Auf die moderne Konzeption von Demokratie haben im Lauf der Begriffs- und Ideengeschichte ganz unterschiedliche Faktoren eingewirkt. Um zu verstehen, was Demokratie begrifflich gesehen ausmacht, sollten wir uns darum genauer mit der langen historischen Entwicklung des Demokratieverständnisses befassen. Ein rascher Blick auf die griechische Antike genügt da mit Sicherheit nicht. Man muss sich klarmachen, dass es neben Gemeinsamkeiten des griechischen und des modernen Demokratieverständnisses auch erhebliche Differenzen gibt. Und so ist es wichtig zu sehen, dass man sich, um die moderne Auffassung von Demokratie richtig zu erfassen, auch die Merkmale des Römischen Republikanismus vor Augen führen muss. Danach kommen zwei weitere wesentliche Impulsgeber für unsere Auffassung von liberaler Demokratie zur Sprache: die spätantik-mittelalterlichen Zwei-Reiche-Lehren und die frühneuzeitliche Tradition des utopischen Denkens. Und schließlich wende ich mich noch der typisch neuzeitlichen Verbindung von Demokratie und Menschenrechten zu.
Unsere moderne Bevorzugung der Demokratie richtet sich auf eine politische Organisationsform, die sich deutlich von derjenigen aus dem griechischen Ursprungskontext unterscheidet. Die Griechen verstanden unter einer Demokratie eine ziemlich kleine politische Einheit. Sie umfasste wenige tausend Bürger und sah eine unmittelbare Form der Staatsverwaltung durch das Volk vor. Historisch vertraut sind wir mit dieser Staatsform besonders durch jene Form, in der sie in Athen nach den Reformen des Kleisthenes (508/7 v. Chr.) in Erscheinung trat und zu Lebzeiten des Perikles (ca. 500-429 v. Chr.) ihre Blüte erreichte.
Wesentliche Teile der politischen Macht in der Athenischen Demokratie lagen in den Händen einer häufig zusammentretenden Volksversammlung (ekklêsia), in der jeder freie männliche Erwachsene mitberaten, mitstimmen und für jedes Amt kandidieren durfte. Dazu wurden aufwändige Sitzungen abgehalten, die mit komplizierten Prozeduren der Meinungsbildung, Entscheidungsfindung und Ämtervergabe verbunden waren. Es handelte sich um eine personell, finanziell und zeitlich aufwändige Form direkter Demokratie, die jedoch gleichzeitig elitär orientiert und menschenrechtlich problematisch war, da sie Sklaven und Frauen grundsätzlich ausschloss. Ein schwaches repräsentatives Element besaß die Athenische Demokratie in ihrer Ratsversammlung (boulê), in welcher 500 Abgeordnete Diskussionsvorlagen für die ekklêsia erarbeiteten. Das Gerichtswesen lag wiederum in den Händen von Bürgern, die durch ein Losverfahren zu Richtern in Volksgerichten (dikastêria) bestellt wurden.
Herodot und Thukydides
Andererseits bestehen auch wichtige Hinsichten, in denen moderne Demokratien mit jener Staatsform übereinstimmen, die im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts herrschte. Dies zeigt sich an zwei zeitgenössischen Dokumenten, in denen positive Einschätzungen von Prinzipien und Wirkungen auftauchen, die man bis heute für die Demokratie geltend macht.
[a] In Herodots Historien finden wir eine der ältesten überlieferten Belegstellen für den Begriff Demokratie (VI 43). Auch ist es Herodot, der uns die älteste Verfassungsdiskussion der Theoriegeschichte überliefert (III 80-82). Er lässt einen Verteidiger der Demokratie folgende Punkte anführen: „Die Herrschaft des Volkes besitzt zunächst einmal die schönste Bezeichnung von allen [Verfassungsformen]: nämlich die der rechtlichen Gleichheit (isonomiê). Zweitens weist sie keinen [von den Fehlern] auf, die der Monarch begeht. Sie vergibt Regierungsaufträge durch das Los, sie zieht die Regierung zur Verantwortung, und sie bringt alle Beschlüsse vor die Volksversammlung“ (III 80).
