Den umstrittenen Münchener Erzbischof Michael von Faulhaber (1869–1952), seit 1921 Kardinal, ins rechte Licht rücken heißt, nicht allein auf Faulhaberquellen fixiert zu bleiben, sondern den Horizont zu weiten. Um seine Positionen und seine Haltung vor, während und nach dem Nationalsozialismus unterscheiden und beurteilen zu können, müssen seine mit den Ordnungsvorstellungen anderer Bischöfe verglichen werden. War der Kardinal ein Sonderling oder der entsprach seine Haltung der seiner Amtsbrüder? „Allgemein würde ein Vergleich innerhalb des deutschen Episkopats lohnen,“ betonte der Faulhaber-Experte Peter Pfister 2018. Mithin soll hier versucht werden, nach geteilten Deutungsmustern vor und nach 1945 zu fragen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu markieren.
Homogenitätsthesen
Insgesamt konkurrieren in der Literatur zwei Thesen. In ihrem Buch über das bischöfliche Schweigen sprach Antonia Leugers 1996 von einem „bemerkenswerten Grad an Homogenität hinsichtlich der sozialgeschichtlichen Eckdaten“ der zwischen 1933 und 1945 amtierenden Bischöfe. Drei Viertel von ihnen waren in kleinen ländlichen Ortschaften aufgewachsen. Sie entstammten der unteren Mittelschicht, dem „gläubigen Volk“, wie auch der Bäckermeistersohn Michael Faulhaber. Das ihm 1913 verliehene „von“ täuscht über seine Herkunft hinweg. Die meisten hatten genau wie Faulhaber ihr Studium und ihre ersten Priesterjahre noch im Kaiserreich erlebt. Die Bischöfe stellten eine „Sondergesellschaft“ dar. Leugers schreibt: „Einstellungs- und Verhaltensweisen der Oberhirten weisen charakteristische Muster auf“ dank gleicher Prägungen aufgrund von Herkunft, Sozialisation und ähnlicher Berufsfelderfahrungen.
Dieser Homogenitätsthese entgegneten Michael Hirschfeld und Maria Anna Zumholz 2017: Die Bischöfe wiesen „in vielerlei Hinsicht, sei es im Hinblick auf das Alter, die Gesundheit und die Persönlichkeit, gravierende Unterschiede“ auf. Es habe kämpferische Naturen gegeben wie Clemens August von Galen in Münster, Kardinal Faulhaber in München und Conrad Gröber in Freiburg, aber auch ängstliche wie Petrus Legge in Meißen. „Jung und dynamisch“ sei Joseph Frings, Köln, aufgetreten, distanziert Konrad von Preysing, Berlin. 1933 hätten Brückenbauer zum Nationalsozialismus wie Wilhelm Berning, Osnabrück, Faulhaber und Gröber „klarsichtigen Bischöfen“ wie Preysing und Galen gegenübergestanden. Andererseits wird eingeräumt, dass die deutschen Bischöfe dasselbe Amtsverständnis teilten. Es verpflichtete sie in erster Linie der Seelsorge, dem Priester-, Lehr- und Hirtenamt.
Auch diese Perspektive ist richtig. Sie darf indes den Bischöfen gemeinsame Deutungsmuster nicht überblenden. In dieser Hinsicht hat Antonia Leugers Recht: Prägungen und Einstellungsmuster sind entscheidender als die Tatsache, ob der eine Bischof forsch auftrat, während der andere kränkelte.
Im Reich gab es Ende 1939 neben Faulhaber weitere sieben Erzbischöfe und 23 Bischöfe. Da auch Bischöfe sterblich sind und von anderen ersetzt werden, kommt man allein für die Jahre 1933 bis 1945 auf 52 Personen, die als ordentliche Mitglieder an der Fuldaer Bischofskonferenz teilnahmen, darunter waren allerdings auch zwei Generalvikare und ein Weihbischof. Hat man es also allein für diese 12 Jahre schon mit fast 50 Bischöfen zu tun, fällt die Zahl für die gut zwei Jahrzehnte von 1930 bis zum Tode Faulhabers 1952 erheblich höher aus. Dies ist der Rahmen, in den ich Faulhaber einstellen möchte. Natürlich fanden sich dabei Unterschiede in Temperament und Taktik. Dennoch, auf der Ebene benennbarer Ordnungsschemata tun sich verblüffende Ähnlichkeiten und Kontinuitäten auf.
