Den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Bayern verbindet man heute vor allem mit der „Weißen Rose“ um die Münchener Studenten Hans und Sophie Scholl. Auch ist der Kunstschreiner und „Bürgerbräu-Attentäter“ Georg Elser vielen ein Begriff. Dagegen kennt kaum jemand den letzten Bayerischen Gesandten in Berlin, Franz Sperr, der von 1935 bis 1944 einen über die Grenzen Bayerns hinaus wirkenden Widerstandskreis gegen Hitler um sich bildete. Diesem liberal und katholisch geprägten „Sperr-Kreis“ kommt im Gesamtbild des Widerstands im „Dritten Reich“ durchaus Bedeutung zu. Die folgende Darstellung zeigt, dass Franz Sperr deshalb bis heute zu Unrecht ein Schattendasein führt.
Gedenken und historische Aufarbeitung
Wie konnte Franz Sperr in Vergessenheit geraten? Nach 1945 schien zunächst das Gegenteil der Fall zu sein. Denn das öffentliche Gedenken an Sperr setzte vergleichsweise früh ein. „In Memoriam Franz Sperr“ lautete die Überschrift eines Artikels der Süddeutschen Zeitung vom 25. Januar 1946. Schon ein Jahr nach der Hinrichtung Franz Sperrs skizzierte Georg Deininger, ehemaliger Reserveleutnant und enger Vertrauter Sperrs im Widerstand, dessen Leben in den Jahren nach 1933. Wenig später wurde ein kleiner Weg in München-Feldmoching nach dem letzten Bayerischen Gesandten in Berlin und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus benannt.
Die öffentliche Erinnerung an Franz Sperr sollte sich jedoch rasch auf eine zunehmend private Ebene verlagern und schließlich vollends aussetzen. Zwar rief der Erlanger Universitätsprofessor Ernst Meier – ebenso ein früher Weggefährte Sperrs im Widerstand – bis Anfang der 1960er Jahre die Mitglieder des Widerstandskreises zu Gedenkveranstaltungen zusammen. Doch geriet Sperr anschließend in Vergessenheit. Weder die Öffentlichkeit noch die Geschichtswissenschaft nahmen nachhaltig Kenntnis von seinem Schicksal.
Die Gründe hierfür dürften vielfältig gewesen sein: Der Zeitgeist spielte eine große Rolle. So wurden die Widerständler vom 20. Juli 1944 insgesamt von einem Großteil der westdeutschen Bevölkerung noch Jahrzehnte lang als Hochverräter angesehen. Zudem hatte der „Sperr-Kreis“ keinerlei schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen, was eine geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion schwierig erscheinen ließ. Last but not least: Die Persönlichkeit Franz Sperr war nicht so recht zu greifen. Weder gehörte er einer politischen Strömung an, noch war er dem militärischen Widerstand zuzurechnen. Er war ein katholischer, bayerischer Föderalist. Ihm fehlten lange Zeit die Fürsprecher, die ein öffentliches Gedenken hätten anstoßen können.
Dies sollte sich erst im Zuge des Regierungsumzugs von Bonn nach Berlin um die Jahrtausendwende ändern. Nun war das geschichtspolitische Interesse der bayerischen Staatsregierung am letzten bayerischen Gesandten in Berlin geweckt. In der neuen bayerischen Vertretung in Berlin wurde öffentlichkeitswirksam ein Besprechungsraum nach Franz Sperr benannt. Eine Gedenktafel folgte 2004. Die Initiativen boten zugleich den Anstoß für erste umfangreichere, geschichtswissenschaftliche Darstellungen zu Franz Sperr und seinem Widerstandskreis. Eine detaillierte Studie zu Vorgeschichte, Aufbau und Wirken des bayerischen „Sperr-Kreises“ aus der Feder des Autors dieses Beitrags wird voraussichtlich im Herbst 2018 erscheinen.
Offizier und Gesandter im Dienste Bayerns
Franz Sperr wurde am 12. Februar 1878 im unterfränkischen Karlstadt am Main geboren. Er entstammte einer dem Hause Wittelsbach schon über Jahrzehnte verbundenen Försterfamilie. Erst sein Vater Ludwig hatte mit dieser Familientradition gebrochen und war Ingenieur der Königlich-Bayerischen Staats-Eisenbahnen geworden.