Zudem lastet der von Herodot dargestellte Verteidiger der Isonomie oder Demokratie es der Monarchie an, dass sich Alleinherrscher in ihr mit Notwendigkeit zu Tyrannen entwickeln, welche sich an Leib und Leben sowie an den Gütern ihrer Bürger vergreifen. Somit enthält sein Lob der Demokratie folgende Punkte: Demokratische Staaten stellen rechtliche Egalität unter den Bürgern her, sie vergeben Regierungsämter ohne Ansehen der Person und mit befristeter Amtszeit, sie verbinden politische Funktionen mit dem Prinzip der Rechenschaftsgabe, sie stellen alle wesentlichen Fragen öffentlich zur Diskussion und zur Entscheidung, und sie vermeiden egozentrische Willkürakte, wie sie für Monarchien typisch sind. Dieser bemerkenswerte Text entstammt der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr.
[b] Einige Jahrzehnte später verfasste Thukydides sein Geschichtswerk (Historiae) über den Peloponnesischen Krieg (431-404 v. Chr.), in welchem er Perikles im Rahmen der berühmten Gefallenenrede folgende Feststellungen über die demokratische Verfassung Athens in den Mund legt: „Die Staatsverfassung, die wir haben, richtet sich nicht nach den Gesetzen anderer, viel eher sind wir selbst für manchen ein Vorbild, als dass wir andere nachahmten. Mit Namen heißt sie, weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist, Demokratie. Es haben aber nach den Gesetzen in den persönlichen Angelegenheiten alle das gleiche Recht, nach der Würdigkeit aber genießt jeder – wie er eben auf irgendeinem Gebiet in Ansehen steht – in den Angelegenheiten des Staates den Vorzug weniger aufgrund eines regelmäßigen Wechsels [in der Bekleidung der Ämter], sondern aufgrund seiner Tüchtigkeit. Ebenso wenig wird jemand aus Armut, wenn er trotzdem für die Stadt etwas leisten könnte, durch seine unscheinbare Stellung daran gehindert. Frei leben wir als Bürger im Staat und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen, wenn er sich einmal ein Vergnügen macht, und ohne unseren Unmut zu zeigen, der zwar keine Strafe ist, aber doch durch die Miene kränkt. Wie ungezwungen wir aber auch unsere persönlichen Dinge regeln, so hüten wir uns doch im öffentlichen Leben, allein aus Furcht, vor Rechtsbruch – in Gehorsam gegen Amtsträger und Gesetze, hier vor allem gegen solche, die zum Nutzen der Unterdrückten erlassen sind, und die ungeschriebenen, deren Übertretung nach allgemeinem Urteil Schande bringt“ (II 37.1-3; Übers. Vretska/Rinner).
Auch Perikles’ Rede ist ein bemerkenswertes Dokument. Aus seinen Worten sprechen zunächst Stolz und Selbstbewusstsein über die progressive Sonderstellung Athens, das seinen eigenen, von anderen vielfach imitierten Weg geht. Sodann hebt Perikles die Orientierung dieser Staatsform an der Mehrheit hervor, womit sowohl das Mehrheitsprinzip (als Entscheidungsregel) als auch der Gemeinnutzen (als Staatsziel) gemeint sein können. Davon unberührt ist nach Perikles das Leistungsprinzip, das nicht-egalitär und bereichsspezifisch gilt.
Entkoppelt sind in der von Perikles gerühmten Athenischen Demokratie das rechtlich-politische Gleichheitsprinzip und der bereichsspezifische Konnex von Leistung und Verdienst; ebenfalls voneinander losgelöst sind das Besitzprinzip und die Grundsätze der Ämtervergabe. Überdies wird herausgestrichen, dass in Athen Liberalität und Toleranz herrschen, und zwar im Sinn von Bürgertugenden: Die Bürger nehmen im Verhältnis zueinander Haltungen der Nachsicht und des Wohlwollens ein; erforderlich sind diese Haltungen vor dem Hintergrund ihrer differenten Präferenzen und Lebensstile. Sodann wird der politische Gehorsam akzentuiert, d.h. die Loyalität der Bürger gegenüber den Spielregeln und den demokratisch zustande gekommenen Einzelentscheidungen. Und schließlich betont Perikles den Respekt der Athener gegenüber den ‚ungeschriebenen Gesetzen’ (agraphoi nomoi), seien damit nun gewohnheitsrechtlich-konventionelle oder allgemein menschliche moralische Standards gemeint.
