„Edle Einfalt“ bei Winckelmann, Jean Paul, Wackenroder und Siewerth

Ist Winckelmanns Kunstideal ein klassisches?

 

Johann Joachim Winckelmanns hat sein Kunstideal bekanntlich in der klassischen Epoche Griechenlands als verwirklicht angesehen. Sollte da nicht angenommen werden, es sei auch seine bekannte Formulierung dieses Ideals – das vielzitierte Wort von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ wahrer Kunst – ganz im Geist des alten Hellas gesprochen? Ein aufmerksameres Betrachten des entsprechenden Sachverhalts scheint allerdings einen anderen Schluss nahezulegen: Insbesondere das Lob der „edlen Einfalt“ trifft überhaupt kein „antik-heidnisches“ Ideal – wohl aber ein spezifisch christliches. Das Thema „Einfalt“ ist bereits in den Evangelien grundgelegt und findet u. a. bei den Waldensern, Mendikanten, Mystikern, Reformatoren und Pietisten seine je spezifische Variation, Verdichtung und Verstärkung. Der Geist des Pietismus dürfte Winckelmann seine Bewunderung der „Einfalt“ und der „Stille“ ursprünglich nahe gelegt haben.

Besagtes Ideal konnte deswegen auch nach der Blütezeit des von Winckelmann inspirierten und initiierten Klassizismus unverändert – und diesmal offen – unter christlichen Vorzeichen fortgeschrieben werden – mit besonderem Nachdruck sogar von so dezidierten Antiklassizisten wie Jean Paul und Wilhelm Wackenroder, aber sogar noch weit darüber hinaus, beispielsweise in der christlichen Philosophie des 20. Jahrhunderts – hier etwa bei Gustav Siewerth. Diese Namen stehen sämtlich nur beispielhaft für geistesgeschichtliche Bewegungen. Beim Übergang der Kulturgeschichte vom Klassizismus zur Romantik ist das aus dem Winckelmannschen Klassizismus bekannte Ideal der Einfalt problemlos weiter tradiert, ja sogar nochmals nachdrücklich betont worden. Auch in der Adenauer-Zeit begegnen wir ihm wieder.

Erstmalig ausdrücklich formuliert findet sich das berühmte Wort Winckelmanns in den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst von 1755. Die entscheidenden Aussagen lauten:  „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als auch im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüthen, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laocoons, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden.“

In der Literatur über Winckelmann ist dessen Antagonismus zum Christentum, sein dezidiertes Griechen- und Heidentum von Beginn an betont worden, so beispielgebend  durch Goethe in seinem Aufsatz Winckelmann und sein Jahrhundert von 1805.

„Jene Schilderung des [Winckelmann‘schen] altertümlichen, auf diese Welt und ihre Güter angewiesenen Sinnes führt uns unmittelbar zur Betrachtung, dass dergleichen Vorzüge nur mit einem heidnischen Sinne vereinbar seien. […] Dieser heidnische Sinn leuchtet aus Winckelmanns Handlungen und Schriften hervor und spricht sich besonders in seinen frühern Briefen aus, wo er sich noch im Konflikt mit neuern [gemeint: christlichen] Religionsgesinnungen abarbeitet.“

Bei Winckelmanns „Entfernung von aller christlichen Sinnesart“ sollte es eigentlich überraschen, dass sein Ideal der „edlen Einfalt“ – so laute zumindest die These dieses Vortrags – ein spezifisch christliches ist. Dieser Punkt verlangt als erstes nach einer kurzen historischen Erläuterung.

In der Geschichte des Christentums ist es im 12. und 13. Jahrhundert zu einem erstarkenden Selbstbewusstsein der Laien gegenüber einem oft wenig vorbildlich agierenden, verweltlichten und hie und da auch degenerierten Klerus gekommen. Der Siegeszug der komplexen und bald als spitzfindig verdächtigten scholastischen Theologie trug zusätzlich zu einer Entfremdung breiter Volksschichten von der – freilich erst viel später so genannten – „Amtskirche“ bei. Aus dieser Gemengelage erwuchsen verschiedene Reform- und Laienbewegungen, die sich im Einklang mit der ursprünglichen Botschaft Jesu Christi wähnten, die vorgeblich von großer Einfachheit und Klarheit geprägt gewesen sei. Genannt seien die Waldenser und Katherer, kurz darauf die Mendikanten, also v. a. Franziskaner und Dominikaner, und noch etwas später die Bewegung der devotio moderna.