Nach der Geburt Franz Sperrs zog seine Familie aufgrund der Beamtentätigkeit des Vaters regelmäßig innerhalb des bayerischen Königreichs um. Der zufällige Geburtsort Karlstadt dürfte für den jungen Sperr deshalb nicht besonders prägend gewesen sein. Dagegen scheint die aus Aschaffenburg stammende, tiefgläubige katholische Mutter Franz und seine drei Geschwister nachhaltig beeinflusst zu haben, zugleich gab sie ihnen eine fränkische Liberalität mit auf den Weg.
In Kempten im Allgäu besuchte Franz Sperr das Gymnasium, sein Abitur sollte er „mit großer Auszeichnung“ auf dem Humanistischen Gymnasium in Ulm absolvieren. Anschließend schlug er eine Offizierslaufbahn ein. Sperrs sehr gute Leistungen spiegelten sich in seinem schnellen Aufstieg wider. Vom einfachen Fahnenjunker wurde er nach nur fünf Monaten zum Fähnrich befördert und an die Münchner Kriegsschule kommandiert, wo er 1899 den Offizierslehrgang mit Auszeichnung beendete. Im gleichen Jahr zum Leutnant ernannt, entschloss sich Franz Sperr nach Abschluss seiner zweijährigen freiwilligen Dienstzeit, Berufssoldat zu werden. Den vier Jahren bei seinem Stammregiment in Neu-Ulm folgten drei weitere beim Landwehrbezirkskommando Passau, ehe er 1906 in der Münchener Kriegsakademie die Ausbildung für den Generalstab der Bayerischen Armee antrat.
Für Franz Sperrs spätere Sicht des Föderalismus und seinen Platz im Widerstand dürfte dieser Schritt prägend gewesen sein. Schließlich unterstrichen der in Friedenszeiten eigenständig agierende Generalstab und die Kriegsakademie die weitgehende Eigenständigkeit Bayerns in militärischen Fragen. Zugleich schuf sich Sperr in jenen Jahren ein umfangreiches Beziehungsgeflecht innerhalb des aktiven Offizierskorps, auf das er nach 1933 im Rahmen seiner Widerstandstätigkeit zurückgreifen konnte.
Im Oktober 1913 stand der nächste wichtige Karriereschritt an: Franz Sperr wurde zum Großen Generalstab des Preußischen Heeres befohlen. Er betrat nun zum ersten Mal das Berliner Parkett und sammelte diplomatische Erfahrungen, von denen er in den Jahren zwischen 1919 und 1934 als bayerischer Interessensvertreter in Berlin profitieren sollte.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde Sperr als Generalstabshauptmann nach Ostpreußen versetzt, wo er unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und dessen Generalstabschef Erich Ludendorff zum Beauftragten des Chefs des Feld-eisenbahnwesens der 8. Armee befördert wurde.
Wiederum richtungsweisend war Sperrs Abordnung zur Armeeabteilung des Kriegsministeriums in München im März 1917, wo er die Demobilmachung vorbereiten sollte. Sperr stellte sein ausgesprochenes Organisationstalent und diplomatisches Feingefühl unter Beweis. Im Bayerischen Kriegsministerium gelangte man zu der Überzeugung, dass er seine Arbeit fortsetzen und professionalisieren solle. Ende Oktober 1918 erfolgte deshalb seine Versetzung zum bayerischen Militärbevollmächtigten nach Berlin, wo er wenig später die Geschäftsführung der Dienststelle übernehmen sollte.
Zeit seines Lebens blieb Franz Sperr parteipolitisch ungebunden. Dagegen hielt er bis 1918 und wohl auch darüber hinaus dem Hause Wittelsbach die Treue. Entsprechend aufgebracht reagierte Sperr auf den Ausbruch der Revolution im November 1918. Damals wollte er nicht zu jenen zählen, die den König in dieser schweren Stunde im Stich ließen. Dennoch trat er in den Jahren der Weimarer Republik nicht als glühender Monarchist in Erscheinung. Im Gegensatz zu vielen bürgerlichen Zeitgenossen lehnte er die Republik keineswegs ab, sondern versuchte, an ihrer Stabilisierung bei gleichzeitigem Erhalt eines starken Föderalismus mitzuwirken. Franz Sperr war in erster Linie Föderalist. Reichseinheit und Erhalt der bayerischen Souveränität waren für ihn keine Gegensätze, sondern untrennbar miteinander verbunden.
