An ethics of the relationship of parent and child

alamy stock/Konrad Bak

Im französischen Dokumentarfilm „Babies“ von 2010 schildert der Regisseur Thomas Balmès das Leben vierer Kinder von der Geburt bis zum Ende ihres ersten Lebensjahrs. Die beiden Buben Ponijao aus Namibia und Bayar aus der Mongolei und die beiden Mädchen Mari aus Japan und Hattie aus Kalifornien werden bei ihren ersten Entwicklungsschritten porträtiert, ihrem ersten Lachen, ihren ersten Gehversuchen, ihrem ersten Spiel. Beeindruckend ist, wie sehr sich die Kindheiten unterscheiden. Während Bayar in einer einsam gelegenen mongolischen Jurte aufwächst und meistens mit Ziegen spielt, lebt Mari in der Millionenstadt Tokyo und wird noch vor ihrem ersten Lebensjahr zur musikalischen Früherziehung gebracht. Kind zu sein heißt auf dieser Welt, unter den unterschiedlichsten Bedingungen aufzuwachsen und mit einer unendlichen Vielfalt von Kulturen konfrontiert zu sein, Kind einer nomadischen Viehzüchterfamilie oder akademisch gebildeter Eltern zu sein, in der Wüste oder in einer Millionenmetropole groß zu werden.

Der Beginn des menschlichen Lebens steht im Zeichen von Fremdbestimmung. Menschen werden gezeugt und geboren, ohne auf die Umstände ihres Zur-Welt-Kommens in irgendeiner Weise Einfluss nehmen zu können. Wann, wo und unter welchen Umständen wir geboren werden, bestimmen andere. Die neuen reproduktionsmedizinischen Techniken haben wesentlich dazu beigetragen, das Ausmaß dieser Fremdbestimmung sichtbar zu machen. Indem sie Eltern Instrumente in die Hand geben, die Existenzweise ihres Kindes, z.B. durch genetische Auswahl, noch mehr als bisher zu beeinflussen, führen sie uns vor Augen, wie sehr der Beginn menschlichen Lebens ganz allgemein von den Entscheidungen Dritter abhängt. Für alle reproduktionsmedizinischen Techniken – seien es Verhütungsmittel, präkonzeptionelle genetische Tests, die Präimplantations- oder Pränataldiagnostik, die Keimzellspende oder Leihmutterschaft – gilt: Sie bieten vielleicht den beteiligten Eltern größere Freiheiten, aber die radikale Unfreiheit des Kindes ändern sie nicht. Diese tritt im Kontrast zur elterlichen Freiheit nur umso deutlicher zu Tage. Diese Unfreiheit ist radikal, weil sie sämtliche Lebensbedingungen des Geborenen betrifft. Kinder haben schon immer die Bedingungen ihrer Existenz zu akzeptieren, seien sie ein erwünschter oder unerwünschter Nachkomme, mit oder ohne erbliche Erkrankungen, von armen oder reichen Eltern gezeugt, in Krieg oder Frieden.

Man kann aber das, was von einem Standpunkt der Freiheit wie moralisch unerwünschte Fremdbestimmung aussieht, auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Denn wenngleich wir alle als Kinder unweigerlich den Entscheidungen Dritter ausgesetzt sind, bewerten wir diese existenzielle Erfahrung doch in der Regel als positiv, und manchen gilt gerade die Eltern-Kind-Beziehung als moralisches Vorbild für viele andere Formen menschlicher Abhängigkeit. Nicht wenige werden auf ihre Kindheit als eine besonders schöne Zeit zurückblicken, in der sie sich umsorgt und behütet fühlten, und im Vergleich dazu die Zeit der Freiheit des Erwachsenenalters als eine eher belastende Situation ansehen. Es lohnt sich also zu fragen, warum eine so große, geradezu existenzielle Fremdbestimmung als eine wunderbare Erfahrung und eine Beziehung der fundamentalsten Abhängigkeit als ein moralisch höchst geschätztes Verhältnis aufgefasst werden kann.

Dazu muss vor allen Dingen mehr als bisher die Sicht der Kinder auf dieses Verhältnis ernst genommen werden. Denn bislang wurden die ethischen Fragen aus der Perspektive von Erwachsenen und im Rahmen einer Ethik für Erwachsene gestellt. Für das Neugeborene und das Kleinkind ist aber eine auf den Ideen der Freiheit und Selbstbestimmung fußende Ethik weitgehend sinnlos. Und doch kann die moralische Perspektive des Kindes nicht einfach übergangen werden, so als ob die Phase der Kindheit nur ein Übergangsstadium sei und sich die ernst zu nehmenden Fragen der Ethik erst stellten, wenn das betroffene Individuum das Stadium der moralischen Autonomie erlangt habe. Die Rechte von Kindern ernst zu nehmen heißt, auch das Kind als moralischen Akteur zu betrachten und seine Perspektive neben der des Erwachsenen in ethische Analysen einzubeziehen.