Vier Ordnungsschemata
Betrachten wir „Faulhaber und die katholische ‚Ordnung‘“ näher. Ich möchte dabei zwischen Ordnung und Ordnungsschemata unterscheiden. Ordnung bezieht sich auf Objekte und Verhältnisse, die geordnet sein sollen, ob Dogmen, die Kirchenhierarchie oder eine gelingende Gesellschaftsgliederung unter Eindämmung von Unordnung. Faulhaber war ein großer Anhänger von „Ruhe und Ordnung“. Ordnungsschemata dagegen liegen eine Strukturebene tiefer. Sie sind durch gemeinsame Sozialisation vorgeprägt. Sie liegen den an der Oberfläche sichtbaren Ordnungsentwürfen über Gesellschaft und Kirche zugrunde und sind relativ stabil. Ich möchte den Unterschied erläutern: „Die christliche Weltanschauung ist Glaube an die Weltordnung“, formulierte Faulhaber in einer Predigt 1936. Diese Weltordnung ist also da, dank Gottes Schöpfung. Sie kann manipuliert, gestört oder geheilt werden, aber sie ist das Objekt, auf das sich die christliche Weltanschauung richtet. Die christliche Weltanschauung wiederum ist das kognitiv-religiös-emotionale Weltbild, das jene Ordnung als geglaubte konstruiert und objektiviert. Es geht mir hier um Ordnungsschemata. In ihnen waren sich die meisten Bischöfe einig, und dies über einen langen Zeitraum. Lassen Sie mich vier ordnungsstiftende Deutungsschemata vorstellen.
1. Entchristlichung: An einer vermeintlichen Entchristlichung litten Kleriker sowohl im 19. Jahrhundert als auch in der Weimarer Republik, aber auch später. Mal waren es protestantische Ketzer, mal Freimaurer oder „jüdisch-liberale“ Zeitungen, die dem Christentum und der Kirche zusetzen; später waren es Sozialisten oder Nationalsozialisten. In diesem Denkschema ist eine diachrone Dimension eingebaut, die zeitlich ein vermeintliches Früher, wo es noch christlich und kirchenfromm zuging, von einem weniger christlichen Heute trennte.
2. Dualismus: Die Kirche ist durch uralte Antagonismen geprägt, etwa dem zwischen Ecclesia und Synagoge. Das dualistische Denken hatte sich im Zuge der Ultramontanisierung – der Fixierung auf den Papst im 19. Jahrhundert – verschärft. Man unterschied synchron zwischen katholisch und akatholisch, Christentum und Antichristentum, Licht und Dunkel, Wir und Sie.
3. Opferrolle: Als Opfer einer Christen- bzw. Kirchenverfolgung fühlten sich Bischöfe in den napoleonischen Säkularisationen, im Kulturkampf und im Nationalsozialismus. Mittäterschaft wurde selten reflektiert.
4. Opposition: 1945 verfestigte sich die Idee, die Kirche sei im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gewesen. Von Anpassung oder gar Kollaboration war nicht die Rede.
Freilich mögen andere Deutungsmuster vermisst werden. Einen tief verwurzelten Antijudaismus bis modernen Antisemitismus finden wir bei Kardinal Adolf Bertram in Breslau, bei Michael Buchberger in Regensburg, bei Gröber wie bei Faulhaber und anderen, etwa anlässlich des Boykotts im April 1933. Als Juden waren die Juden den Bischöfen gleichgültig. Den Rassenantisemitismus indes lehnten alle ab. Aber das muss man aus verstreuten Nebensätzen zusammenstellen. Antisemitismus lag quer zu den hier aufgestellten Kategorien. Er prägte nicht das tägliche Denken und tägliche Handeln. Deshalb konzentrieren wir uns auf zentrale Denkschablonen mit potentiell religiösen wie politischen Implikationen.
Die vier Ordnungsschemata in vier Zeitphasen
Prüfen wir nun die vier Ordnungsschemata auf ihre Veränderung oder Konstanz anhand von vier Phasen: die Zeit bis 1933, die Frühphase des Regimes, die wachsende Enttäuschung nach dem Konkordat, schließlich die Zeit ab 1945. Die Zeit ab 1945 lässt sich nochmals in Vergangenheitsaufarbeitung und Gegenwartsbewältigung unterteilen. Zwischen beiden gibt es verblüffende Strukturanalogien. Die Vergangenheitsaufarbeitung fragt, wie Bischöfe ab 1945 mit dem vergangenen Nationalsozialismus umgingen. Die Gegenwartsbewältigung erkundet den Umgang mit dessen Folgen für die Gegenwart. Nach 1945 ging es primär um Gegenwartsbewältigung, was angesichts der Zerstörungen und der Leiden von Ausgebombten und Vertriebenen durchaus nachvollziehbar war. Die Vergangenheit, zumal das jüdische Schicksal, wurde rasch abgehakt.