Das Motiv der Einfachheit wird dann auch von Luther und den Reformatoren aufgegriffen, mit den Stichworten sola gratia, sola scripura, sola fide, solus Christus. Es erfährt dann bei den Pietisten weiteren Nachdruck durch die Betonung des Werts ebenso einfacher wie starker religiöser Gefühle bei gleichzeitiger Abneigung gegenüber allem „Rationalistischen“ und „Dogmatischen“. Die Herrenhuter Brüdergemeinde unter Graf Zinzendorf spitzte die These von der Einfachheit des gefühlvollen Glaubens schließlich auf dessen Kindlichkeit des Glaubens zu. Die damit einher gehende Tendenz zum theologisch-andächtigen, bei Zinzendorf selbst auch zum poetischen Infantilismus hat Joseph von Eichendorff in seiner „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands“ (1857) einer beißenden Kritik unterzogen: „Das Gefühl an sich ist […] nichts, sondern erhält überall seine Bedeutung und Wundermacht nur durch seinen Gegenstand […] Daher das widerlich Schlaffe und Weichliche in dieser pietistischen Poesie, das beständige Umschlagen des gesund Kindlichen in das krankhaft Kindische […] jene sich selbst nicht trauende forcierte Frömmigkeit, die endlich in den Sonntagsseufzerlein und Wiegensänglein der Herrnhuter, in der völlig lügenhaften Spielerei mit dem Heiligsten aufgeht. Ja, es ist unglaublich und doch wahr, dass Graf Zinzendorff selbst, der von Gott gewöhnlich als von dem „Papächen und süßen Mamächen“ redete, Verse wie:

Ich liebe mein Papächen,

Ich liebe mein Mamächen,

Und Bruder Lämmelein;

Ich lieb‘ die lieben Engel,

Ich lieb‘ den obern Sprengel,

Das Kirchlein und mein Herzelein

als Poesie und Andacht ausgeben durfte.“

Winckelmann wurde in der seinerzeit vom Halleschen Pietismus geprägten Stadt Stendal geboren und ist dort auch aufgewachsen. Bei allen, teils gravierenden Unterschieden zwischen den verschiedenen, allesamt aber auf Einfachheit und Gefühl drängenden historischen Erscheinungen stimmen die oben genannten spirituellen Strömungen doch in gewissen Grundzügen überein. Es handelt sich immer um das Ideal eines betont einfachen (Glaubens-)Lebens, der damit verbundenen Schlichtheit bis hin zur Askese, der Verweigerung gegenüber allem von ihnen sogenannten Weltlichen in Einheit mit Kritik vor allem an geistlicher Prachtentfaltung; damit verbunden ist ein zumindest latenter Antiklerikalismus, die Betonung von Anspruchslosigkeit, Demut und der Bedeutung des Schuld- oder Sündenbewusstseins.

Bei Franz von Assisi tritt diesem „Simplizitätsideal“ das der „Einfalt“ an die Seite – vergleichbares geschieht etwas später auch im Dominikanerorden, wenn Meister Eckhart in  seinen Deutschen Predigten die Einfalt des Herzens zu den Qualitäten des besonderen Seelenadels zählt. All dem liegen die Herrenworte Jesu Christi zugrunde, die als Lob der Kinder bzw. Kindlichkeit bezeichnet werden können. Aus der klassischen griechischen Literatur ist mir dagegen kein einziges Lob der Kindheit bekannt.