Mit diesem Ziel soll hier also die Geburt betrachtet werden – als ein aus der Perspektive des Kindes hoch bedeutsames moralisches Ereignis. Es ist gekennzeichnet durch das Faktum der „Natalität“, d.h. durch ein radikales Vorherbestimmt-Sein und eine radikale Abhängigkeit der kindlichen Existenz. Was folgt aus Natalität für das moralische Eltern-Kind-Verhältnis?

 

Das Diktat der Geburt

 

Als die Philosophin Hannah Arendt den Begriff „Natalität“ prägte, wollte sie auf das Wunder dieses Lebensanfangs aufmerksam machen. Für Arendt bedeutet Natalität das ganz und gar Unerwartete, das sich in der Geburt eines jeden Menschen manifestiert. Der Mensch wird nicht mit einer bestimmten „Natur“ geboren, sondern ist gekennzeichnet durch Zufall und Unvorhersehbarkeit und muss Antwort geben auf eine ebenso von Zufall und Unvorhersehbarkeit geprägte umgebende Welt.

Radikale Kontingenz und radikale Determiniertheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Weil das Kind sich in Situationen absoluter Fremdbestimmung vorfindet, ist es gezwungen, mit radikaler Offenheit darauf zu reagieren. Das „Diktat der Geburt“ (Ludger Lütgehaus) betrifft Ort und Zeit, Herkunft und Ausstattung, Kultur und Religion. Nichts davon kann sich das Kind aussuchen – weder ob es in einer Kleinfamilie aufwächst noch in einem Nomadenstamm, in Krieg- oder Friedenszeiten, als erstes und einziges oder letztes von zehn Kindern, als lang ersehnter Erbe oder Verhütungsunfall. Für all das muss sich das Kind als offen erweisen, d.h. als fähig, auf unterschiedlichste Menschen, Situationen und Anforderungen zu reagieren und damit zurecht zu kommen. Die modernen reproduktionsmedizinischen Techniken haben der Vielfalt noch einige weitere sozio-kulturell bedeutsame Varianten hinzugefügt. Das Kind einer thailändischen Leihmutter, das von einem schwedischen Elternpaar aufgezogen wird, kann mehr als zwei Eltern und Vorfahren in unterschiedlichen Kontinenten haben; das Kind, das dank Samenspende von einem lesbischen Paar aufgezogen wird, hat zwei Mütter und einen Vater. Dies alles lenkt den Blick auf die eine wiederkehrende Tatsache: Mit der Geburt verbindet sich „nie die Freiheit der Geborenen, nur die ihrer Verursacher“ (Ludger Lütgehaus).

Die Unfreiheit des Neugeborenen setzt sich in seinen ersten Lebensjahren fort. Es kann sich nicht selbst wärmen, sondern muss gewärmt werden. Es kann sich nicht selbst ernähren, sondern muss ernährt werden. Es kann sich nicht selbst bewegen, sondern muss getragen werden. Es hat Eltern und Großeltern, Geschwister, Cousins und Cousinen; es erhält eine Staatsbürgerschaft und wird in einer Religion aufgezogen. Seine Identität, sein Platz in der Familie wird stets in vielerlei Hinsicht vorgeprägt sein: „Natalität“ ist diese existenzielle Situation des Kindes zwischen radikaler Vorher- und Fremdbestimmung einerseits und radikaler Offenheit andererseits. Sie stellt eine moralische Herausforderung für alle jene Beteiligten dar, die sich die Freiheit herausnehmen, dem Kind eine solche Existenz zuzumuten. Dies wird umso deutlicher, je mehr wir Erwachsenen auf die Bedingungen des kindlichen Zur-Welt-Kommens direkten und gezielten Einfluss nehmen können. Mit den praktischen Möglichkeiten, Ort und Zeit der Geburt, genetische Ausstattung und Verwandtschaftsverhältnisse des Geborenen zu bestimmen, tritt die moralische Verantwortung gegenüber dem so gezeugten Lebewesen umso deutlicher hervor.

