Roland Barthes hat in seinem Buch Fragmente einer Sprache der Liebe in alphabetischer Reihung von A bis Z Redeweisen, Strategien und Praktiken der Liebe ausgeleuchtet. Auf eines ist er in seinem eindrücklichen Katalog nicht eingegangen, das Zueinanderfinden zweier Menschen über den Sprechakt des Segens. Um diese Leerstelle wird es im Folgenden gehen. Denn Paul Celans Gedicht Benedicta, das dem Zyklus Die Niemandsrose (1963) entstammt, ist ein poetisches Zeugnis für eine Begegnung unter dem Vorzeichen des Segens. Fremdheit und Differenz zwischen Ich und Du werden überwunden durch das gemeinsame Gedenken des Leidens. Celans Gedicht greift jüdische und katholische Traditionssplitter auf, um das überraschende Zueinanderfinden von Ich und Du sprachlich zu inszenieren, ja es greift auf den Sprechakt des Segnens zurück, um die Angesprochene auszuzeichnen, ja zu signieren: sie, die vertraut ist mit den Finsternissen, sie, die den Abbruch der Stimme registriert und „dasselbe, das andere / Wort“ gesprochen hat.
Das Gedicht Benedicta weist Wörter auf, die an keiner anderen Stelle im Gesamtwerk Paul Celans belegt sind. Sie entstammen beinahe ausnahmslos dem sakralen Bereich: „Benedicta“, „Väter“, „Pneuma“, „Teneberleuchter“, „Ge-/benedeiet“ und „Ge-/bentscht“. Das singuläre Vorkommen dieser Wörter sowie die erstmalige Verwendung des Jiddischen in einem Gedicht von Celan werfen ein Licht auf die Einzigartigkeit des Zeugnisses, das hier versucht wird: Die Annäherung eines Menschen an einen anderen über den Sprechakt der Segnung. Dass es darüber hinaus auch um eine Begegnung zweier unterschiedlicher religiöser Traditionen geht, der jüdischen und der katholischen, bezeugen die unterschiedlichen Kontexte, denen die sakralen Begriffe entstammen.
(1) Zum jüdischen Kontext gehören:
- das Motto (ein jiddisches Lied, das auf eine Selicha – ein Sühne- und Bußgebet des Jom Kippur – zurückgeht, und im 16. Jahrhundert von Salomo Ephraim ben Aaron, Rabbiner in Prag, gedichtet wurde)
- der jiddische Einschub ‘s mus asoj sajn (Z. 14)
- die Väter (die alttestamentlichen Patriarchen; Z. 3 und 4)
- ge-/bentscht (von jiddisch: bentschen = segnen; Z. 24f)
(2) Zum katholischen Kontext gehören:
- der Titel Benedicta, dem Ave Maria entnommen
- Pneuma (Z. 5, findet sich häufig im Neuen Testament, aber schon vorher als griechisches Äquivalent zu hebr.: ruach)
- Teneberleuchter (Kultgegenstand der Karliturgie vor dem II. Vatikanum; Z. 11)
- Gebenedeiet (das deutsche Äquivalent zu Benedicta;
Z. 19)
Neben der Möglichkeit, die im Gedicht verwendeten sakralen Wörter nach ihrer Zugehörigkeit zu religiösen Kontexten zu ordnen und die Begegnung zwischen einem jüdischen Ich und einem katholischen Du als interreligiöse Begegnung zu lesen, gibt es eine zweite vom Titel des Gedichts selbst nahegelegte Lesart, nämlich die, das lateinische Benedicta als Thema und die verschiedenen Äquivalente (Ge-/segnet, Gebenedeiet, Ge-/bentscht) als Variationen zu begreifen. Dabei kommen die unterschiedlichen Varianten im Bedeutungsgehalt überein, ohne je – und das wird für die folgenden Überlegungen wichtig sein – ausdrücklich the Instanz ins Spiel zu bringen, auf die beim Segnen rekurriert wird. Jede Segnung geschieht im Namen einer Instanz, von der her der Segen gesprochen wird. Es scheint, dass Celan in Benedicta die poetische Absicht verfolgt, von dieser Größe zu sprechen, ohne sie direkt beim Namen zu nennen. Auf dieses paradoxe Phänomen möchte ich bei der Deutung das Augenmerk lenken.