Ein Zitat verdeutlicht diesen Unterschied zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsarbeit eindrücklich. Erzbischof Lorenz Jaeger von Paderborn erklärte am 6. Mai 1945 seinen Geistlichen, warum sie enthaltsam gegenüber Politik, Rechtsprechung und Geschichtsbewusstsein sein sollten. Wir Priester, mahnte er, „leben nicht in unfruchtbarer, unnützer Rückschau auf Vergangenes, sondern wissen uns als Christen berufen, die Aufgaben, die Gott uns in der Gegenwart stellt, in heiliger Verantwortung gegenüber der kommenden Zeit zu erfüllen.“ Noch prägnanter ist Jaegers Ansage vom August 1947: „Es ist nutzlos, vergangene Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Aber die gegenwärtigen Ungerechtigkeiten können vielleicht durch Kritik gemildert werden. Die Ungerechtigkeiten, die heute geschehen, betreffen unzählige unschuldige Deutsche ebenso brutal und unverschuldet wie der Despotismus des Hitler-Regimes andere Völker betroffen hat.“
Um die Gleichsetzung von Alliierten mit „Nazis“ geht es uns an dieser Stelle nicht, sondern um die Unterscheidung zwischen der ab 1945 erfolgten Deutung von vergangenem Geschehen und der Deutung von aus dieser Vergangenheit rührenden Gegenwartsproblemen, dem Erbe, den Folgen des Nationalsozialismus. Gehen wir die vier Deutungsschemata der Reihe nach durch.
Entchristlichung
Die Entchristlichung war höchst beklagenswert. Aber sie diente auch als erklärender Faktor für die Geschichte als Explanans für das Explanandum Nationalsozialismus. Woher kam denn dieses Unheil? Von diesem Rätsel waren Deutsche und Alliierte 1945 zutiefst bewegt. Die Kirchen wussten längst eine Antwort: In der Abkehr vom Christentum liege die Wurzel des Nationalsozialismus. Wenn das „Wesentlichste“ dieser Weltanschauung die Leugnung Gottes war, wie Bischof Gröber 1945 meinte, ließ sich, „ohne Anklage gegen andere Völker zu erheben“, leicht argumentieren, dass „dieser Unglaube keineswegs nur in Deutschland beheimatet ist oder war“, sondern in ganz Europa noch nicht ausgestorben sei. Mithin gebe es keinen deutschen Sonderweg und keine deutsche Kollektivschuld. Ganz ähnlich dachten die Bischöfe schon einmal über den Nationalsozialismus, nämlich bis zum Frühjahr 1933. Er wurzelte, wie der mehrfach verdammte Sozialismus, im Antichristentum. Sogar die Demokratie war unchristlich. Die meisten Bischöfe waren nie Gesinnungsdemokraten und haben sich kaum zu Vernunftrepublikanern gewandelt. Faulhabers verschiedentliche Einlassungen in den 1920er Jahren gegen die Verfassung „ohne den Namen Gottes“ sind bekannt. Selbst Bischof Preysing fand 1932: „Eher lässt sich aus Erbsen eine Pyramide bauen als aus der Weimarer Verfassung ein gesundes und stabiles Staatswesen.“
Spannend ist, wie sich dieses Bild im März 1933 verkehrte. Plötzlich war der Nationalsozialismus nicht mehr Teil des Dechristianisierungsproblems, sondern Teil seiner Lösung: Ihm wurde zugetraut, die Entchristlichung zu stoppen. Faulhaber wies seinen Klerus am 5. April
1933 an, er solle „der Gottlosigkeit und Sittenlosigkeit der Zeit entgegenwirken und so in seiner Weise die Pläne der nationalen Regierung unterstützen, die mit staatlichen Mitteln eine innere Erneuerung unseres Volkslebens anzustreben versprochen hat.“ Einen Monat später verkündete auch der Hirtenbrief des bayerischen Episkopats – nach einem Entwurf von Bischof Buchberger, dem früheren Generalvikar Faulhabers:
„Es ist ein großes Verdienst der Reichsregierung, ja ein wirkliches Rettungswerk am deutschen Volke, wenn sie dem ebenso fanatischen wie unwürdigen Treiben der Gottlosen einen kraftvollen Halt gebietet. Freilich verhehlen wir uns nicht, dass hier äußere Machtmittel allein nicht ausreichen, denn der Glaube ist Sache der Seele und der inneren Überzeugung.“ Der Hirtenbrief hoffte, auch in Bayern würden Erlasse gegen die öffentlichen Badeunsitten und gegen den Vertrieb von Schund- und Schmutzschriften bald Platz greifen.