 

Ethik der Natalität

 

Was ist eine angemessene Antwort auf diese moralisch prekäre Lage des Kindes? Aus der Perspektive des ethischen Liberalismus kann Natalität nur kompensiert werden, indem das Recht der zukünftigen Person auf Selbstbestimmung in den Mittelpunkt gerückt wird. Das leistet z.B. das sogenannte Argument der offenen Zukunft, das vom amerikanischen Philosophen Joel Feinberg in die Debatte eingeführt wurde. Es besagt, Erziehung müsse so gestaltet werden, dass dem Kind alle wesentlichen zukünftigen Optionen offen gehalten werden. Feinberg argumentiert damit gegen bestimmte Formen fundamentaler religiöser Erziehung, wenn diese die schulische Bildung des Kindes kompromittieren. Dies beschränke wesentliche zukünftige Optionen der dereinst erwachsenen Person. Auch Jürgen Habermas versucht, das moralische Problem vorgeburtlicher genetischer Fremdbestimmung zu lösen, indem er auf die Notwendigkeit einer Zustimmung der zukünftigen autonomen Person verweist. Eine Entscheidung sei nur dann zu rechtfertigen, wenn antizipiert werden könne, „dass die zukünftige Person das grundsätzlich anfechtbare Ziel der Behandlung bejahen würde“ (Jürgen Habermas).

Doch jede Ethik, die sich an der Autonomie der zukünftigen Person orientiert, läuft Gefahr, das Kind hier und jetzt zu übergehen. „Dafür wirst Du mir noch einmal dankbar sein!“ sagten die Erwachsenen früher, und damit wurden auch noch die gravierendsten Verstöße gegen die Würde des Kindes gerechtfertigt. Das Schlagen des Kindes war ja in den Augen vieler Pädagogen nicht Selbstzweck oder gar sadistisches Vergnügen, sondern sollte auf die Freiheit als Erwachsener vorbereiten, indem der kindliche Delinquent dazu angehalten wurde, anständig, fleißig oder selbstdiszipliniert zu werden, mithin später einmal eine Persönlichkeit zu entwickeln, der alle Türen offen stehen. Auf die existenziell abhängige Situation des Kindes nur mit einem Versprechen auf zukünftige Autonomie zu reagieren, ist also unzureichend, ja unter Umständen sogar schädlich. Natalität erfordert eine moralische Antwort, die das Kind nicht als zweitrangig hinter seiner zukünftigen erwachsenen Person zurücktreten lässt.

Mit dem Faktum der Natalität als ethischer Herausforderung hat sich auch Immanuel Kant auseinandergesetzt. Dabei berücksichtigt Kant die Perspektive des Kindes. Man könne nicht anders, als „den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben“. Die Heteronomie der Geburt erzeuge eine moralische Pflicht der Eltern, ihre Kinder für diesen Zustand zu kompensieren, da „auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen“ (Immanuel Kant). Die moralische Antwort der Eltern muss der existenziellen Situation des Kindes angemessen und so beschaffen sein, dass das Kind mit seinem fremdbestimmten Zustand zufrieden sein kann. Dies ist Aufgabe und Ziel der moralischen Kompensationsleistung der Eltern.

Für deren konkrete Ausgestaltung gibt es allerdings angesichts der Tatsache, dass Kinder unter den unterschiedlichsten Bedingungen zur Welt kommen, keine einfachen Rezepte. Natürlich denkt man dabei zunächst an solche einfachen Handlungen wie Füttern oder Windeln, ohne die ein Kind nicht überleben kann. Aber satt sein und sauber sein allein genügt nicht, um den Menschen mit seinem „Zustande zufrieden zu machen“. Die Verantwortung der Eltern gegenüber ihrem Kind gilt nicht nur einem bedürftigen Wesen, das gewindelt und gefüttert werden muss, sondern der Person, die eigenmächtig „herüber gebracht“ wurde.

Dieses existenzielle Ausgeliefert-Sein des Neugeborenen wird nicht ausreichend mit der Pflicht zu einzelnen Fürsorge-Leistungen beantwortet. Sonst würden Eltern sich nicht von professionell Pflegenden unterscheiden. Das Wesen der Elternschaft besteht gerade darin, solche funktionalen und instrumentellen Zwecke zu überschreiten. Die moralische Rolle der Eltern leitet sich auch nicht allein aus der Zukunft der Person des Kindes her (im Sinne einer Erziehung zu einem selbständigen Menschen), sondern aus der schieren Gegenwart, und zwar aus dem umfassenden Angewiesen-Sein des Kindes auf sein Gegenüber, das sich als verantwortungsbewusst zu erweisen hat. Und es ist diesem Verständnis zufolge nicht primär die Erfüllung bestimmter Fürsorgepflichten, die das Gegenüber als moralisch verantwortungsbewusst kennzeichnen, sondern die Haltung angesichts des Faktums der Natalität.