Platon und Aristoteles
Von der vereinfachten Vorstellung ausgehend, dass die Demokratie die ungebildete, charakterlich instabile Bevölkerung in einen despotischen Regentenstatus befördert, haben demgegenüber Platon und Aristoteles die Demokratie kritisch beurteilt. Platons Demokratie-Kritik in der Politeia wirkt ausgesprochen karikaturhaft; er vermutet, es komme aufgrund der demokratietypischen Abschaffung jeglichen Zwangs zu einer ungezügelten, anarchischen Freiheit (555b-562a). Die von ihm favorisierte herausgehobene Rolle des Philosophen im Staat fasst Platon in das Bild des Steuermannes, der das Staatschiff mit seiner nautischen Kompetenz vollkommen lenken könnte (488b-489a). In seinem Politikos erhält die Demokratie immerhin einen Mittelrang bei der vergleichenden Bewertung der Staatsverfassungen.
Aristoteles legt in seiner Politics der Demokratie zur Last, sie sei zu sehr an Volksabstimmungen und zu wenig an der Gesetzesbefolgung ausgerichtet (IV 7). In diesem von Platon und Aristoteles gemeinsam vorgebrachten Einwand scheint ein berechtigter Kern zu liegen. Was beide Philosophen dieser Staatsform vorwerfen, ist, dass sie sich bei politischen Entscheidungen mehr auf Rhetorik als auf Expertenwissen stützt, zu populistischen Kurzschlüssen neigt und bei ihren Amtsträgern zu wenig Wert auf gute Charaktereigenschaften legt. Man kann diesen Kritikpunkt als die Zurückweisung eines politischen Voluntarismus bezeichnen. Es wirkt gut nachvollziehbar, dass sich willkürlich getroffene Einzelfallentscheidungen verglichen mit einer politischen Prinzipienorientierung, die in Institutionen und Prozeduren ihren Niederschlag findet, häufig nachteilig auswirken.
Ein Konzept, das dem Kontext der römischen Verfassungstheorie entstammt, erlangte in der Neuzeit eine vergleichbar hohe Bedeutung wie der griechische Demokratiebegriff (und ging dann häufig Verbindungen mit diesem ein): die Idee der Republik. Man verband damit zum einen den Gedanken einer allgemeinen Bürgerbeteiligung (der Staat ist nach republikanischer Auffassung eine ‚öffentliche Angelegenheit’), zum anderen eine strikte Prinzipienorientierung und Regeleinhaltung: Die römischen Spitzenbeamten (magistratus), insbesondere die Konsuln, waren unter strenge Regulative der Gesetzesbefolgung und der Machtbegrenzung gestellt; charakteristisch hierfür sind etwa der Grundsatz des jährlichen Amtswechsels (Annuität) oder der der wechselseitigen Amtsaufsicht (Kollegialität).
Das Konsulat wurde ebenso wie die anderen Ämter nach Grundsätzen der Würde und Eignung und aufgrund einer Wahl vergeben. Bereits in der Antike waren es überdies zwei weitere Merkmale, in denen man die Ursache für den erstaunlichen Aufstieg Roms zur Weltmacht erblickte: die römische Mischverfassung und das integrative Traditionsbewusstsein. Es war der griechische Historiker Polybios, der als erster die Besonderheit der Römischen Republik darin sah, dass sie die besten Elemente aus Monarchie, Aristokratie und Demokratie in sich vereinige, weswegen sie allen Bevölkerungsgruppen gerecht werde und einen hohen Stabilitätsgrad erreiche (Historien VI).
Die Konsuln repräsentieren das monarchische Prinzip, der Senat steht für das aristokratische Element und die Volksversammlung für den Aspekt der Demokratie. In De re publica I hat Cicero diese Darstellung des altrömischen Staates als einer Mischverfassung (permixta conformatio rei publicae) aufgegriffen und dieser Staatsform bescheinigt, sie erreiche ein einzigartiges Maß an Fairness (aequalitas) und Stabilität (firmitudo). Hinzu kommt, dass römische Historiker und Staatstheoretiker die politische Größe immer wieder damit in Verbindung brachten, dass die Bürger ein hohes Maß an Loyalität und Identifikation mit dem Staat besaßen, weil sie sich mit der freiheitlichen und partizipatorischen Tradition der Vorfahren (mos maiorum) identifizierten.