Über die Vorgeschichte von Winckelmanns Formelprägung von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ als Charakteristikum der Laokoon-Gruppe und darüber hinaus auch als ein solches hoher (griechischer) Kunst im Allgemeinen sowie, nicht zu vergessen, als Stich- und Leitwort für die Künstler seiner Zeit – Winckelmann mahnte diese ja eindringlich zur Nachahmung der klassischen griechischen Werke („Der eintzige Weg für uns, gros, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“) – ist von Gohlke im Anschluss an Pfotenhauer, dies in Erfahrung zu bringen: „Noch bevor er [Winckelmann] im Herbst 1755 mit einem Stipendium des sächsischen Königs nach Rom aufbrach, entstanden in einer relativ kurzen Zeit die ‚Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst‘, deren Kerngedanken in Jonathan Richardsons ‚Essai sur la theorie de la peinture‘(1715) bereits vorgeformt waren. Der Künstler soll sich, so Richardson, über die Natur erheben, um der „idée“ gerecht zu werden. ‚Erhebung, Größe und auch Grazie aber erlernt man aus den antiken Statuen, dem Apollo, dem Laokoon‘. Tatsächlich findet sich bei Richardson nicht nur das ganze Begriffsfeld des Erhabenen, sondern bereits auch die berühmte und wirkungsmächtige Formel der ‚edlen Einfalt‘ und ‚stillen Größe‘ [„noble simplicité“ und „véritable grandeur“]. Darum ist es vielleicht nicht allzu überraschend, dass Winckelmann für die Abfassung seiner Schrift nur acht Wochen brauchte.“

Bei Richardson kann man fündig werden – ja aber nicht nur! Im literarischen Zeitalter der Empfindsamkeit als dem eines gewissen säkularisierten Pietismus liegt das Lob der Einfachheit und Einfalt allenthalben wie zum Greifen nahe. Das gilt auch für Winckelmanns „Rezept“ für die Qualitätssteigerung der ihm zeitgenössischen bildenden Kunst. Auch dieses ist ja einfach genug: Für den neuen Künstler besteht der Weg, gut zu werden, in der Nachahmung der alten Künstler.

Die entscheidenden Merkmale klassisch griechischer Kunstwerke erläutert Winckelmann paradigmatisch an dieser Skulptur, die sich heute in den Vatikanischen Museen im dortigen Statuenhof befindet. Die Laokoongruppe der Bildhauer Hagesandros, Polydoros und Athanadoros aus Rhodos ist nur in der Marmorkopie, vermutlich aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr., erhalten. Das Original ist nicht überliefert, bestand aber vermutlich in einer um 200 v. Chr. entstandenen monumentalen Bronzearbeit. Manches daran fasziniert bis heute, am meisten wohl die Art, wie sich der Schmerz in Laokoons Leib und Antlitz äußert. Dieser Schmerz wird nach Winckelmanns Begegnung mit dem Original in der Geschichte der Kunst des Altertums präziser dargestellt als zuvor in den Gedanken, aber auch in der neueren Deutung findet sich dem körperlichen Leiden des trojanischen Priesters an dem Biss und dem Würgen der Meerschlangen die eingesetzte Seelenstärke des edel Gefassten gegenüber gestellt. Von hier aus interpretiert Winckelmann die ganze Skulptur: Der Mensch möge durchaus starke Gefühle haben, aber er ist und bleibt zuerst „animal rationale“ und die edle Einfalt des wahren Menschen offenbart sich im klaren Sieg der Vernunft, in der aufrecht erhaltenen Selbstbeherrschung, der contenance und Treue zum eigenen, einfachen, gefasst und gesetzt bleibenden Wesen. Einfalt bedeutet damit auch Treue gegenüber sich selbst, dem ungeteilten Ich. Verwandtes wird sich auch in Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz finden lassen.

 

Edle Einfalt bei Jean Paul

 

Bereits 1925 schrieb der bedeutende bayerische Literaturkritiker Josef Hofmiller hellsichtig über Jean Paul: „Jean Paul aber ist – schon die gescheite Stael hat es gespürt – kompromisslos deutsch, kein Hauch von Klassizismus hat ihn angeweht, widerborstig gegen jedes südliche Schönheitsideal geht er durch Leben und Dichtung unbeirrt, sicher wie ein Nachtwandler, eine Schenke vorm Tor ist sein egerischer Hain und kastilischer Quell, Hof im Vogtland und Bayreuth sind seine archimedischen Punkte, von denen aus er die Welt aus den Angeln hebt, zwischen zwei Gläsern braunen Biers.“

Hofmiller schlägt auch bereits eine Brücke, die für unsere Argumentation von einiger Bedeutung ist, nämlich die von Jean Paul zurück zu Grimmelshausens Simplizius Simplizissimus. Dieser kindlich-naive aber edel empfindende „Narr in Christo“ namens Simplex steht in einer ganzen Reihe spezifisch christlicher Romanhelden, die vom Parzifal über Don Quijote hinüber zum Fürsten Myschkin in Dostojewskis Der Idiot reicht. Jean Paulsche Helden wie Schmelzle, Fibel und Wutz können dieser Linie einfältiger christlicher Dulder und Streiter ohne große Bedenken hinzu gezählt werden – letztgenannter mit besonderer Berechtigung.