 

Das Kind ist moralischer Akteur

 

Das Wesen elterlicher Verantwortung wird in der Literatur üblicherweise als Schutz und Sorge für das Kind aufgefasst. Tatsächlich wird es im Alltag oft auf solche Akte der Sorge, der Interessensvertretung oder des Schutzes hinauslaufen. Doch greift diese Charakterisierung, die auf das Instrumentelle elterlichen Handelns zielt, zu kurz und trifft nicht das Eigentliche. Umfassende Sorge und elementare Zuständigkeit für das Kind sowie persönliche Zuwendung zum Kind implizieren mehr als Schutz und Sorge. Im Mittelpunkt steht nicht die Funktionalität bestimmter Handlungen (Wird das Kind gut ernährt? Wird es vor Gefahren geschützt?), sondern eine bestimmte Haltung, mit der das Kind in seiner Abhängigkeit und seinem Ausgeliefert-Sein als moralisch gleich anerkannt wird. Das setzt allerdings voraus, dass das Kind nicht nur als schutzbedürftiges Wesen, sondern auch als moralischer Akteur anerkannt wird. Hierin liegt vermutlich die größte Hürde für eine Ethik der Natalität. Denn die Entwicklungspsychologie ist über lange Zeit davon ausgegangen, dass das Kind ein amorales Wesen ist, das Moralität erst von den Erwachsenen erlernt. Ganz unbemerkt von der philosophischen Ethik hat sich aber in der Entwicklungspsychologie eine Revolution vollzogen. Forscher wie Michael Tomasello, Alison Gopnik oder Charles Helwig konnten zeigen, dass schon Dreijährige ein grundlegendes Moralempfinden zeigen, das unabhängig vom Urteil erwachsener Autoritäten ist. Und das bedeutet: Das Kind ist nicht nur schutzbedürftig, es bedarf der Anerkennung als moralisch empfindendes Wesen. Es ist nicht Objekt elterlichen Schutzes, sondern Beziehungssubjekt.

Während es womöglich noch naheliegend ist, das Kleinkind als moralisch empfindendes Wesen aufzufassen, fällt es jedoch schon wesentlich schwerer, in ihm auch einen moralischen Akteur zu sehen – eine Person, die aktiv moralische Beziehungen gestaltet. Das liegt zum einen daran, dass die Ethik oft mit einem sehr eingeengten Begriff des moralischen Akteurs operiert. Diesem engen Verständnis zufolge ist ein moralischer Akteur jemand, der moralische Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Das können Kleinkinder nicht. Meines Erachtens ist es nicht angezeigt, den Begriff derart auf bestimmte moralische Verhaltensweisen zu reduzieren (und damit implizit kleine Kinder aus der Welt der moralischen Akteure zu verbannen). Unter einem moralischen Akteur verstehe ich eine Person, die zu moralischen Empfindungen in der Lage ist und ihr Verhalten danach ausrichtet. Eine solche Charakterisierung trifft auch schon auf Kleinkinder zu. Zwar können Kleinkinder keine rationalen Entscheidungen über das moralische angemessenste Verhalten treffen, aber sie können auf eine sehr basale Art und Weise ihren Moralempfindungen Ausdruck verleihen. Die meines Erachtens wichtigste Verhaltensweise ist Vertrauen. Indem das Kind Vertrauen schenkt oder Vertrauen entzieht, handelt es als moralischer Akteur.

 

Vertrauen im Übermaß

 

Zutreffend ist deshalb meines Erachtens Burckhard Liebsch‘ Charakterisierung von Elternschaft als eines Versprechens, das Vertrauen des Kindes nicht zu enttäuschen. Elternschaft wird dieser Auffassung zufolge in normativer Hinsicht nicht durch Zeugung oder durch einen Entschluss der sorgenden Person begründet; zu Eltern wird man vielmehr eingesetzt angesichts des im Übermaß vertrauenden Kindes. Dieses Vertrauen des Kindes ist verschwenderisch, denn es rechnet nicht mit einem ausgewogenen Geben und Nehmen.