Rousseau und Kant
In der frühneuzeitlichen Theoriebildung spielte die Nachwirkung des römischen Republikanismus sogar eine wichtigere Rolle als das Vorbild der athenischen Demokratie, wie man an den Beispielen Rousseau, Kant und Madison belegen kann. Das Ideal einer Republik ist bei Rousseau direkt mit zwei wesentlichen positiven Neuprägungen verknüpft: dem Begriff der Volkssouveränität und dem der volonté générale. In Du contrat social (1762; II 4 und IV 2) postuliert Rousseau eine republikanische Staatsordnung, die die Freiheit, mit der alle Menschen bei ihrer Geburt ausgestattet seien, auch unter staatlichen Bedingungen zu bewahren vermag; darin soll sich eine Republik von den zeitgenössischen Monarchien unterscheiden, die einseitige Herrschafts- und Unterdrückungsordnungen darstellen. Für die Staatsetablierung nimmt Rousseau wie Hobbes an, alle Vertragschließenden müssten beim Übergang vom Natur- in den Staatszustand ihre Freiheiten abtreten, meint aber, sie erhielten sie dadurch zurück, dass in einem bestmöglichen Staat das Volk der Souverän, d.h. der ungeteilte Machthaber, sei.
Politische Machtausübung und Gesetzesherrschaft sollen nämlich dann die Freiheit nicht beschränken, wenn sie im Interesse des Ganzen praktiziert werden. Legitime Herrschaft gilt für ihn als Ausdruck des Gemeinwillens (volonté générale); unter diesem versteht Rousseau nicht die Summe oder ein Amalgam von Individual- und Partikularinteressen (das wäre eine volonté de tous), sondern die Orientierung am gemeinsamen Guten.
Auch Kants normatives Staatsideal heißt Republi’, während er die Demokratie dafür tadelt, dass sie zwingend zu einem Despotismus führe. In der Schrift Zum ewigen Frieden (1795) unterscheidet Kant zwischen zwei Blickwinkeln, unter denen man Staatsformen thematisieren kann: zwischen der Form der Beherrschung (forma imperii) und der Form der Regierung (forma regiminis). Die erste Perspektive ergibt sich aus der Frage, wie viele Personen herrschen; je nach Anzahl der an der Macht Beteiligten kann man von Autokratie, Aristokratie oder Demokratie sprechen.
Die zweite Perspektive hängt mit der Frage zusammen, ob ein Staat seine Machtvollkommenheit republikanisch oder despotisch gebraucht; republikanische Verfassungen trennen Exekutive und Legislative, stellen also die ausführende Gewalt unter den allgemeinen Willen (Ak. VIII 352 f.). Kant selbst favorisiert eine Herrschaft möglichst weniger Personen, die aber im Sinn eines Republikanismus unter Regeln des Gemeinwohls gestellt ist.
Selbst eine der Gründungsfiguren der Vereinigten Staaten, James Madison, verwendet in den Federalist Papers (1787-88) den Demokratiebegriff mit Zurückhaltung und kennzeichnet die USA stattdessen als eine Republik. Versteht man jedoch unter Demokratie eine Staats- oder Herrschaftsform, die sich auf das Prinzip des Gemeinwillens oder der Volkssouveränität stützt, so lässt sich der Republikanismus bei Rousseau, Kant und Madison durchaus auf die Demokratietheorie übertragen.
Augustinus und Luther
Aus der langen Theoriegeschichte der Staatsideen und Verfassungsformen seien noch zwei weitere wesentliche Stationen erwähnt: die christlichen Zwei-Reiche-Konzeptionen und die Tradition des Utopismus. Beide haben historisch betrachtet einen bemerkenswerten Beitrag zur Entstehung der liberalen Demokratie geleistet.