Vom „Rettungswerke am deutschen Volke“ vor Gottlosigkeit und Bolschewismus schwärmte in Trier auch Rudolf Bornewasser im Juli 1933. Auch Faulhaber hoffte, gemeinsam mit den neuen Machthabern den gottlosen Antibolschewismus zu vertreiben. „Wir müssen wünschen, dass die Regierung Bestand habe. Denn nachher kommt der Bolschewismus“, rechnete er sich im Januar 1934 im Tagebuch aus. In seinem Werk Christentum und Heidentum erklärte er 1934: „Die Reichsregierung hat von höchster Stelle wiederholt erklärt: Wir stehen auf dem Boden des positiven Christentums. Die Reichsregierung hat also das neue Heidentum abgelehnt“ und mit der Kirche ein Konkordat geschlossen. Einige Freidenker, die sich selber Heiden nennen, bekämpfen jedoch „unter dem Deckmantel der Rassenpflege“ auch das Christentum. Dazu gehörte auch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ des NSDAP-Parteiideologen Alfred Rosenberg. Je mehr nun das Konkordat gebrochen wurde, desto stärker wuchs die Desillusionierung darüber, mit dem Führer gemeinsam die Kräfte der Entchristlichung und Entkonfessionalisierung zu brechen.
Erstaunlich ist, wie die ohnehin dürftige Vergangenheitsbewältigung ab 1945 auch diese christliche Hoffnung in den Nationalsozialismus völlig verdrängte. Er war nicht mehr die Rettung vor der Säkularisierung, sondern selber deren Auswuchs. Nun also wurden die vergangenen 12 Jahre wieder in die unheilsgeschichtliche Säkularisierungsentwicklung eingebettet. Die Katastrophe wurde als Resultat abendländischer Christusferne erklärt. Für Berning wie für Jaeger begann der Niedergang mit der Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert und zog sich über Aufklärung, Revolution und Diesseitsorientierung bis zu Hitler. Johann Baptista Sprolls Rottenburger Fastenhirtenbrief 1947 handelte von der „Zeit der Gottlosigkeit“, in der viele „schwer gefehlt haben“. Faulhabers Fastenhirtenbrief von 1946 wählte folgende Formulierung für die vergangenen Jahre: „Aus der Tiefe der Hölle kamen die Dämonen legionsweise herauf.“ Eine historisch aufgeklärte Aufarbeitung der Vergangenheit kann man das nicht nennen. In dieser Logik waren Kirche und Gläubige per definitionem unschuldig, denn sie gehörten ja nicht diesen dämonischen, heidnischen, säkularen Mächten an. Mit dieser Rückendeckung bekämpften die Bischöfe den vermeintlichen Kollektivschuldvorwurf. Einzig Bischof Joannes Baptista Sproll klagte 1947: „Alle wollen unschuldig sein; selbst die Kriegsverbrecher in Nürnberg haben fast alle erklärt: Ich bin unschuldig; jeder will die Schuld nach oben schieben, sie dem Führer allein zuschieben und glaubt damit entlastet zu sein.“
Wie erfolgte Gegenwartsbewältigung? Die generische Erklärung für die Katastrophe des Nationalsozialismus, die sich aus einer gottentfremdeten, gar teuflischen Geschichte herleite, wurde in logischer Konsequenz für die Gegenwart verlängert in eine Zukunft, in der eine wiederverchristlichte, kirchentreue Gesellschaft nichts fürchten brauche. Der Nationalsozialismus wurde instrumentalisiert als Lehrstück dafür, was einer kirchenfernen Gesellschaft blühen könne. Rechristianisierung, das war das vielversprechende Heilmittel für alle Nöte. Letztlich hieß Umerziehung und Vergangenheitsbewältigung auf katholisch: Rekatholisierung.