Werfen wir deshalb einen Blick in die entsprechende Erzählung Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal aus dem Jahre 1797. Sie beginnt mit den folgenden anrührenden Sätzen: „Wie war dein Leben und Sterben so sanft und meerstill, du vergnügtes Schulmeisterlein Wutz! Der stille, laue Himmel eines Nachsommers ging nicht mit Gewölk, sondern mit Duft um dein Leben herum: Deine Epochen waren die Schwankungen, und dein Sterben war das Umlegen einer Lilie, deren Blätter auf stehenden Blumen flattern – und schon außer dem Grabe schliefest du sanft!“

Wer nur auf die dominierenden Adjektive achten wollte, sanft, meerstill, still und lau, wird sich schon hier, gewissermaßen im Introitus, an die „stille Größe“ Winckelmanns erinnert fühlen. Dessen Epoche war zwar bereits in ihrer Neige begriffen, aber sein Ideal konnte, selbst bei seinen erklärten Antipoden, fortbestehen – m. E. deswegen, weil es eben gar kein klassisches, sondern ein primär christliches Ideal gewesen ist, das von Jean Paul – gerade so wie von den etwas jüngeren Romantikern –, ohne dass es nun als obsolet gewordener Fremdkörper empfunden werden musste, nicht nur übernommen, sondern sogar noch vertieft und radikalisiert werden konnte.

Das vergnügte Schulmeisterlein will seine Kindheit nicht abstreifen. Jean Paul erläutert den Charakter seines Helden wiederholt damit, indem er über Wutz‘ Kindertage Auskunft gibt: „Schon in der Kindheit war er ein wenig kindisch. Denn es gibt zweierlei Kinderspiele, kindische und ernsthafte – die ernsthaften sind Nachahmungen der Erwachsenen, das Kaufmann-, Soldaten- , Handwerker-Spielen – die kindischen sind Nachäffungen der Tiere. Wutz war beim Spielen nie etwas anderes als ein Hase, eine Turteltaube oder das Junge derselben, ein Bär, ein Pferd oder gar der Wagen daran.“

Wutz will sich stets selbst treu bleiben. Gegen Ende seines Daseins beschwört Wutz wiederholt die Welt seiner Kindheit herauf, indem er alte Erinnerungsgegenstände wie sein erstes Schreibbuch, seine grüne Kinderhaube, eine Kinderpeitsche und einen Finkenkloben zum Vogelstellen genießerisch vor sich ausbreitet. Er hatte diese und weitere Kindheitsreliquien, chronologisch geordnet, seit langem vorsorglich unter der Treppe archiviert.

Wie sich Wutz beim Anblick dieser Gegenstände in seinen Träumen verliert, so auch nochmals in der Stunde des Sterbens. Der Berichterstatter erzählt: „Der Sterbende – er wird kaum diesen Namen mehr lange haben – schlug zwei lodernde Augen auf und sah mich lange an, um mich zu kennen. Ihm hatte geträumt, er schwanke als ein Kind sich auf einem Lilienbeete, das unter ihm aufgewallet – dieses wäre zu einer emporgehobenen Rosenwolke zusammengeflossen…“

Nach dem sanften und „meerstillen“ Sterben unseres einfältig-kindlichen Idyllikers verlässt der Berichterstatter das Trauerhaus um anzumerken: „Als ich um elf Uhr fortging, war mir die Erde gleichsam heilig, und Tote schienen mir neben mir zu gehen; ich sah zum Himmel, als könnt‘ ich im endlosen Äther nur in einer Richtung den Gestorbenen suchen“ – man füge in Gedanken hinzu: bei den Erlösten (Heiligen).