Die Vorstellung, der Mensch gehöre als Bürger zwei grundverschiedenen Reichen an, einem irdischen und einem himmlischen oder einem weltlichen und einem geistlichen Reich, ist eine Idee, die bereits in den antiken Naturrechtsideen und im Platonismus eine gewisse Rolle spielt. Eine beherrschende Stellung erlangte sie in der christlichen Staatsphilosophie, wo man sie hauptsächlich aus zwei neutestamentlichen Textpassagen ableitete, die zueinander in einem gespannten Verhältnis stehen: Zum einen schreiben die Evangelien Jesus die Aussage zu, man solle dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist (Mt 22,21; Mk 12,17; Lk 20,25). Und zum anderen konstatiert Paulus, man müsse als Christ der staatlichen Ordnung Gehorsam entgegenbringen, da sie von Gott eingesetzt sei und in Gottes Dienst stehe (Römer 13,1-7).
Man fragt sich mit Blick auf diese beiden Texte, ob eher eine Separation oder eher eine Einheit der religiösen und der politischen Sphäre zu denken ist. Wie immer man die Qualität dieser Interpretation beurteilen mag: Im lateinischen Westen bildete sich in der christlichen politischen Theorie eine Richtung heraus, die man nach dem Kirchenvater Augustinus (354-430 n. Chr.) als politischen Augustinismus bezeichnet und die unterschiedliche Spielarten einer Zwei-Reiche- oder Zwei-Schwerter-Lehre enthält. Augustinus selbst vertrat in seiner Schrift De civitate dei eine stark philosophisch orientierte Version dieser Vorstellung: Danach gehört jeder Mensch aufgrund seiner moralischen Orientierung genau einem der beiden Reiche an, der civitas caelestis (der himmlischen Stadt) oder der terrena civitas (der irdischen Stadt).
Hiermit ist keine institutionelle Mitgliedschaft gemeint, sondern eine moralische Gruppenzugehörigkeit, die Konsequenzen für die Erwählung oder Verwerfung des Menschen durch Gott besitzen soll. Die Zwei-Reiche-Lehre erhält auf diese Weise eine spiritualisierte und moralisierte Form. Nach Augustinus lässt sich weder die himmlische Stadt mit der (moralisch teilweise fragwürdigen) Kirche gleichsetzen noch die irdische Stadt mit der politischen Herrschaftsordnung (der ja nicht nur die moralisch unvollkommenen, sondern alle Bürger unterliegen). Kirche und Politik bestehen jeweils aus Angehörigen der zwei Reiche; sie bilden einen Mischkörper aus beiden Gruppen (corpus permixtum). Die besondere Pointe dieses Ansatzes liegt darin, dass die Politik religiöse Forderungen und Gebote nicht sinnvoll gewährleisten kann. Religion und Staat müssen prinzipiell voneinander getrennt werden.
In Spätantike und Mittelalter besaß die genaue Auslegung dieser Konzeption deswegen eine besondere Brisanz, weil sie für die Kompetenzzuweisung von geistlicher und weltlicher Autorität, von Kirche und Staat sowie des Papstes und des Kaisers maßgeblich war. Innerhalb der mittelalterlichen Wirkungsgeschichte lassen sich zahlreiche Varianten des politischen Augustinismus unterscheiden, und zwar besonders im Zusammenhang mit dem Investiturstreit in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Separation oder Einheit von Religion und Politik bilden seit dieser Zeit ein Dauerthema der westlichen Staatstheorie.
Eine brisante Rolle spielt die Zwei-Reiche-Lehre beispielsweise in der politischen Theologie Martin Luthers (1483-1546). In seiner Schrift Von weltlicher Obrigkeit (1523) ist Gott der Herr zweier Reiche, deren Regentschaft zum einen Christus und zum anderen der Kaiser innehaben; Luther tat sich aufgrund seiner Konzeption schwer, legitime politische Forderungen von illegitimen zu unterscheiden, wie der Fall der Bauernkriege zeigt. Für die europäische Moderne ist die Zwei-Reiche-Konzeption insofern von erheblicher Bedeutung, als sich in ihr die Trennung von Kirche und Staat, von Religion und Gesellschaft abzeichnet.