Dualismus
Der Dualismus zwischen In-group und Out-group nahm in der Republik gemäßigtere Töne an als im Kaiserreich. Aus pragmatischen Gründen billigten die Bischöfe die Koalition des Zentrums mit der SPD. Dennoch blieb die Furcht vor dem Sozialismus und stieg die Angst vor dem Bolschewismus. Sie wurde ein Einfallstor für die Zustimmung zum Nationalsozialismus, trotz aller weltanschaulichen Differenzen. 1934 ist für viele Bischöfe ein Schlüsseljahr. Bischof Berning verlor sein bisheriges Vertrauen in Hitler, als Alfred Rosenberg zu Jahresanfang „Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP“ wurde. Faulhaber war Rosenbergs Ernennung immerhin eine Tagebuchnotiz wert. Ab Mitte der 1930er diente die antibolschewistische Semantik zugleich auch als Code, um die in Deutschland herrschenden Zustände zu kritisieren, etwa bei Bischof von Galen in Münster.
Der Dualismus zwischen katholischer und NS-Weltanschauung wurde nach dem Untergang der Diktatur ausgeweitet auf einen, der zwischen Katholiken und „Nazis“ bestanden habe. Aus einem ideologischen wurde ein sozialer Konflikt. „Wir deutschen Katholiken waren nicht Nationalsozialisten“, bestimmte Kardinal Frings 1946. Dieser Dualismus wurde 1946 popularisiert durch Johannes Neuhäuslers Buch „Kreuz und Hakenkreuz.“ Hier waren wir, dort die anderen. Faulhaber flankierte das Buch seines stellvertretenden Generalvikars durch ein zweiseitiges Vorwort.
Weder bei dem Umgang mit der NS-Vergangenheit noch bei der Gegenwartsbewältigung war Faulhaber ein Sonderling. Aus den Untiefen des 19. Jahrhunderts wurde der Dualismus Christentum versus Sozialismus übernommen. 1917 hatte er eine Dramatisierung erfahren, er radikalisierte sich ab 1933 und blieb 1945, zumal mit Beginn des Kalten Krieges, handlungsleitend für Bischöfe wie Faulhaber, Jaeger, Buchberger und andere. Das war kein neuer Dualismus, sondern bewährte Tradition. Jaegers pflichtschuldige, formelhafte Abgrenzung vom Nationalsozialismus bei Konzentration auf gegenwärtige Ungerechtigkeiten und Bedrohungen wie den „Bolschewismus“ war typisch für den doppelten antitotalitären Grundkonsens jener Zeit. In seinen Worten von 1945: Zwar hat „der Nationalsozialismus ein Ende gefunden, aber der Sozialismus ist geblieben, und die Sozialisten denken nicht daran, ihr altes Schulideal aufzugeben.“ Gegen die Simultanschule der (vergangenen) Nationalsozialisten und (heutigen) Sozialisten müsse man schleunigst wieder die Bekenntnisschule einrichten, worauf auch Faulhaber insistierte. Wozu sollte man Vergangenes bekämpfen angesichts der akuten, geradezu übermächtigen Herausforderungen?
Diesem gängigen Deutungsschema blieb Faulhaber verhaftet, indem er den Dualismus zum Nationalsozialismus ausspielte gegen den alten und neuen Dualismus mit dem gefährlichen Sozialismus, aber auch gegen die Alliierten, die ihn zuließen. Nach der Potsdamer Konferenz vom August 1945 vertraute er seinem Tagebuch an: „Jetzt wird Bayern in den Communismus getrieben, und dann gehen die Amerikaner davon und lassen uns im Chaos zurück. Der Drache zerstört alles Katholische … und was die Nationalsozialisten nicht erreicht, haben jetzt die amerikanischen Freimaurer vollendet.“ Noch drastischer drückte sich Bischof Buchberger Angang 1946 aus: „Wir stehen faktisch vor dem ‚Untergang des Abendlandes‘ und dem Einbruch asiatisch-bolschewistischer Barbarei und Dämonie.“ Angesichts der Vertreibungen und vergewaltigter Ordensschwestern in Schlesien müsse man den Alliierten klar machen, „dass es noch andere Aufgaben gäbe, als harmlose ‚Nazis‘ einzusperren und existenzlos zu machen.“ Es handelte sich um einen Brief an Faulhaber. Beide duzten sich.