I.
Schon der Titel Benedicta zeigt das Thema der Segnung an (benedicere = loben, preisen, segnen); zugleich wird durch die weibliche Form (benedicta, nicht: benedictus) die Identität des angesprochenen Du näher bestimmt. Die deutsche Variante „gebenedeiet“ sowie die Wendungen „seist du“ und „grüßen“ verweisen auf das Ave Maria: „Ave Maria, gratia plena, benedicta tu in mulieribus et benedictus fructus ventris tui Iesus“ (Vulgata Lk 1,28). Allerdings gehört es zur Eigenart des Gedichts, dass es auf marianische Sprache zurückgreift, ohne ausdrücklich von Maria zu reden. Im Gegenteil: Dem lateinischen Wort Benedicta wird vielmehr ein jiddisches Lied als Motto zur Seite gestellt, das die Frage aufwirft, ob man zu Gott in den Himmel gehen könne, um ihn zu fragen, ob es so, wie es ist, sein dürfe. Damit ist – in der Tradition Hiobs – die Theodizeefrage aufgeworfen. Beide Traditionen aber, die jüdische wie die katholische, laufen in einem Namen zusammen, der durch die Überschrift des Gedichts evoziert wird. Es handelt sich um die Husserl-Schülerin Edith Stein (1891–1942), die den Namen Teresia Benedicta a cruce annahm, als sie vom Judentum zum katholischen Glauben übertrat und Karmelitin wurde, bevor sich im August 1942 die Spuren ihres Lebens im Vernichtungslager Auschwitz verlieren. Allerdings gibt das Gedicht zunächst keinen eindeutigen Hinweis darauf, ob ein solcher Bezug gegeben ist, vielmehr heißt es von der, die hier angesprochen wird:
Ge-
trunken hast du,
was von den Vätern mir kam
und von jenseits der Väter:
– – Pneuma.
und weiter:
Ge-
segnet seist du, von weit her, von
jenseits meiner
erloschenen Finger.
Schon im ersten Gedichtteil wird eine Größe ins Spiel gebracht, die nicht näher benannt wird, etwas, was von den Vätern kommt und von jenseits der Väter. Die Väter stehen im Judentum ebenso für das religiöse Erbe (Bund und Verheißung) wie für die genealogische Abstammung. Das häufige Vorkommen ähnlicher Wortchiffren wie „Geschlechterkette“ (GW I, 274), „Radix“, „Matrix“, „Same“, „Wurzel“ und „Stamm“ zeigt an, dass es Celan in der Niemandsrose um eine Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft geht. Das Du aber ist dem Ich, von dem es angesprochen wird, dadurch verbunden, dass es vom Pneuma der Väter und „jenseits der Väter“ getrunken hat. Über die geistige Aneignung des religiösen Erbes legt Benedicta durch die Rede vom Trinken zugleich einen körperlichen Vorgang nahe. In einer der Vorstufen stand nach dem Doppelpunkt ursprünglich „Sperma“ – ein Wort, das über die sexuelle Konnotation ins Genealogische zurückverweist.
Dann folgt die direkte Übersetzung des Titels ins Deutsche: „Ge-/ segnet“. Aber der Segen, der dem Du zugesprochen wird, geht dem Sprechenden nicht leicht über die Lippen. Er ist gestammelt, der Zeilenbruch nach der ersten Silbe macht die Unterbrechung des Sprachflusses augenfällig. Dieses Verfahren, durch Silbentrennung das Sprechtempo eines Gedichts extrem zu verlangsamen, hat Ingeborg Bachmann in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen von 1960 treffend als „Wortkernspaltung“ bezeichnet. Auf die strukturbildende Wiederholung der Vorsilbe „Ge-“ wird zurückzukommen sein.