Thomas Morus und andere Utopien
In der älteren Theoriegeschichte zum Problem staatlicher Verfassungen bilden ferner Utopien und Idealstaatsentwürfe ein wichtiges Teilthema. Der sachliche Grund dafür liegt auf der Hand: Sobald normative Zielvorstellungen diskutiert werden, stellt sich die weitergehende Frage, wie ein normatives Optimum des menschlichen Zusammenlebens auszusehen hätte. Seit dem epochalen Werk Utopia (1516) von Thomas Morus (1478-1535) hat sich für solche Idealstaatsentwürfe der Begriff der Utopie eingebürgert. Bei Morus’ Entwurf handelt es sich um die Utopie einer idealen Inselgesellschaft, die in kritischer und satirischer Absicht den Zuständen des zeitgenössischen England gegenübergestellt wird.
Morus spielt dabei mit der im Englischen bestehenden Homophonie von ‚utopia’ (=nicht-existenter Ort) und ‚eutopia’ (=vorzüglicher Ort). In Morus’ Utopie spielen zum einen konservative Vorstellungen von einer optimalen agrarischen Wirtschaftsform eine Rolle, zum anderen aber auch die progressive Idee einer Auflösung des Privateigentums und einer kostenlosen staatlichen Verteilung aller Güter und Produkte. Beginnend mit Morus’ Buch zieht sich durch die Geschichte utopischen Denkens eine Linie, die aus den Motiven des radikalen Egalitarismus, des Anarchismus und des Güterkommunismus besteht.
Offenbar kann man Utopien aus zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven formulieren: Einerseits lässt sich das Überlegen ganz von Realitätsbedingungen loslösen; Vorstellungen von einem bestmöglichen sozialen Zustand mögen in diesen Fällen etwa auf religiösen Prämissen beruhen oder sich auf frei erfundene technische Fortschrittshoffnungen stützen. Sie stellen dann bloße Gegenbilder zur aktuellen sozialen Wirklichkeit dar, die immerhin einigen heuristischen Wert haben können.
Zum anderen kann man an den Realitätsbedingungen festhalten und dennoch fragen: Wie müsste ein Staat beschaffen sein, damit er unseren maximalen Hoffnungen, unseren weitestgespannten Erwartungen mit Blick auf Gerechtigkeit, Wohlstand oder das Glück aller Individuen (oder was wir uns sonst wünschen mögen) entsprechen könnte? Auf eine politische Umsetzung bezogen sind dagegen solche Utopien, die sich in ein greifbares Verhältnis zu den aktuellen politischen Zuständen setzen und durch nicht zu weitreichende Änderungen der gegenwärtigen Situation zu erreichen wären; dazu zählen etwa im vorrevolutionären Frankreich des 18. Jahrhunderts die regimekritischen Utopien von Fénelon oder des Abbé de Saint Pierre. In der Mehrzahl der Entwürfe handelt es sich um Ideen zu einer starken Form von Republikanismus oder Demokratie.
In der Geschichte utopischer Staatsentwürfe kann man ferner zwischen Raumutopien und Zeitutopien unterscheiden: also solchen, die an anderen Schauplätzen (evtl. in exotischen Ländern) spielen, und solchen, die ihre Kontrastwirkung aus der Verlegung der Perspektive in eine andere Epoche beziehen. Dabei sind rückwärtsgewandte von zukunftsgewandten Utopien voneinander abzugrenzen. Weiter ist zu berücksichtigen, dass man den Utopie-Begriff keineswegs immer positiv aufzufassen braucht. Im 20. Jahrhundert tritt in grundlegender Opposition zur gesellschaftskritischen oder normativen Utopie die bedrohliche oder negative Dystopie auf den Plan, wie man sie aus den albtraumartigen Zukunftsvisionen in Aldous Huxleys Brave New World und aus George Orwells Nineteen Eighty-Four kennt. Hinzu kommt, dass man den Utopie-Begriff nicht selten geringschätzig und pejorativ verwendet.
Innerhalb der Theorietradition des Sozialismus war es Friedrich Engels, der in seiner Schrift Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1882) dem Ausdruck utopisch die negative Einfärbung des Naiven, Blauäugigen oder Illusorischen verliehen hat. Damit versucht er die wissenschaftliche Zugangsart gegenüber der literarischen Darstellungsform der älteren Sozialutopien aufzuwerten. Es war daher ein bewusster Gegenakzent, den Ernst Bloch (1885-1977) mit der Verteidigung der Kategorie des Utopischen setzte. Blochs Werk Das Prinzip Hoffnung (1959) verfolgt die Tradition des utopischen Denkens durch die gesamte philosophische, religiöse, literarische und politische Geistesgeschichte; dabei fasst Bloch das Utopische als das permanent vorhandene positive Potential für einen sozialen Wandel auf.