Opferrolle
Das Kulturkampftrauma überschattete die Perspektive der Bischöfe noch in der Weimarer Republik und wurde im Nationalsozialismus weiter genährt. Die ersten Aussagen etwa von Bertram und Faulhaber über das, was später „Kirchenkampf“ hieß, sprechen von einem neuen Kulturkampf. In der Tat waren viele Amtskirchenvertreter schweren Bedrängnissen ausgesetzt. Insgesamt betrafen Maßnahmen des NS-Regimes mehr als ein Drittel des Weltklerus. Die Glanzzeit des Opfer-Narrativs aber war die Nachkriegszeit. Kirche und Gläubige seien vom Regime verfolgt worden, aber sie hätten sich bewährt. Die jüdischen, polnischen und anderen Opfer kamen in dieser Erzählung kaum vor. Mit dem Opfernarrativ, das die NS-Zeit auf Abstand hielt, ohne sie zu bewältigen, korrespondierte ein neues Opfernarrativ der Gegenwartsbewältigung: Es beklagte die Opfer alliierter Entnazifizierung und das Schicksal der als Kriegsverbrecher Verurteilten. Ihnen müsse Barmherzigkeit zuteilwerden. Alle Bischöfe bis auf Michael Keller in Münster engagierten sich hier mit Persilscheinen. Katholische Beamte würden ungerechterweise entlassen, nur weil sie in der Partei waren. Man solle vielmehr die Schuld von Einzelfall zu Einzelfall prüfen.
Der Klerus wurde mit Anfragen überschwemmt. Zu seiner Entlastung wurde im Erzbistum München-Freising im November 1946 eigens ein mit Juristen besetztes Katholisches Volksbüro eingerichtet. Unter den insgesamt 5.000 Anfragen bis 1948 betrafen 576 die Entnazifizierung. Schon Zeitgenossen beargwöhnten die Hilfe von Klerus und Bischöfen für Parteigenossen, Täter und NS-Verbrecher: Die Satirezeitschrift DER SIMPL karikierte Faulhaber 1946 als Glucke vor der Frauenkirche, deren Silhouette wie eine „Siegerin in Trümmern“ im Hintergrund aufragt. Mit CSU-Plakette um den Hals beschützt der Kardinal lauter Bayern mit Parteiabzeichen und diversen Auszeichnungen, SA Männer, aber auch Männer der SS und Waffen-SS. Er setzte sich bei Pius XII. sogar für Hans Frank ein, den Generalgouverneur Polens. Der „Schlächter“ von Polen hatte in der Haft zum Katholizismus zurückgefunden. Aufarbeitung der Vergangenheit hieß, das Leiden aufarbeiten, das die Alliierten den Deutschen angetan haben, nicht das Leiden der Opfer des NS-Gewaltregimes. Unzählige episkopale Quellen bestätigen die These von Norbert Frei über die sogenannte „Vergangenheitspolitik“.
Opposition
Bis heute hat sich, noch stärker als das kirchliche Opfernarrativ, die Widerstandserzählung gehalten. In der Literatur findet man die Kirchen meistens in der Rubrik „Widerstand“, als sei hier ihr natürlicher Ort. Mit dieser Zuordnung begann schon Pius XII. im Juni 1945 in seiner im Rundfunk übertragenen Rede: Die Tatsache, dass der Nationalsozialismus „die Kirche als Feindin des deutschen Volkes“ angeprangert habe, diene als das „ehrenvollste Zeugnis des entschlossenen, dauernden, von der Kirche getragenen Widerstandes gegen solche zerstörerischen Lehren und Methoden“. Damit konnte das erste gemeinsame Hirtenwort der bayerischen Bischöfe vom 28.06.1945 arbeiten, an dem selbstredend auch Faulhaber beteiligt war: „Die deutschen Bischöfe haben, wie ihr selber wisst, von Anfang an vor den Irrlehren und Irrwegen des Nationalsozialismus ernstlich gewarnt und immer wieder hingewiesen auf die unglücklichen Folgen, die der Kampf gegen Glauben, Christentum und Kirche, gegen Recht, Freiheit und Wahrheit mit sich bringen muss.“ Die Katholiken hätten sich auch in den letzten Kriegstagen um ihre Bischöfe geschart, wie der Papst gerade verkündet habe. Um den Besatzern den Widerstand zu beweisen und nach innen opfermutige Priester präsentieren zu können, sammelten die Bistümer sofort Material. Faulhaber ließ im April 1946 durch Fragebögen in den Diözesen ermitteln, welche Priester von Verfolgungsmaßnahmen betroffen waren. Ziel war, möglichen Vorwürfen einer Kollaboration zu begegnen und, so Faulhaber, „den starken und fast ausnahmslosen Widerstand des Klerus gegen nationalsozialistische Weltanschauung und Kirchenpolitik ein für allemal klar herauszustellen und mit Tatsachen zu belegen.“ Die Märtyrerliste von „Priestern unter Hitlers Terror“ erschien später in zwei Bänden.