Das Ich, das hier segnet, spricht nicht im eigenen Namen. Es spricht von weit her. Es sieht von sich ab und geht über sich hinaus, greift zurück auf etwas, das weit, ja jenseits seiner selbst liegt. Zum zweiten Mal bringt das Gedicht dieses jenseits ins Spiel, das über das Ich hinaus auf etwas verweist, das nicht genannt wird. Von diesem Nichtgenannten her setzt das Ich sein Zeichen (dt. „segnen“ kommt von lat. signare: ein Zeichen setzen). Es kann die jahrhundertealte Bundes- und Leidensgeschichte der Väter sein, eine ungebrochen gebrochene Geschichte von Verfolgung, Exil und Diaspora, auf die das Ich hier anspielt. Es kann aber auch sein, dass sich die Annäherung an das Du, die sich im Sprechen des Segens verdichtet, auf eine Instanz rückbezieht, von der her und in deren Namen gesegnet wird. Diese Instanz bleibt ohne Namen, wenngleich Spuren ihrer Präsenz in der Rede vom Segen eingezeichnet werden.
Ein Segenswunsch, will er nicht innerlich bleiben, muss seinen Ausdruck finden in einer leiblich-symbolischen Geste. Das Organ dieser Geste sind in der jüdischen Tradition die Finger. Über die Finger des Ich aber heißt es, dass sie erloschen sind. Diese ungewöhnliche Rede, die das Löschen der Kerzen des Teneberleuchters in einen anderen Bereich transponiert, deutet möglicherweise an, dass die Segenskraft – aus hier ungenannten Gründen – erloschen ist.
Was aber veranlasst das Ich überhaupt, einen Segen in solch emphatischer Weise auszusprechen? Im zweiten Gedichtabschnitt werden drei Vorkommnisse erinnert, welche die Angesprochene auszeichnen:
Du, die ihn grüßte,/ den Teneberleuchter.
Du, die du’s hörtest, … , wie/ die Stimme nicht
weitersang nach:/ ‘s mus asoj sajn.
Du, die du’s sprachst … : dasselbe, das andere/ Wort: Gebenedeiet.
Zunächst wird erinnert, dass die Angesprochene den Teneberleuchter gegrüßt hat. Das ist eine bemerkenswerte Abweichung von der Verkündigungsszene, wie sie im Lukas-Evangelium erzählt wird: Im Unterschied zu Maria, die vom Engel gegrüßt wird und damit eine eher passive Rolle einnimmt, hat hier die Angesprochene selbst die Initiative ergriffen und den Teneberleuchter gegrüßt, einen Kultgegenstand, der in der katholischen Karliturgie den Einbruch der Finsternis nach dem Todesschrei Christi am Kreuz sinnlich wahrnehmbar macht. Im Officium tenebrarum, den so genannten Finstermetten, werden am Gründonnerstag, am Karfreitag und am Karsamstag Lesungen aus den Klageliedern Jeremiae gelesen. Dabei werden die 15 Kerzen des Teneberleuchters nach und nach gelöscht, so dass die Worte der Klage durch die Verdunklung des Kirchenraumes auch ästhetisch erfahrbar werden. Brigitta Eisenreich, eine Freundin Celans, schreibt: „Sowie ich mich zu erinnern glaube, hat Paul Celan diesem auch ‚Dunkel- oder Trauermetten’ genannten katholischen Ritus in der Bretagne einmal beigewohnt.“ Im Gegensatz zum Ave Maria, das an das alles wendende Heilsereignis erinnert, wird durch das Grüßen des Teneberleuchters der Blick auf Golgotha gelenkt (das erst aus nachösterlicher Perspektive und im Lichte des Glaubens zum Heilsereignis wird). Das lateinische Wort Tenebrae bezeichnet, so Hans-Georg Gadamer, eine „bestimmte Verfinsterung, die, dem Evangelium zufolge, eintrat, als Jesus am Kreuz seinen letzten Atemzug aushauchte. Im katholischen Kultus wird das als Passionsmette, als Karfreitagsmette, so gefeiert, dass das Ereignis der Verfinsterung des Himmels im Augenblick von Jesu Sterben kultisch wiederholt wird […]. Das Wort Jesu am Kreuz: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ (Mk 15,34) ist selbst ein Zitat aus dem Alten Testament (Ps 22,2). So fügt schon der christliche Kult die Gottverlassenheit, die das Schicksal des jüdischen Volkes in seiner babylonischen Gefangenschaft war, mit der Gottverlassenheit des Juden Jesus am Kreuz zusammen.“
II.