Seine Wandlung vom Offizier zum Gesandten vollzog Sperr ohne Anlaufschwierigkeiten. Sein neuer Dienstherr war nun die Bayerische Staatsregierung. Aufgrund seines selbstbewussten und durchaus erfolgreichen Auftretens in Berlin und Weimar wurde er in den bayerischen Staatsdienst übernommen und trat als vereidigter, bayerischer Beamter in ein besonderes Treueverhältnis zum Freistaat Bayern ein.
In der Reichshauptstadt als Diplomat etabliert, wurde Franz Sperr 1932 mit der Wahrnehmung der Geschäfte der Bayerischen Gesandtschaft betraut. Im Juni des gleichen Jahres forderte ihn Reichsinnenminister Wilhelm von Gayl auf, die Leitung der politischen Abteilung seines Ministeriums zu übernehmen. Sperr lehnte diese Offerte mit dem Hinweis auf seine innere Einstellung zum damaligen Reichskabinett ab. Seine Kritik an der Reichsregierung unter Franz von Papen hatte nicht zuletzt mit deren Einstellung gegenüber Hitlers NSDAP zu tun. Denn Sperr hatte erfahren, dass das Kabinett angeblich eine Regierungsübernahme der Nationalsozialisten vorbereitete. Ihr Ziel sei es demnach gewesen, der NSDAP bereits im Vorfeld durch entsprechende Maßnahmen die Möglichkeiten zu nehmen, die Verfassung in ihrem Sinne auszuhebeln. Auf dieses Vabanquespiel wollte sich Franz Sperr allerdings nicht einlassen.
Kurz darauf setzte die Reichsregierung einen Reichskommissar in Preußen ein. Der so genannte Preußen-Schlag vom Juli 1932 mehrte die Vermutung, Berlin werde auch mit anderen Reichsteilen in den folgenden Monaten kurzen Prozess machen.
Die weitere Entwicklung sollte zeigen, dass die Handlungsspielräume Bayerns immer kleiner wurden. Noch im Dezember 1932 und Januar 1933 versuchte Franz Sperr, vom neuen Reichskanzler Kurt von Schleicher eine Garantie für die Souveränität Bayerns zu erlangen. Nach dem Rücktritt des Kabinetts Schleicher Ende Januar 1933 wurde erneut Franz von Papen mit Regierungssondierungen beauftragt. Gegenüber einer erneuten Kanzlerschaft Papens, die als einzige Alternative zu einer Regierungsübernahme Hitlers im Raum stand, äußerste Sperr zwar schwerste Bedenken und drohte sogar mit Konsequenzen, die Bayern in diesem Fall ergreifen müsse. Allerdings hatte er auch längst erkannt, dass es einem Reichskanzler Hitler mit Hilfe der Weimarer Reichsverfassung möglich sein würde, auf scheinlegalem Wege das Reich in seinem Sinne umzugestalten. Sperr sprach sich daher letztlich für das kleinere Übel, eine erneute Regierung Papen, aus.
Bekanntlich kam es anders: Am 30. Januar 1933 übertrug Reichspräsident Hindenburg Adolf Hitler die Macht im Reich. Innerhalb von anderthalb Jahren baute dieser nicht zuletzt durch die „Gleichschaltung“ der Parteien und der Länder seine Position zum uneingeschränkten „Führer und Reichskanzler“ aus.
Am 1. März 1933 erfolgte Franz Sperrs offizielle Ernennung zum Bayerischen Gesandten in Berlin. In der Folgezeit unternahm er den Versuch, im Sinne Bayerns Einfluss auf die Politik der Reichsregierung auszuüben. Den bayerischen Monarchisten, die in diesen Tagen die Ausrufung der Monarchie in München planten, riet er aus Sorge um die staatliche Integrität Bayerns von ihrem Vorhaben ab. Sein einziges Gespräch mit dem neuen Reichskanzler Hitler Anfang März 1933 brachte Franz Sperr die Gewissheit: Eine Machtübernahme der Nationalsozialisten in Bayern stand unmittelbar bevor. Trotz fortwährender Auseinandersetzung mit den Berliner Regierungsstellen konnte er diese am 9. März 1933 nicht verhindern.