 

Edle Einfalt bei Wackenroder

 

Bereits in der Widmung zu Heinrich Wackenroders frühklassischem Werk Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders aus dem Jahre 1797 (alle folgenden Zitate sind diesem Buch entnommen) ist von dem „stillen und unaufgeblähten (demütigen) Herzen“ die Rede: „Diese Blätter, die ich anfangs gar nicht für den Druck bestimmt, widme ich überhaupt nur jungen angehenden Künstlern, oder Knaben, die sich der Kunst zu widmen gedenken, und noch die heilige Ehrfurcht vor der verflossenen Zeit in einem stillen, unaufgeblähten Herzen tragen.“

Die verflossene Zeit, der ausgezeichnete Ehrfurcht gebühre, ist nicht länger die klassische Antike: „Warum verdammt ihr den Indianer nicht, dass er indianisch, und nicht unsre Sprache redet? Und doch wollt ihr das Mittelalter verdammen, dass es nicht solche Tempel baute wie Griechenland?“ Gemäß Wackenroders Überzeugung gebührt der mittelalterlichen Kunst zumindest dieselbe Verehrung wie die antike. Damit stellt er sich gegen Winckelmann. Aber in seiner Bewunderung der Renaissancemalerei ist er ihm wieder ganz nah. Dürer und Raffael wird vom Klosterbruder bzw. seinem Autor eine ganz besonders innige Verehrung zuteil. Zwar würden beide Meister oft als Gegensätze, da Hauptvertreter des „fränkischen“ respektive „welschen“ Stils, aufgefasst – „dennoch aber fiel es mir, als ich in meinen jüngern Jahren die ersten Gemälde vom Raffael sowohl als von dir, mein geliebter Dürer, in einer herrlichen Bildergalerie sah, wunderbar in den Sinn, wie unter allen andern Malern, die ich kannte, diese beiden eine ganz besonders nahe Verwandtschaft zu meinem Herzen hätten. Bei beiden gefiel es mir so sehr, dass sie so einfach und grade, ohne die zierlichen Umschweife anderer Maler, uns die Menschheit in voller Seele so klar und deutlich vor Augen stellen. Allein ich getraute mich damals nicht, meine Meinung jemandem zu entdecken, weil ich glaubte, daß jeder mich verlachen würde, und wohl wusste, daß die mehresten in dem alten deutschen Maler nichts als etwas sehr Steifes und Trockenes erkennen.“

Die Klagen über Dürers fränkisch-steifen Stil würden eine recht oberflächliche Sichtweise  zum Ausdruck bringen, die in die Tiefe der Darstellungen dieses Künstlers nicht einzudringen vermöge.

„Auch wird dir das, mein geliebter Albrecht Dürer, als ein grober Verstoß angerechnet, dass du deine Menschenfiguren nur so bequem nebeneinander hinstellst, ohne sie künstlich durcheinander zu verschränken, daß sie ein methodisches Gruppo bilden. Ich liebe dich in dieser deiner unbefangenen Einfalt und hefte mein Auge unwillkürlich zuerst auf die Seele und tiefe Bedeutung deiner Menschen, ohne dass mir dergleichen Tadelsucht nur in den Sinn kommt. Viele Personen aber scheinen von derselben, wie von einem bösen, quälenden Geiste, so geplagt, dass sie dadurch zu verachten und zu verhöhnen angereizt werden, ehe sie ruhig betrachten können.“

Gerade die vergleichsweise Kunstlosigkeit der Formgebung eröffnet somit einen Raum, darin sich die Wesenheiten der Dargestellten am besten entfalten können. Der Einfalt eignet eben der Blick auf das Wesentliche – und auch hier wieder wird dieser Einfalt das Kindliche ergänzend zur Seite gestellt: „Da seh ich in Gedanken den künstlichen [kunstreichen] Meister Albrecht [Dürer] auf seinem Schemel sitzen und mit einer kindischen, fast rührenden Emsigkeit an einem feinen Stückchen Holze schnitzeln, wie er die Erfindung und Ausführung wohl überlegt, und das angefangene Kunststück zu wiederholten Malen betrachtet; ich sehe seine weite ausgetäfelte Stube und die runden Scheiben…“

Dieses Butzenscheiben-Idyll dürfte nun stark an das Schulmeisterlein Wutz erinnern. Wackenroder denkt freilich nicht an diesen, sondern sogleich wieder an Raffael, den „sanften und heiteren“: „Das Schönste, was ich dir von ihm sagen kann […] ist, daß er als Mensch ebenso edel und liebenswürdig war wie als Künstler. Er hatte nichts von dem finstern und stolzen Wesen anderer Künstler, welche manchmal mit Fleiß allerhand Seltsamkeiten annehmen; sein ganzes Leben und Weben auf Erden war einfach, sanft und heiter, wie ein fließender Bach.“