Celan dürfte es in der Rede vom Teneberleuchter über die Erinnerung an das babylonische Exil hinaus zugleich um das Eingedenken der Katastrophe gehen, die das jüdische Volk während der NS-Zeit traf. Dies macht das „Passionsgedicht“ Tenebrae deutlich, auf das sich Benedicta in der Rede vom Teneberleuchter rückbezieht:
TENEBRAE
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.
Bete, Herr,
bete zu uns, wir sind nah.
Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr.
Es war Blut, es war,
was du vergossen, Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr,
Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.
Bete, Herr.
Wir sind nah.
Das Gedicht Tenebrae ist durch die Passionskantate Leçons de Ténèbres des Barockkomponisten François Couperin angeregt worden. Es spielt schon im Titel auf die „Gottesverfinsterung“ des Karfreitags an. Der Beginn erinnert an Hölderlins Hymne Patmos, wo es heißt: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott“. Die Ebene des Verstehens, die Hölderlin mit der Rede vom schwer fassbaren Gott berührt, wird bei Celan allerdings sofort auf die Ebene des physisch Greifbaren verlagert. Denn Tenebrae spricht von einer Nähe zwischen den „gegriffenen“ und „ineinander verkrallten“ Leibern der Toten (vgl. Klgl 3,6) zum geschundenen Leib des Gekreuzigten, vermeidet aber, beide einfach in eins zu setzen. Weder wird die Kreuzigung Jesu in die Agonie des jüdischen Leidens hineingenommen – wie in der „Gelben Kreuzigung“ Marc Chagalls –, noch wird – wie bei einigen Vertretern der jüdischen Holocaust-Theologie – das Leid der Shoah-Opfer auf der Linie des Vierten Gottesknechtslieds als stellvertretende Sühne gedeutet (vgl. Jes 52,13–53,12). Es ist zwar bemerkenswert, dass der christologische Würdetitel „Herr“ (κύριοV) eindringlich beschworen wird. Der Hoheitsanspruch, den das christliche Bekenntnis für Jesus, den Juden, geltend macht, scheint demnach anerkannt. Allerdings wird – und dies bedeutet eine massive Infragestellung – die Perspektive verkehrt: Nicht die Rufenden beten zum Herrn, sondern der Herr wird seinerseits zum Gebet aufgefordert. Ja, das Gedicht geht sogar so weit, dass es den Herrn selbst drängt, sein Gebet an die Leidenden zu richten („Bete, Herr,/ bete zu uns,/ wir sind nah.“). Der Literaturwissenschaftler Werner Kraft hat dazu kritisch angemerkt, dass Gott doch wohl nicht beten könne. Celan erwiderte ihm darauf in einem Brief, dass sich sein Gedicht ausdrücklich auf das Karfreitagsgeschehen beziehe, und fragte, ob „Eli, Eli, lama sabachtani“, der Schrei des Gottverlassenen am Kreuz (vgl.
Ps 22,2; Mt 27,46) etwa kein Gebet Gottes gewesen sei. Im Tod sind die Opfer dem Gekreuzigten nahezu gleich geworden, ja es scheint, als würde jetzt ihrem Leiden eine sakrale Bedeutung beigemessen. Das steht in Kontrast zu Gedenkpraxis vieler Christen, die die memoria passionis auf den einen Gekreuzigten konzentrieren, die vielen Passionsgeschichten, besonders die der jüdischen Opfer, aber vergessen. Von der rettenden und versöhnenden Kraft der Passion Jesu ist jedenfalls in Tenebrae keine Rede, sie scheint angesichts des Grauens erloschen, an dessen fürchterliches Ausmaß das Gedicht erinnert, wenn es die Bilder von „ineinander verkrallten“ Leichen heraufbeschwört. Dadurch setzt es einen Kontrapunkt zur religiösen Verklärung des Leidens.
Um die jüdische Leidensgeschichte aber scheint das Du im Gedicht Benedicta zu wissen; im Grüßen des Teneberleuchters gibt es zu erkennen, dass ihm diese Gottesverfinsterung vertraut ist.