In den folgenden Monaten musste Franz Sperr die schrittweise Gleichschaltung Bayerns mit dem Reich diplomatisch begleiten. Die Frustration, dem nationalsozialistischen Machtstreben nichts entgegensetzen zu können, dürfte ihn nachhaltig geprägt haben. Er musste erkennen, dass Verhandlungen und Vereinbarungen mit den Nationalsozialisten keinerlei Wert besaßen. Auch das Ziel der Männer um Franz von Papen, Hitler in seinem Regierungshandeln einzuengen, ihm seine Grenzen aufzuzeigen und ihn dadurch in seinem Machtstreben zu zügeln, ließ sich nicht verwirklichen.
Franz Sperrs Entschluss, in die bayerische Heimat zurückzukehren, schien bereits gefallen zu sein, bevor der so genannte Röhm-Putsch und die nachträgliche Legitimierung der Mordaktionen an unliebsamen politischen Gegnern das Fass zum Überlaufen brachten. Denn bereits Mitte April 1934 kündigte er im engeren Kreis seinen Rücktritt als Gesandter an. Mit Schreiben vom 5. September 1934 bat er beim Bayerischen Ministerpräsidenten offiziell um die Versetzung in den einstweiligen Ruhestand. Im Oktober 1934 kehrte Franz Sperr mit seiner Familie in die bayerische Heimat zurück.
Der Sperr-Kreis (1935-1944)
In München erreichte Franz Sperr um die Jahreswende 1934/35 die Bitte des bayerischen Kronprinzen Rupprecht, sich zu einem Gespräch bei ihm einzufinden. Der älteste Sohn des letzten bayerischen Königs Ludwig III. lebte seit dem Zusammenbruch der Monarchie mehr oder weniger zurückgezogen. Politischen Dingen gegenüber aufgeschlossen, hatte er Anfang 1933 mit der bayerischen Staatsregierung erfolglos über seine Proklamation zum König verhandelt, auch um einer Machtübernahme der Nationalsozialisten in München zuvorzukommen.
Spätestens seit Mitte 1934 war Rupprecht davon überzeugt, dass das NS-Regime aufgrund seiner inneren Zerrissenheit und wirtschaftspolitischen Inkompetenz keinen langen Bestand haben werde. Gemeinsam mit seinem Kabinettschef, Franz Freiherr von Redwitz, rechnete der Kronprinz fest mit dem Zusammenbruch des unrechtstaatlichen Systems. Auf diesen Zeitpunkt wollte man sich allerdings vorbereiten. Es sollte nicht erneut – wie 1918/19 beim Untergang der Monarchie – zu chaotischen Zuständen in den bayerischen Städten kommen.
In der Einschätzung der Lage stimmte Franz Sperr mit dem bayerischen Kronprinzen überein. Neben Sperr zog Rupprecht auch den ehemaligen Reichswehrminister Otto Geßler und den früheren Reichswirtschaftsminister Eduard Hamm zu mehreren Treffen hinzu. Sperr war mit den beiden liberalen, aus Bayern stammenden ehemaligen Politikern sehr gut bekannt. In den Gesprächen gelangte man zu der Überzeugung, in Bayern Vorsorge treffen zu müssen für den Fall, dass das NS-Regime zusammenbrechen werde.
Gemeinsam legte man eine Aufgabenverteilung fest: Hiernach sollte sich Sperr um die Kontaktaufnahme mit möglichen Vertrauensleuten in Polizei und Militär, Hamm um diejenige in Justiz, Wirtschaft und Verwaltung bemühen, während Geßler die Verbindung mit dem Ausland aufnehmen sollte. Mit dem bayerischen Kronprinzen stand man über Geßler auch während Rupprechts Exilzeit in Florenz ab 1939 in engem Austausch.
