricht diese Harmonie jäh. Schon die Stimme JHWH Gottes, mit der er bislang ungezwungen mit dem Menschen sprach, schlägt den Menschen und seine Frau „in die Büsche“: Der Mensch und seine Frau verbergen sich vor dem Angesicht JHWH Gottes (Gen 3,8): Ihre Nacktheit erleben beide als schamvolle Bedürftigkeit und Niedrigkeit gegenüber dem göttlichen, Ehrfurcht gebietenden Gott. Mit dieser Ehrfurcht tritt ein hierarchisches Verhältnis an die Stelle der Gemeinschaft mit Gott – als Kehrseite des menschlichen Autonomiebestrebens und der neu gewonnen Erkenntnisfähigkeit. Mit dieser Ambivalenz muss der Mensch fortan leben. Der Weg zurück zur ungestörten Gemeinschaft ist ihm durch den Cherub versperrt. Allerdings: Gottes Fürsorge endet nicht mit der Vertreibung aus dem Garten Eden: Gott kleidet die Menschen und bedeckt ihre Nacktheit, setzt sie nicht weiter der Schande und Scham aus: Er leitet sie in ihr selbstbestimmtes Leben, das Mühen und Arbeit kennzeichnet. Aber: Ohne Gott muss der Mensch auch östlich von Eden nicht leben!
IV.
Die „Paradiesgeschichte“ in Gen 2-3 – und ich bin mir bewusst, welche Aspekte heute alle ausgeklammert bleiben mussten – stellen einen Erzählzusammenhang dar, der die gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung des Menschen von einem Ursprungsgeschehen her erschließt und so die Wirklichkeit menschlichen Daseins in all seiner Ambivalenz entfaltet. Der Mensch kann hinter seine Autonomie, seine Erkenntnisfähigkeit nicht mehr zurück, doch diese hindert eine ungeschiedene Beziehung zum anderen, zur Welt und auch zu Gott.
Doch wäre es zu kurz gegriffen, die Schöpfungserzählung in Gen 2 allein als vergangenes Gegenbild zur Vertreibung aus dem Garten Eden, der negativen Lebenswirklichkeit, zu sehen. Schöpfungserzählung und Vertreibung aus dem Paradies entfalten im Nacheinander, was für den Erzähler untrennbar ineinander liegt. Auch wenn der Mensch nicht mehr in den Garten Eden zurückkehren kann, bleibt doch die Erinnerung an dieses Paradies, das Wissen von heilvollem Zusammenleben und Gottesunmittelbarkeit bestehen, wenn wir es auch nur noch überdeckt und gebrochen erleben. Ja, der sogenannten Paradiesgeschichte wohnt das Wissen um die Möglichkeiten gelingenden Lebens inne trotz aller Erfahrung von Verfehlung und Mühsal. Und damit bleibt die Sehnsucht nach dem Garten Eden ins menschliche Herz gepflanzt.