Darüber hinaus zeichnet sich die Angesprochene zweitens durch eine bestimmte Wahrnehmung aus: es hört den ungewöhnlichen Abbruch der Stimme nach „’s mus asoj sajn“. Das jiddische Lied, das dem Gedicht als Motto vorangestellt wurde, hatte die Frage aufgeworfen, ob man in den Himmel hinaufgehen und bei Gott anfragen könne, ob es so sein darf, wie es ist. Diese Frage – die einzige im ganzen Gedicht! – kann als hadernde Rückfrage an Gott gedeutet werden, und die Antwort, die dem Gedicht als jiddisches Zitat gewissermaßen als Achse einkonstruiert ist, lautet, es müsse so sein, wie es ist. Nach dieser lapidaren Auskunft – im jiddischen Lied „Gott“ in den Mund gelegt – verstummt die Stimme. (Inzwischen ist der biographische Hintergrund dieser Zeile bekannt. Birgitta Eisenreich hat das jiddische Lied mit Celan gemeinsam gehört, die Nadel des Plattenspielers hat sich beim „’s mus asoj sajn“ verhakt …). Die Behauptung aber, dass das, was geschah, habe geschehen müssen, verschlägt die Sprache, auch und gerade dann, wenn sie – wie im Lied – mit der Autorität „Gottes“ vorgetragen wird. Das Ich schließt die Augen, und ganz buchstäblich verdunkelt sich ihm die Welt.
Immer wieder stößt man beim Lesen Celanscher Gedichte auf die Schwierigkeit, im Gesagten den einkomponierten Fokus des Mitgesagten transparent zu machen, ohne die Grenze zur Willkür zu überschreiten. Vielleicht ist diese Grenze schon überschritten, wenn man im ‘s mus asoj sajn die Frage mithört, ob und wie die Existenz Gottes angesichts des sinnlosen Leids in der Welt zu rechtfertigen sei. Die lakonische Art jedoch, mit der die Behauptung vom gottgewollten Zustand der Dinge zitiert wird, und die ungewöhnlichen Reaktionen (Verstummen, Augen schließen), mit der sie kommentiert wird, scheinen dafür zu sprechen, dass hier die Theodizee-Frage zu leichtfertig beantwortet wird. Auf die Implikationen dieser Behauptung wird nicht eingegangen, als könne schon die bloße Auseinandersetzung damit als leisestes Zugeständnis an deren Triftigkeit missdeutet werden. Mithin dürfte es kein Zufall sein, dass das Gedicht diese Behauptung in einer seit der Shoah vom Untergang bedrohten Sprache einbringt.
Entscheidend ist, dass das Du not überhört, wie die Stimme nach der Auskunft: ‘s mus asoj sajn nicht weitersingt. Es vollzieht die Betroffenheit mit. Dass es trotz unterschiedlicher religiöser Herkunft – das Grüßen des Teneberleuchters legt eine katholische Sozialisation nahe – ein Sensorium für die Brisanz dieser Aussage hat, ist für das Ich Grund zur Emphase: „Du, die du’s hörtest…“
One dritte Qualität des Du besteht darin, dass es „dasselbe, das andere Wort“ spricht. Ausgespart wird, wem dieses Wort gilt, kein Name wird genannt, ja es ist unklar, ob die Anrede überhaupt jemandem gilt. Das Gedicht schweigt; es nennt nur den Ort, wo gesprochen wird, als ließe sich von der Ortsangabe auf die Identität der Adressaten rückschließen. Das „Gebenedeiet“ wird in „Auen“ gesprochen, von denen es heißt, dass sie „augen-/los“ sind. Das poetische Verfahren bildet geradezu den Sehverlust ab, wenn dem Wort „Augen“ der mittlere Buchstabe, das „g“, gleichsam amputiert wird und als Relikt „Auen“ stehen bleibt. Was aber ist damit angedeutet? Handelt es sich um die leer stehenden Augen derer, die auf ein bestimmtes Gelände verschleppt wurden? „Verbracht ins/ Gelände/ mit der untrüglichen Spur …“ (GW I, 197) hieß es in der Engführung, dem großen Abschlussgedicht aus dem Band Sprachgitter, und weiter: „Zum/ Aug geh, zum feuchten.“ (GW I, 199) Oder spielt Celan auf die ausgeweinten Augen der Schechina im Exil an? Bei Gershom Scholem heißt es: „Merkwürdig ist der mehrfach bezeugte Brauch, die Sabbath-Psalmen mit geschlossenen Augen zu sagen, was von den Kabbalisten damit begründet wurde, daß die Schechina im Sohar als ‚die schöne Jungfrau, die keine Augen hat‘, bezeichnet wird, welche sie sich nämlich im Exil ausgeweint hat.“ (Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M. 61989, 188f)
Vielleicht ist mit den „Auen“ ein ganz bestimmtes Gelände gemeint, vielleicht wird damit auf die Orte „Birkenau“ und „Auschwitz“ angespielt und vielleicht gilt das „Gebenedeiet“ ganz bestimmten Adressaten, denen auf diesem Gelände ganz Bestimmtes widerfahren ist. (Von „Augenlosen ohne Gestalt“ wird später das Gedicht Denk dir sprechen; GW II, 227). Vielleicht hat der Segen, den das Du spricht, die Absicht, diesem Geschehen auf ganz bestimmte Weise zu gedenken. Immerhin heißt es in Les Globes, einem anderen Gedicht aus der Niemandsrose: „In den verfahrenen Augen – lies da: […] Die/ Geschlechterkette,/ die hier bestattet liegt und/ die hier noch hängt, im Äther,/ Abgründe säumend.“ (GW I, 274)
III.
