Es war halt immer so

Reformansätze aus historischer Perspektive

As part of the event "The return of the reform debate", 23.07.2019

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I.

 

Wie es sich für einen anständigen Schwaben gehört, beginne ich mit einem schwäbischen Satz. Er stammt von einem Bischof: „I tät ja scho gern, aber es war halt immer scho so.“ Wenn Sie den Satz nicht verstanden haben, übersetze ich ihn gerne: „Ich würde ja gerne etwas verändern in der Kirche, aber weil es immer schon so war, kann ich nichts verändern.“ Das ist ein typischer Satz der Reformverweigerer.

Dieser Satz ist natürlich eine Steilvorlage für den Historiker, denn es wird ausdrücklich auf die Geschichte verwiesen: „Es war immer schon so.“ Die Geschichte wird als Kronzeugin dafür angeführt, dass man in der Kirche nichts verändern kann. Dahinter steht eine neuscholastisch-ahistorische Ekklesiologie, die darauf hinausläuft, dass Jesus Christus die Kirche so gestiftet hat, wie sie heute ist. Und genau das mussten alle Geistlichen von 1910 bis 1967 im sogenannten Antimodernisteneid schwören.

Jesus Christus hat die Kirche so gestiftet, wie sie heute ist, mit dem Papst, allen Kardinälen, den Bischöfen, den Klöstern, den Gemeinden, den Geistlichen und Laien, dem Zölibat … und so weiter. Diese Behauptung hält einer historischen Überprüfung nicht stand. Mehr noch: Sie widerspricht auch der Lehre von der Inkarnation: Denn wenn Gott sich in Jesus Christus auf die Geschichte eingelassen hat, dann gilt das Prinzip der Geschichtlichkeit auch in der Kirche. Und dann gilt auch das Prinzip der Entwicklung für die Kirche. Fakt ist: Verfassung und Lehre der Kirche haben sich immer wieder verändert und weiterentwickelt.

Kommen wir zu einem weiteren Argument in der Reformdebatte. Gegen eine mögliche Reform oder mögliche Reformen wird gerne angeführt, dass eine Reform in Amazonien oder hier in München die Einheit der Kirche zerstören würde. Also: Wenn in Bayern irgendetwas verändert würde, was zum Beispiel wir in Württemberg nicht genauso machen würden, dann zerstöre das die Einheit der deutschen Kirche. Genau das widerspricht aber dem historischen Befund fundamental, denn die katholische Kirche zeichnete sich in ihrer Geschichte gerade durch Pluriformität aus. Nicht zuletzt deshalb bedeutet „katholon“, katholisch sein, gemäß des Ganzen – und nicht gemäß der einen Richtung, fundamentalistisch eng. Es gab und gibt in der Geschichte der Kirche gleichzeitig jeweils ganz unterschiedliche Antworten auf die Fragen der Zeit und vor Ort, und zwar sowohl in synchroner wie in diachroner Perspektive.

 

II.

 

Zunächst zur synchronen Perspektive, die ich am Beispiel Bußverständnis verdeutlichen möchte. In der alten Kirche konnte man nur ein einziges Mal das Sakrament der Buße in Anspruch nehmen. Der Pönitent musste öffentlich vor der Gemeinde seine Sünden bekennen, wurde exkommuniziert und bekam dann Bußleistungen auferlegt, die er abzuleisten hatte. Nach einem Jahr, manchmal auch erst nach zwei Jahren, wurden er oder sie schrittweise wieder in die Gemeinde aufgenommen. Aber das ging nur einmal im Leben. Und das führte dazu, dass man den Empfang des Bußsakraments möglichst weit nach hinten schob – was ja, wenn wir nur einen kleinen Moment überlegen, wie wir selbst so sind, durchaus verständlich war. Denn nur einmal rückfällig werden, nur einmal eine Sünde begehen, dann war es aus, das ewige Seelenheil war für immer verloren.