Der Begriff des Vertrauens ist hervorragend geeignet, moralische Beziehungen jenseits von freiwilligen Zusammenschlüssen von Menschen zu charakterisieren. Die Bedeutung von Vertrauen für förderliche zwischenmenschliche Beziehungen, sein Stellenwert als ein soziales Gut, seine Implikation der Verletzlichkeit des Menschen, der für Vertrauen notwendige Glaube an ein Gutes im Anderen – diese Eigenschaften haben Vertrauen zu einem gerade für Ethiker faszinierenden Begriff werden lassen. Ein Vertrauensverhältnis ist ein Abhängigkeitsverhältnis, denn wer vertraut, überantwortet dem Vertrauten – jedenfalls in Teilen – die Verantwortung für das eigene Wohlergehen, ohne dessen Handlungen im Einzelnen kontrollieren zu können. Dennoch ist der Abhängige nicht ohnmächtig dem anderen ausgeliefert, denn indem er vertraut, verpflichtet er sein Gegenüber implizit zu einem förderlichen Verhalten. Wer Vertrauen leichtfertig enttäuscht, muss mit sozialen Sanktionen rechnen, beispielsweise mit dem Entzug der Freundschaft. Und mehr noch: Gegen Vertrauenspraxen zu verstoßen hat oft weitreichende gesellschaftliche Folgen, für die man ebenfalls zur Verantwortung gezogen werden kann. Ein Arzt, der professionelles Vertrauen verspielt, etwa weil er Operationen nur gegen Bestechungsgeld durchführt, kann der ganzen Profession Schaden zufügen und muss deshalb mit weitreichender Missbilligung rechnen.

Wenn man die Eltern-Kind-Beziehung als ein umfassendes Vertrauensverhältnis versteht, berücksichtigt man zum einen die existenzielle Abhängigkeit des Kindes, gesteht dem Kind zum anderen aber auch eine moralisch aktive Rolle zu. Denn indem das Kind Vertrauen schenkt, übernimmt es einen aktiven Part in der Beziehung. Man mag hier einwenden, dass ein sehr kleines Kind ja nicht anders könne, als den Eltern zu vertrauen. Doch auch ein sehr kleines Kind kann schon mit nachhaltigem Misstrauen auf grob ungeschickte oder gar böswillige elterliche Verhaltensweisen reagieren; dies äußert sich etwa in abwehrendem Verhalten, Schreien oder emotionalem Rückzug. Kinder machen von dieser Möglichkeit, Erwachsene in ihrem Verhalten zu beeinflussen, früh Gebrauch. Nach Erik Erikson äußert sich schon das Urvertrauen des Kindes in den ersten Monaten darin, dass das Kind die Abwesenheit der Mutter erträgt, ohne zu schreien. Eltern wird diese Bereitschaft, ihnen auch in Abwesenheit zu vertrauen, motivieren, dem Kind zu Hilfe zu eilen, wenn es schreit. So induziert geschenktes Vertrauen weiteres vertrauenswürdiges Verhalten, und das wiederum ermöglicht neues Vertrauen. In dieser Interaktion sind beide Partner aktiv, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Jedes elterliche Spiel, jede Interaktion ist ein Werben um das Vertrauen des Kindes – die Reaktionen des Kindes wiederum zeigen, wann Vertrauen geschenkt wird und wann nicht. Wenn man das Kind „in die Höhe“ wirft, um ihm Vergnügen zu bereiten, wenn es das erste Mal allein laufen soll, wenn es zum Arzt gebracht wird, um sich untersuchen zu lassen, werden Eltern und Kind gemeinsam herausfinden müssen, was das Kind bereit ist, mitzumachen, und wann sich sein Vertrauen erschöpft.

 

Das Kind als Beziehungssubjekt

 

Ich habe eine moralische Konzeption von Elternschaft vorgestellt, die in der Natalität des Kindes ihren Ausgang nimmt. Natalität meint die existenzielle Situation des Kindes zwischen radikaler Vorher- und Fremdbestimmung einerseits und radikaler Offenheit andererseits. Vom Faktum der Natalität geht ein moralischer Appell aus, auf den die Eltern mit dem Versprechen antworten, das in sie gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen. Selbst wenn man zugesteht, dass es sich dabei um ein anspruchsvolles moralisches Ziel handelt, dem die allermeisten Menschen im Lebensalltag allenfalls nahe kommen, hat dieses Ideal doch eine hohe gesellschaftliche Bedeutung und erklärt das außerordentlich große Maß an Zuwendung, ja Selbstaufopferung, zu dem viele Eltern in der Lage sind. Dies lässt sich nur begreiflich machen, wenn wir die elterliche Selbstverpflichtung als Spiegelbild des kindlichen Ausgeliefert-Seins verstehen. Die moralische Beziehung zwischen Eltern und Kind wird dadurch reziprok: Dem umfassenden Ausgeliefert-Sein wird mit einem ebenso umfassenden Versprechen auf Vertrauen entgegnet. Nur so erscheint das Kind nicht wie ein Objekt der Fürsorge, sondern wie ein echtes Beziehungssubjekt. Das elterliche Versprechen zielt also hoch – nicht auf die Bedürfnisse des Kindes, sondern auf das Kind als Person und moralischer Akteur.

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