Wie eng Opfer- und Oppositionsnarrativ miteinander verklammert waren, stach bereits im Titel von Neuhäuslers Buch 1946 hervor: „Kreuz und Hakenkreuz. Der Kampf des Nationalsozialismus gegen die katholische Kirche und der kirchliche Widerstand“. Der Begriff Widerstand kommt auf 840 Seiten in keiner einzigen der vielen zitierten Quellen vor, sondern nur in Neuhäuslers eigenen Deutungen. Der Domkapitular ging bei Faulhaber ein und aus, wie Faulhabers Tagebücher zeigen. Faulhabers Geleitwort beteuert, die Bischöfe hätten viele „Anrempelungen“ und Angriffe erleiden müssen. Zusammen mit diesem Opfernarrativ bediente er auch das Oppositionsnarrativ: Die Bischöfe hätten keineswegs immer geschwiegen und nicht geschlafen, wenn sie in das Wächterhorn stoßen mussten. „Also kann man doch nicht von einer allgemeinen Kollektivschuld sprechen“, folgerte er daraus. In seinem Tagebuch war er Ende Mai 1945 noch zorniger gegen die „Verleumdung des deutschen Volkes“, das doch nichts gewusst habe, und gegen den amerikanischen „Versuch, aus den Konzentrationslagern eine Welthetze gegen Deutschland zu machen.“
Faulhabers Adventspredigten
In den Nachkriegsjahren wurde Faulhaber oft auf seine Adventspredigten von 1933 angesprochen. „Wir wissen, dass Sie viel für die Juden getan haben, besonders in den Adventspredigten“, lobte laut Tagebucheintrag vom Januar 1946 ein Besucher. Auch Faulhaber selber hielt seine Predigten inzwischen für einen vortrefflichen „Beweis“ dafür, dass die Bischöfe von Anfang an die wahnsinnigen Auswüchse des Nationalsozialismus, Rassendogma und Antisemitismus abgelehnt haben.
Tatsächlich aber handelten die Predigten nur vom Alten Testament. Faulhaber wollte nicht, dass „die Abneigung gegen Juden von heute auf die Heiligen Bücher des Alten Testaments übertragen“ und damit „das Christentum […] verdammt wird.“ So steht es in den Adventspredigten. Darum ging es, um das Christentum, nicht um die Juden heute und die Abneigung gegen sie. Ausdrücklich betonte er: „Nur mit diesem Israel der biblischen Vorzeit werden meine Adventspredigten sich befassen“. Insofern ist schon der Titel leicht irreführend. Das fiel Faulhaber selber schon am ersten Adventssonntag auf, dem 3.12.1933. In sein Tagebuch notierte er: „9.00 Uhr, erste Adventspredigt in Sankt Michael. Angekündigt war Judentum und Christentum, das eigentliche Thema: Das Alte Testament und seine Erfüllung im Christentum. Eine ganze Stunde, stark besetzt. Ausfahrt vom Hof: damit den Hoch- und Heilrufen auszuweichen. Ifflinger meint, die Stimme habe genäselt.“ In der zweiten Predigt zeigte sich Faulhaber sogar erfreut, dass „aus dem öffentlichen Leben unseres Volkes […] Gott sei Dank in den letzten Monaten mit eisernem Besen viel Sittenlosigkeit ausgekehrt“ worden sei, aber man solle sich nicht einbilden, „viel besser als andere Rassen“ zu sein. Das war der bereits erwähnte Schulterschluss mit dem Nationalsozialismus bei der Bekämpfung der Unsittlichkeit.