Franz Sperr verstand es, seine Widerstandshandlungen zu tarnen. Seit 1936 stand der ehemalige Offizier an der Spitze der Münchener Zweigstelle der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaft (DGWW) und konnte auf diese Weise seine konspirativen Kontakte in militärische Kreise stetig ausbauen. Selbst nach seinem Austritt aus der „Gesellschaft“ unternahm er weiterhin Vortragsreisen. Seiner freundschaftlichen Verbindung zum ehemaligen Reichswirtschaftsminister Kurt Schmitt verdankte Franz Sperr 1943 die Einstellung als Berater in der „Münchener Rückversicherungsgesellschaft“. Auch diese Arbeit ermöglichte es ihm, unauffällig Reisen in der bayerischen Heimat zu unternehmen und mögliche Vertrauensleute für den Widerstand zu gewinnen.
Nicht zuletzt durch Sperrs intensive Werbungstätigkeit konnte der Widerstandskreis bis 1944 auf mindestens 66 Personen ausgebaut werden. Die Gruppe rekrutierte sich überwiegend aus dem Lager der traditionellen, bürgerlichen Eliten Bayerns. Über die Hälfte der Mitglieder waren promovierte Akademiker, die ihrer Arbeit als Beamte, Unternehmer, Richter und Anwälte sowie Politiker nachgingen. Von der politischen Sozialisation her ist ein hoher Anteil an links- und nationalliberaler sowie katholisch-konservativer Parteiverbundenheit zu konstatieren. Die Mitglieder des Kreises verband ein auf christlich-moralischen und liberal-rechtsstaatlichen Grundsätzen basierendes Staatsverständnis. In diesem spielte ein starker, die staatliche Integrität und kulturelle Eigenheit Bayerns achtender Föderalismus eine wichtige Rolle. Die Frage der künftigen Staatsform, ob Monarchie oder Republik, war letztlich für die Widerstandsgruppe nicht entscheidend. Von der Wiederherstellung der Wittelsbacher Monarchie unter einem König Rupprecht versprach sie sich allerdings in Zeiten des Umbruchs eine nachhaltig integrative Wirkung, weshalb sie diese Lösung favorisierte.
Regionale Widerstandszellen wurden unter anderem in München, Augsburg und Nürnberg geschaffen. Eine herausragende Rolle kam einer Augsburger Gruppe zu, die Franz Sperr an den Widerstandskreis heranführte und diesem wichtige Impulse verleihen sollte. Die Männer um den Rechtsanwalt Franz Reisert und den Unternehmer Ludwig Berz waren überwiegend katholisch geprägt und standen parteipolitisch der früheren Bayerischen Volkspartei nahe. Ihr Wert für die Widerstandsgruppe lag in erster Linie in der wirtschaftspolitischen Expertise ihrer Mitglieder.
Über Franz Reisert kam die Gruppe um Sperr 1943 mit dem reichsweit agierenden Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke in Kontakt. Die „Kreisauer“ stellten gleich dem Sperr-Kreis Neuordnungspläne für die Zeit „Danach“ an. Sie waren seit der Jahreswende 1942/43 auf der Suche nach geeigneten Landesverwesern, die nach dem Zusammenbruch in den einzelnen Reichsteilen Sicherheit und Ordnung garantieren sollten. Für Süd-Bayern hatte man Franz Sperr ins Auge gefasst.
In München fanden die Besprechungen bei den Jesuitenpatres Alfred Delp, Lothar König und Augustin Rösch statt. Delp wirkte seit 1939 als Seelsorger in München-Bogenhausen. Die Pfarrkirche Heilig Blut befand sich nur wenige Meter vom Wohnhaus Sperrs entfernt. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass Sperr Delp zumindest flüchtig kannte, bevor er im Frühjahr 1943 mit ihm und den Männern um Moltke zusammentraf. Zumindest soll Sperr den Namen Delp bereits vor Kriegsbeginn gegenüber einem Vertrauensmann seines Widerstandskreises erwähnt haben.
Inhaltlich drehten sich die Gespräche insbesondere um staatsrechtliche Fragen. Die Absicht der „Kreisauer“, neben Preußen auch Bayern im Zuge der Neuordnung aufzuspalten, stieß auf erhebliche Gegenwehr Sperrs, der geradezu in seine alte Rolle als Verteidiger der staatlichen Integrität Bayerns zurückfiel. Er betonte, dass eine Aufteilung Preußens ein nicht so „gefährliches Experiment“ sei wie eine Aufteilung Bayerns.