Der Stille, dem Edelmut und der Sanftheit wird sodann noch das Liebevolle bzw. die Liebe selbst hinzugefügt. Denn gerade in dem Maße wie der Künstler liebe, erklimme er immer höhere Grade seiner Kunst. Wackenroder lässt einen frisch verliebten jungen Kopisten sagen:

„Wie bet ich jetzt die Mutter Gottes und die erhabenen Apostel in jenen begeisterten Bildern an, die ich sonst nur mit kaltem Auge und halbgeübtem Pinsel Zug für Zug nachzeichnen wollte: – jetzt stehn mir die Tränen den Augen, meine Hand zittert, mein innerstes Herz ist bewegt, so dass ich (möcht ich sagen) fast ohne Bewusstsein die Farben auf die Leinwand trage, und dennoch gerät es mir so, dass ich hernach damit zufrieden bin“ – und zwar zufriedener als je zuvor in der Zeit der „Nichtverliebtheit“…

Die Liebe macht sehend und sie erst formt den Maler zum wahren Künstler. Die Einfalt schließt mit der Liebe gerne einen Bund. Leider seien nach der goldenen Zeit der früheren Renaissancemalerei Einfalt, Unschuld, Religion und Liebe wieder weitgehend verloren gegangen. Damit sei die Malkunst seelenloser, indifferenter, unspezifischer und schwächer geworden: „Die deutsche Kunst war ein frommer Jüngling in den Ringmauern einer kleinen Stadt unter Blutsfreunden häuslich erzogen; nun sie älter ist, ist sie zum allgemeinen Weltmanne geworden, der mit den kleinstädtischen Sitten zugleich sein Gefühl und sein eigentümliches Gepräge von der Seele weggewischt hat.“

 

Edle Einfalt bei Siewerth

 

Gustav Siewerth (1903-1963) war ein deutscher Philosoph und Pädagoge, Gründungsrektor der Hochschule für Pädagogik in Freiburg i. Br. und prominentes Mitglied der Gruppe namhafter deutschsprachiger christlicher Denker der Nachkriegszeit wie Balthasar, Rahner, Ratzinger, Ulrich, Beck, Lotz, Przywara, Spaemann. Nach ihm ist auch die Gustav-Siewerth-Akademie im Schwarzwald benannt. Zu seinen Hauptwerken gehört das Buch Metaphysik der Kindheit von 1957, welchem die folgenden Thesen und Zitate entnommen sind.

Siewerth knüpft auch in diesem Werk bewusst an die Evangelien an. Bekannt ist die Perikope „Lasst die Kinder zu mir kommen“ (Mk 10,13-16), die in der gesamten antiken Literatur singulär dastehen dürfte. Man ist sich dessen gewöhnlich nicht bewusst, welche gewaltige Provokation dieser Text enthält. Immerzu ist es sonst ja um die Weisheit zu tun, und hier erfahren die weitgehend ignorierten, zusammen mit ihren Müttern an den gesellschaftlichen Rand geschobenen Kinder die beispiellose Aufwertung, als Vorbilder für die Erwachsenen hingestellt zu werden! Man müsse werden wie ein Kind: ein wirklich „starkes Stück“, noch heute aber mehr noch für die Alte Welt.

Die zitierte Markus-Stelle erfährt im Evangelium Ergänzungen durch Mk 9,42: „Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.“ Aber v. a. durch Mt 18,4 und 10: „Wer so klein sein kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte. Und wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt auch mich auf [..] Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters.“

Vermutlich verspürt auch der dem Christentum fern Stehende, dass eine Art Segen auf den Kindern liegt, wobei sich der Gedanke einstellt: Wäre es nicht besser, sich zumindest ein wenig von der Kindlichkeit zu erhalten? Zum vollen Menschsein scheint ein „Moment“ (Hegel) davon dazu zu gehören.