Von Platon stammt die früheste Idealstaatsutopie und in Verbindung damit die älteste eingehende Schilderung fehlentwickelter Verfassungen, die erste ‚Pathologie der Staatsformen’ (Politeia VIII 545c-IX 580b). Doch vielleicht muss er selbst als geistiger Urheber der problematischsten aller Staatsformen gelten: als Erfinder des Totalitarismus. Zumindest hat Karl Popper in seinem einflussreichen Werk Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1945) eine Reihe von Elementen, die als Merkmale des Totalitarismus gelten können, in der Platonischen Politeia ausfindig machen wollen: Kollektivismus und Militarismus, Eugenik und Rassismus, politische Propaganda und Historizismus (d.h. die Auffassung, es gebe einen objektiven, prognostizierbaren Geschichtsverlauf). Ob Platons Staatsentwurf tatsächlich totalitär ist, ist ein bis heute kontrovers diskutiertes Problem.
Die Idee der Menschenrechte
Abschließend ist es wichtig zu sehen, dass es einen Faktor unseres modernen Demokratieverständnisses in Antike und Mittelalter tatsächlich gar nicht gibt, nämlich die Idee der Menschenrechte. Weder existierte im Altertum (oder im Mittelalter) ein präzises Äquivalent für den Ausdruck Menschenrechte, noch gibt es einschlägige theoretische Reflexionen bei einem der Philosophen, noch finden wir irgendeine politisch-soziale Bewegung, die sich der Idee der Menschenrechte verschrieben hätte. Dazu fehlt es u.a. an der universalistischen Perspektive, aber auch an der Idee der Menschenwürde. So wurde etwa ein Abolitionismus, also die Forderung nach grundsätzlicher Abschaffung der Sklaverei, in der Antike weder philosophisch noch politisch je vertreten, nicht einmal von aufständischen Sklaven selbst. Menschenrechtskataloge liegen uns aus dem Altertum weder im Sinn von individuellen Schutz- oder Abwehrrechten gegen den Staat vor noch gar im Sinn von Teilnahmerechten oder Sozialrechten.
Hingegen spielt die Forderung nach Sicherstellung grundlegender Menschenrechte eine erhebliche Rolle, die in politischen Bewegungen des 18. Jahrhunderts, besonders der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution, ihren Höhepunkt erreicht.
So schreibt Thomas Jefferson in der Unabhängigkeitserklärung der USA (4. Juli 1776): „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und sie auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glücks geboten zu sein scheint. Gewiss gebietet die Vorsicht, dass seit langem bestehende Regierungen nicht um unbedeutender und flüchtiger Ursachen willen geändert werden sollten, und demgemäß hat noch jede Erfahrung gezeigt, dass die Menschen eher geneigt sind zu dulden, solange die Übel noch erträglich sind, als sich unter Abschaffung der Formen, die sie gewöhnt sind, Recht zu verschaffen. Aber wenn eine lange Reihe von Missbräuchen und Übergriffen, die stets das gleiche Ziel verfolgen, die Absicht erkennen lässt, sie absolutem Despotismus zu unterwerfen, so ist es ihr Recht, ist es ihre Pflicht, eine solche Regierung zu beseitigen und sich um neue Bürgen für ihre zukünftige Sicherheit umzutun.“
Mehrheitlich fasste man im 18. Jahrhundert die Forderung nach einer Gewährleistung von Menschenrechten als Forderung des Republikanismus auf. Diesen Punkt in dem Demokratiebegriff zu integrieren, ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Wir würden heute mit Sicherheit dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechtsorientierung ein ebenso großes Gewicht in der systematischen Formulierung des Demokratiebegriffs beimessen wie der politischen Partizipation des Volkes. In Zeiten der Gefährdung der Demokratie durch unterschiedliche Formen des Populismus scheint dies besonders hervorhebenswert zu sein.