Die Adventspredigten schwankten zwischen Abwehr von Angriffen auf das Alte Testament und Regimeanpassung. Der Widerstandsbegriff wäre deplatziert. Dessen ungeachtet inszenierten führende Katholiken 1945 daraus ein Oppositionsepos. Neuhauser brachte 1946 allerhand Hirtenbriefe und andere Quellen vor und fragte dann suggestiv: „Wo war der Widerstand? Ist die Antwort hierauf noch schwer?“ Prompt folgt ein Kapitel mit der Überschrift „Die Gleichberechtigung der Rassen. Kirchlicher Kampf gegen den Antisemitismus“ mit Faulhabers Adventspredigten als Beleg: „Der Erzbischof von München spricht gegen den Rassismus“. Plötzlich firmierten seine Adventspredigten unter der Widerstandsfahne. Im Widerstand gewesen zu sein, das war seit 1945 in klerikalen Kreisen groß in Mode. Dabei hat Faulhaber selber 1933 weder intendiert, gegen den Antisemitismus vorzugehen, noch Widerstand zu leisten.
An dieses Oppositionsepos knüpfte, was die Gegenwartsbewältigung 1945–1950 betrifft, nahtlos ein zweites Oppositionsnarrativ an, das den Widerstand gegen Maßnahmen der Alliierten mit dem vermeintlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus kurzschloss, verglich und legitimierte. Durch die Parallelisierung früherer mit jetzigen Protesten wurde der Anschein erweckt, man sei im Dauereinsatz für die Rechte des Volkes und leiste erneut Widerstand.
Diese Verzahnung leuchtete nicht jedem ein, darunter Eugen Kogon. Im Juli 1947 bekannte der christliche Publizist, er wisse vom „Widerstand“ einzelner kirchlicher Autoritäten während der NS-Zeit. Aber es sei „nicht das geschehen, was man erwarten durfte“, statt dessen „‚kluges‘ Schweigen, ängstliches Dulden“. Nach jüngsten Verlautbarungen bayerischer Bischöfe über die Vertreibungen, die Kollektivschuld, die politischen und Kriegsgefangenen fragte Kogon, ob es angebracht sei, „jetzt im Stil der zwischen 1933 und 1945 versäumten Sprache zu reden.“ Das erregte die Aufmerksamkeit der amerikanischen Militärregierung. Sogleich bat sie um kirchliche Stellungnahme. In einem Interview am Rande der Fuldaer Bischofskonferenz vom 19. bis 21. August 1947 mit den Metropoliten von Paderborn, Köln, Mainz und Fulda über ihre Ansichten zu Kogons Artikel verteidigten sie einmütig ihre Linie. Man habe entschieden gegen das Dritte Reich gekämpft und halte an den Protesten gegen jetziges Unrecht fest.
Conclusion
Wie jeder Mensch und jeder Bischof wies auch Faulhaber ein eigenes Profil auf. Als Erzbischof von München und Vorsitzender der Freisinger Bischofskonferenz nahm er eine besonders prominente Stellung ein. Im Unterschied zu manchen Amtsbrüdern ergriff er häufig die Initiative, etwa 1937 bei der Enzyklika „Mit brennender Sorge“, manchmal hielt er sich auch eher zurück, etwa ab 1945 mit Kritik an den Alliierten, während hier Galen und Frings in vorderster Kampflinie agierten. Trotz aller Unterschiede in den Temperamenten, in taktischen, generationellen wie regionalen Hinsichten zeigen sich auf sozialgeschichtlicher Ebene große Ähnlichkeiten im deutschen Episkopat. Dazu kommen, wie unser Vergleich zu zeigen versuchte, Konvergenzen in den Mentalitäten, Deutungsmustern und Haltungen, vor allem aber in den stabilen, hinter ihnen liegenden Deutungsschemata. Hier war Faulhaber Repräsentant seines Amtsbrüdermilieus. Bei keinem der vier zentralen Deutungsschemata spielte er eine Sonderrolle. Er sah die Welt wie seine Amtsbrüder durch die dualistische Brille, die der Kirche eine Opferrolle zuwies, sie im Nachhinein zur NS-Opposition stilisierte und die „Siegerin in Trümmern“ als Widerpart zu den Alliierten in Anschlag brachte. Auch er wähnte in der Säkularisierung das Grundübel, aus dem der Nationalsozialismus kroch, während viele Bischöfe, darunter auch prominent Faulhaber, nach der Machtübernahme 1933 im Gegenteil den guten, führenden Nationalsozialisten zugetraut hatten, mit der Kirche Seite an Seite die Säkularisierung, die Unsittlichkeit und den Bolschewismus bekämpfen zu können.