Neben der Zumutung einer Aufteilung Bayerns scheint Moltke Sperr auch das Gesuch „preußischer Offiziere“ übermittelt zu haben, wonach Bayern im Falle eines Umsturzes voranschreiten sollte. Sperrs Reaktion fiel auch hier deutlich aus: Er war davon überzeugt, dass ein solcher Aufstand mit einer totalen Vernichtung Bayerns enden müsste. Denn Hitler würde auf einen Umsturzversuch mit rücksichtsloser Härte reagieren und nicht einmal einen Einsatz der Luftwaffe scheuen.
Die Diskussionen mit den „Kreisauern“ drehten sich auch um Fragen der politischen Agenda. Differenzen gab es hier im Hinblick auf die Ideen für eine künftige Wirtschaftspolitik. Franz Sperr scheint für eine marktwirtschaftliche Orientierung eingetreten zu sein, während Moltkes Vorstellungen teilweise planwirtschaftliche und sozialistische Tendenzen aufwiesen. Auch spielte das künftige Verhältnis von Staat und Kirche bei den Gesprächen eine wichtige Rolle. Über die Notwendigkeit der Einbindung der Kirche, vornehmlich der katholischen Kirche in Bayern, war man sich im Sperr-Kreis einig. Daher hatte man frühzeitig die Verbindung mit geistlichen Würdenträgern aufgenommen. Doch obwohl der Katholizismus unter den Mitgliedern des Sperr-Kreises dominierte, entsprach es dem vor allem bürgerlich-liberalen Widerstandskreis, sich gegenüber den „Kreisauern“ für eine strikte Trennung von Staat und Kirche in einem Nachkriegsdeutschland auszusprechen.
Franz Sperr und sein Kreis rückten im Verlauf der Jahre 1943 und 1944 noch näher an das Zentrum des Widerstands in Berlin heran. Am 6. Juni 1944 erfolgte die Landung der Alliierten in der Normandie. Am Nachmittag des gleichen Tages traf Sperr in Bamberg mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg zusammen, der eineinhalb Monate später, am 20. Juli, einen Attentatsversuch auf Hitler unternehmen sollte.
Auf beiden Seiten bestand Interesse an einer Aussprache. Stauffenberg wollte Sperr über das geplante Attentat informieren und sich hierfür offenbar die Zustimmung und Rückendeckung der Bayern einholen. Sperr wurde also auch von der Militäropposition in Berlin als Exponent des bayerischen Widerstands wahrgenommen. Dem ehemaligen Gesandten ging es überwiegend darum, Stauffenbergs staatsrechtliche Vorstellungen für die Zeit „Danach“ in Erfahrung zu bringen. Insbesondere dessen Verständnis vom künftigen Reich-Länder-Verhältnis interessierte ihn.
Franz Sperr trat somit im Widerstand in gewisser Weise inoffiziell als Diplomat im Dienste Bayerns in Erscheinung. Das Treffen mit Stauffenberg war in dieser Hinsicht die Fortsetzung der bereits 1943 mit den „Kreisauern“ geführten Verhandlungen. Da die Männer um Sperr, Geßler und Hamm keineswegs beabsichtigten, Bayern aus dem Reich auszugliedern, erschien eine Koordinierung mit einer möglichen neuen Reichsführung bereits im Vorfeld eines eventuellen Umsturzes zwingend geboten.
Die Aussprache mit Stauffenberg dürfte Sperr beruhigt haben: Denn dieser sprach sich ausdrücklich für einen föderalistischen Bundesstaat aus. Dagegen sah Sperr die Vorbereitungen für die Zeit „Danach“ und den avisierten Zeitpunkt für ein Attentat kritisch. Im Sperr-Kreis war man sich einig, dass ein Umsturz nur gelingen konnte, wenn sich die Stimmung innerhalb des deutschen Volkes gegen die eigene Regierung gewandt hatte. Eine erneute Dolchstoßlegende musste dagegen die vom bayerischen Widerstandskreis seit einiger Zeit angestellten Bemühungen zur Schaffung einer „Auffangorganisation“ gefährden. Sperr scheint Stauffenberg zwar die Gefolgschaft nicht grundsätzlich verweigert zu haben. Doch blickten seine Mitstreiter und er mit tiefer Sorge auf die sich abzeichnenden Ereignisse der folgenden Tage und Wochen.