Hier stellt sich aber sogleich die Frage ein, worin der Wert der Kindlichheit denn näher hin bestehen könnte? Sind wir nicht allesamt recht hilflose und unfertige Wesen gewesen? Nun, von dem Wort „Kindheit“ geht dessen ungeachtet ein Zauber aus, der uns alle stets ein wenig träumen und lächeln lässt. In dieses „sentiment“ ist Melancholie gemischt. Das Kind, das wir einst gewesen sind, ist längst einen langsamen und kaum merklichen, sanften Tod gestorben. Wäre das Kind aber nur der unfertige Erwachsene, das kleine schwache hilflose Wesen, das immer nur vom Gutdünken der Großen abhängig ist, so bliebe diese Trauer ganz unverständlich.

Sie wird dann begreiflich, wenn wir mit Siewerth dem „sentiment“ nachdenken, um dabei zu erkennen: Wir sind damals nicht nur abhängig und gegängelt gewesen – wir waren irgendwie auch den Quellen des Lebens näher, wir lebten ursprünglicher, unmittelbarer, elementarer und intensiver. Wie im ersten Morgen der Schöpfung, so lebten wir in großer Offenheit für das Wunder des Daseins, ganz aus dem Reichtum eines neu erblühenden Lebens heraus, in stiller Freude an unseren verschiedenen und immer neu und gründlicher zu entdeckenden Begabungen, unschuldig und inmitten einer sich täglich gründlicher erschließenden Welt. Und, was im Anschluss an Siewerth ebenfalls Erwähnung verdient: Das Verfolgen von Zwecken erschien uns weit weniger bedeutsam als Begegnungen – solche mit Dingen, Tieren und Menschen.

Zwar ist die Angst häufig dunkler Gast in unseren Seelen gewesen, aber die Liebe war dort auch einquartiert. Wir erfuhren die Liebe, vor allem die der Mutter, auch weit intensiver als später und gaben unsere Liebe auch selbst intensiver, oft auch wirkungsvoller kund. Siewerth bringt für diesen Sachverhalt ein nettes kleines Beispiel. In einer Situation augenblicklicher Verzweiflung ist eine Mutter ganz in Tränen aufgelöst: Die noch sehr kleine Tochter sieht sie so, kniet sich spontan zu ihr nieder und versichert ihr ernsthaft, hier bei ihr auch knien zu bleiben. Das Kind hat damit intuitiv das Bestmögliche getan, um die unter Tränen zu lächeln anfangende Mutter zu beruhigen und neu zu ermutigen.

Das ganz im Mantel mütterlicher Liebe wachsende und gedeihende Kind sieht denn die Wirklichkeit auch primär mit den Augen der Liebe an. In diesem liebevollen Anschauen ist die „Vernunft“ des Kindes noch ganz das, worauf das Wort auch etymologisch verweist, ein „Vernehmen“ – und zwar ein solches im Modus anschauender Liebe:

„Nichts wird so leicht verkannt und übersehen wie die Demut und Innigkeit des Einfältigen. Ihm gegenüber versagen wir am meisten, die wir gelernt haben, dass das nicht gelte, was man nicht messen kann und sich unseren theoretischen Schemata nicht fügt. Wenn wir es aber im Blick halten, öffnet sich uns das so schrecklich verkannte geistige Leben des Kindes. […] Der aus dem liebenden Herzen gehende Blick [des von den Eltern geliebten Kindes] erfährt am Maßgrund des eigenen Wesens die Wesenstiefe der Liebe selbst […] Er besitzt die Eindringlichkeit und Einlässigkeit des sanften Lebens, die intuitive Durch- und Zusammenschau des Einfachen, das noch durch keine ‚Hinsichten‘ beirrt und abgelenkt ist. [Dieses kindliche Erkennen] ist eine urteilslos unmittelbare Hinnahme und Einsenkung, lichtvoll, reich und erfüllt und ohne entgegengesetzte Reflexion. […] Diese Schaukraft des kindlich Einfältigen währt lange, so dass jeder Erwachsene, dem die Kindheit nicht durch Fehlbildung aus dem Gedächtnis schwand, in der persönlichen Erinnerung […] sich ihrer versichern kann.“

Auch aus diesem Zitat ist immer noch Winckelmanns Schwärmen für „edle Einfalt und stille Größe“ herauszuhören. Es handelte sich dabei eben von Anfang nicht um ein Spezifikum des programmatischen Klassizisten, sondern um ein altes christliches Erbstück, das die Epoche Winckelmanns mit einigen betont unklassischen wie dem Hochmittelalter, der Romantik und der Ära Adenauer auf bedenkenswerte Weise verbindet.

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