Dann aber bringen die iroschottischen Mönche und Nonnen im 6. oder 7. Jahrhundert ein ganz anderes Konzept von Buße in Umlauf, das eine Zeitlang neben der im Mittelmeerraum überwiegenden Praxis der einmaligen öffentlichen Buße Bestand hat, und ganz anders aussieht. Die Pönitenten können nämlich so oft wie nötig ihre Sünden bekennen, und müssen dies vor allem nicht mehr öffentlich vor der Gemeinde tun, sondern in einem „privaten“ Raum. Die Sündenvergebung erfolgt sofort, die Ableistung der Buße erst hinterher. Jetzt kommt aber der Clou: Wer vergibt eigentlich die Sünde? Wer hat die Vollmacht, von den Sünden loszusprechen? Der Pfarrer? Nein! Bei den Iroschotten sind es die Mönche und Nonnen selbst. Männer und Frauen, die aufgrund der Radikalität ihrer Nachfolge Jesu Christi die Vollmacht erworben haben, Sünden zu vergeben.

Die Kompetenz sakramentaler Sündenvergebung erwarb man also nicht durch Weihe, sondern durch Qualität der Nachfolge. Und gleichzeitig kamen zwei Modelle zur Anwendung – die einmalige Buße in der Großkirche um das Mittelmeer herum und die iroschottische Privatbeichte –, was die Einheit der Kirche überhaupt nicht tangiert hat. Damit ist die Behauptung, unterschiedliche und gleichzeitig praktizierte Modelle zerstörten die Einheit der Kirche, an diesem Beispiel (ich könnte hunderte andere nennen) schon widerlegt. Zudem ist das Thema Vergebung und Buße ein zentrales Thema der christlichen Botschaft.

 

III.

 

Dann zur diachronen Perspektive, dem zweiten Aspekt, der vielleicht noch wichtiger ist. Denn hier geht es um die Frage, ob sich die Lehre der Kirche überhaupt entwickeln kann. Ich nenne wieder nur ein Beispiel: Wie verhält sich die katholische Kirche zu den Menschenrechten, zur Gewissensfreiheit und zur Religionsfreiheit?

1791, zwei Jahre nach der Erklärung der Menschenrechte in der Französischen Revolution, hat der Papst diese Frage ganz eindeutig beantwortet. Pius VI. hat nämlich erklärt, dass der, der an die Menschenrechte glaubt, kein Katholik sein kann. Katholizismus und Grundrechte schließen sich aus; sie sind inkompatibel. Und das Breve Quod aliquantum, in dem Pius VI. fragte, ob man sich „etwas Unsinnigeres ausdenken [könne,] als eine derartige Gleichheit und Freiheit für alle zu dekretieren?“ war kein einmaliger Ausrutscher des Lehramts. Im Grunde verläuft eine klare Entwicklungslinie von 1791 bis 1954.

Am nachdrücklichsten hat das vielleicht Gregor XVI. in seiner berühmt-berüchtigten Enzyklika Mirari vos von 1831 formuliert: Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit seien ein „pestilentissimus error“, ein „pesthaftester Irrtum“. Das gleiche steht so in etwa auch im Syllabus von 1864, und ähnliches hat auch Pius XII. 1954 noch einmal verkündet. Und dann lesen wir die Erklärung Dignitatis humanae des Zweiten Vatikanums. Dort steht: Die Religions- und Gewissensfreiheit sei mit der Gottesebenbildlichkeit des Menschen selbst gegeben. Und deshalb müsse die katholische Kirche die erste Verteidigerin von Gewissens- und Religionsfreiheit sein, und zwar nicht nur für jeden einzelnen Menschen, sondern auch für religiöse Gruppen.

Als Historiker sage ich: Das ist ein Bruch. Entweder ist Religionsfreiheit „pesthafter Irrtum“, oder die Religionsfreiheit ist mit der Gottesebenbildlichkeit gegeben, weshalb die Kirche sie verteidigen muss. Manche dogmatisch begabteren Persönlichkeiten spekulativer Größe haben hierin eine „Hermeneutik der Kontinuität“ gesehen. Mir, mit meinem historischen Instrumentarium, das natürlich zugegebenermaßen bescheiden ist, ist das nicht möglich. Die Lehre der Kirche hat sich entwickelt. Sie hat sich sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Man könnte dafür viele weitere Beispiele anführen.