Obwohl die Männer um Franz Sperr am 20. Juli 1944 nicht aktiv den Umsturz von Bayern aus vorantrieben, wurde die Führungsriege der Widerstandsgruppe als Beteiligte des Umsturzversuchs verhaftet. Der Gestapo war das Treffen zwischen Sperr und Stauffenberg bekannt geworden. Im Gefängnis offenbarte Sperr seine katholische Prägung, seine humanistische Gesinnung und seine liberalen Grundsätze: Als einer der wenigen „Mitverschwörer“ wandte er sich im Verhör offen gegen die Unfreiheit des NS-Systems und betonte seine Ablehnung der „Judenmaßnahmen“.
Anfang Januar 1945 stand Franz Sperr gemeinsam mit seinen Verbündeten im Widerstandskreis sowie Mitgliedern des Kreisauer Kreises vor dem Volksgerichtshof. Dessen Präsident Roland Freisler verstand den Prozess als eine Abrechnung des NS-Regimes mit dem Christentum. So mussten die Protestanten Helmuth von Moltke und der spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier wie auch die Katholiken Alfred Delp, Franz Sperr und Franz Reisert die Hasstiraden Freislers über sich ergehen lassen.
Franz Sperr zielte mit seiner Verteidigungstaktik offenbar darauf ab, lediglich seinen eigenen Gesprächspart bei dem Treffen mit Stauffenberg zu entschärfen. Dass man ihm abnehmen würde, der spätere Attentäter hätte ihm nichts von seinen Plänen erzählt, glaubte er nicht. Die Verteidigung war nicht sehr glücklich, weil sie praktisch das Eingeständnis seiner Mitwisserschaft in sich schloss. Sperr ging fatalerweise davon aus, dass ihm Freisler seine Ehrlichkeit anrechnen würde. Doch das Gegenteil war der Fall. Im Urteilsspruch hieß es: „Ein Mann wie Sperr mußte wissen und hat sich auch gesagt, daß es eine höchste Gefahr für den Staat bedeutet, wenn ein Offizier in diesem Rang und in dieser Stellung Derartiges sagt. […] Wenn er deshalb das nicht meldete, obgleich wir uns im scharfen Ringen um Sein oder Nichtsein befanden, so hat er damit Zeugnis dafür abgelegt, daß in ihm keine Spur von Ehre vorhanden ist. Deshalb mußten wir ihn für dieses sein verräterisches Unterlassen mit dem Tode bestrafen […].“ Das Todesurteil gegen Franz Sperr wurde am 23. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee durch Erhängen vollstreckt.
Die bayerische Widerstandsgruppe war damit ihrer Spitze beraubt und sollte nicht mehr nachhaltig in Erscheinung treten. Kronprinz Rupprecht erhielt noch vor Kriegsende in seinem Florentiner Exil die Nachricht vom Tode Franz Sperrs. Mit ihm verlor er einen seiner engsten Vertrauten und den Kopf jener „Auffangorganisation“, in die er für die Zeit nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches große Hoffnungen gesteckt hatte.
Der Verlust wog in der Tat schwer. Sowohl Bayern als auch die frühe Bundesrepublik Deutschland hätten von Franz Sperrs großer politischer Erfahrung und seinem diplomatischen Geschick profitieren können. Mit Sicherheit hätte Sperr gleich seinen Mitstreitern im Widerstand, die nach 1945 teilweise in hochrangige Positionen in Politik, Wirtschaft und Justiz gelangten, einen wichtigen Beitrag zum rechtstaatlichen Neubeginn Deutschlands geleistet.
Franz Sperr und sein Widerstandskreis stehen in besonderer Weise für das Festhalten an christlichen und liberalen Grundsätzen in totalitären Zeiten. Für Gegenwart und Zukunft gilt es, dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht erneut in Vergessenheit geraten.