 

IV.

 

Zum Thema Reform und Reformansatz. Wenn wir von Reform reden, dann denken wir ganz oft daran, dass wir das Rad neu erfinden müssen. Das bedeutet der Begriff „Reform“ auch. Etwas, was es noch nie gab, wird neu erfunden oder kreiert. Aber ganz ursprünglich heißt Reform viel schlichter „re-formare“, „zurück-formen“. Also etwas, das es schon gab, wieder ans Licht holen, ein Modell, das es in der Kirche schon einmal gegeben hat, das aber unterdrückt, vergessen oder begraben wurde, wiederentdecken. Reform meint also, eine Form wiederherstellen.

Und das passt gut zu einem Traditionalisten wie mir. Denn ein wahrer Reformer ist ein Traditionalist, jedenfalls wenn er katholisch ist. Julius Kardinal Döpfner, den man hier in München zitieren darf, hat im Kontext des Zweiten Vatikanums ein Buch geschrieben, in dem er Reform zum Strukturmerkmal und Wesensprinzip der katholischen Kirche erklärt. Wo Reform – da katholisch, wo keine Reform – da Sekte. Auf den historischen Reformansatz angewendet, heißt das folgendes: Wenn wir dieses Modell von „re-formare“ zugrunde legen, dann können wir Modelle in der Geschichte der Kirche finden, die oft über hundert, ja tausend Jahre praktiziert worden sind, und die man kennen muss, wenn man heute über Reform und Reformen redet.

Nebenbei bemerkt: Das ist eigentlich der einfachste Weg, um den Gegnern jeglicher Reformen in der katholischen Kirche den Wind aus den Segeln zu nehmen. In meinem Buch „Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte“, erschienen 2015 im Münchner Beck-Verlag, habe ich zehn Beispiele beschrieben, zu denen sich in der Tradition solche alternativen Modelle finden. Das reicht natürlich noch lange nicht aus. Allerdings erleichtert es die Argumentation, weil man sagen kann, das wurde schon einmal in der Geschichte praktiziert und ihr könnt nicht so tun, als ob es dieses Modell nicht gebe.

Aber die Geschichte der Kirche lehrt eben auch noch ein zweites. Wenn wir Geschichtlichkeit ernst nehmen, stellen wir fest, dass die Kirche immer neue Inkulturationsprozesse vollzogen hat und vollziehen muss. Das heißt, wenn sich neue Herausforderungen stellen, wenn die christliche Frohbotschaft in neue Kontexte hineinvermittelt wird, dann muss dies in einer Weise geschehen, die den Empfängern der Botschaft verständlich sein muss. Ganz selbstverständlich wird deshalb von einer Hellenisierung des Christentums gesprochen, die zu einer grundlegenden Veränderung der aus dem jüdischen Kontext stammenden christlichen Lehre geführt hat. Manche halten die hellenisierte Form des Christentums und nicht die biblischen Texte für die Idealform des Christentums.

Das Gegenargument lautet, durch die Hellenisierung sei die ursprüngliche christliche Botschaft verfälscht worden. Dann müsste man das nizäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis infrage stellen, was niemand ernsthaft anstreben kann. Transformation durch Inkulturation ist also legitim. Hellenisierung und Germanisierung waren es, dann muss es auch ein heutiges Aggiornamento sein dürfen.

Und das macht es dann auch möglich, über neue Modelle nachzudenken, die wir bisher noch nicht erprobt haben. Denn die Geschichte zeigt, dass wir solche neuen Modelle immer wieder gehabt haben. Selbst die Diakone sind nicht von Jesus Christus eingesetzt worden, sondern die Apostel haben auf eine Situation reagiert und das Amt des Diakons geschaffen. Was spricht also dagegen, auch heute ein neues Amt zu schaffen?

Mein Fazit: Die Geschichte ist ein Schatz für Reformen. Man muss nur das ausgraben, was in der Geschichte bereitliegt. Dann könnte vielleicht doch der Satz gelten: Und sie bewegt sich doch, unsere katholische Kirche.

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