Aber so deutlich spricht Benedicta nicht. Es gehört zur Eigenart dieses Gedichts, dass es ganz Bestimmtes unbestimmt lässt, weil dieses ganz Bestimmte, wenn es bestimmt würde, aufhörte, das zu sein, was es gewesen ist. Sicher ist nur, dass das in den jüdischen Benediktionsformeln gebräuchliche „Gesegnet“, das dem Ich vertraut ist, und das in der katholischen Gebetssprache verwendete „Gebenedeiet“, das dem Du vertraut ist, trotz unterschiedlicher Wortgestalt im Bedeutungsgehalt konvergieren. Sie sind je eigene Übersetzungen des lateinischen Wortes Benedicta. Ge-/ bentscht, das jiddische Pendant zum katholischen „Gebenedeiet“, wird das letzte Wort des Gedichts sein.
Die Angesprochene ist mit Wirklichkeiten vertraut, die dem Ich wichtig sind. Das wird in Anlehnung an die Gebetssprache auf geradezu doxologische Weise hervorgehoben. Man könnte das Gedicht als poetische Verdichtung einer Annäherung lesen, die – entgegen der Erwartung – nicht an Maria, sondern an eine katholische Frau, deren Name nicht genannt wird, adressiert ist. Man hat die Anrede lange auf Gisèle Lestrange, die Frau Celans, bezogen. Diese Zuordnung kann durch die auffällige Wiederholung der Vorsilbe „Ge-“ gestützt werden, die sich als Abkürzung für Gisèle lesen und damit als verschlüsselte Hommage an die Frau des Dichters werten lässt. Nach der Veröffentlichung des Buches Celans Kreidestern, das den biographischen Hintergrund freigelegt hat, wird man die Anrede nicht minder auf Brigitta Eisenreich beziehen müssen, die „den teils hell erstrahlenden, teils düsteren Zauber des katholischen Ritus und Brauchtums“ von Kindertagen kannte und mit der Celan im französischen Exil ein österreichisch gefärbtes Deutsch sprechen konnte. Zwischen 1953 und 1962 dauerte die geheim gehaltene Beziehung der beiden an. Unabhängig von diesen Realien ist die Einschätzung Hans Mayers richtig, dass es sich bei Benedicta um ein Liebesgedicht handelt.
Die letzte Strophe aber kommt kompositorisch einer Engführung des ganzen Gedichts gleich und erhält durch die Einführung des jiddischen Äquivalents zu Benedicta doch zugleich einen unerwarteten Schlussakkord:
Ge-
trunken.
Ge-
segnet.
Ge-
bentscht.
Die jiddische Stimme, die durch abweichendes Druckbild als andere kenntlich gemacht wird, hat das letzte Wort. Wie beinahe alle, die diese Sprache einmal tagtäglich sprachen, in der NS-Zeit mit dem Mal der Fremdheit, dem Stern, gezeichnet waren, bevor sie für immer verstummten, so trägt auch diese Stimme – durch Kursivschrift sichtbar gemacht – das Stigma der Andersartigkeit: indem das Gedicht das jiddische Lied aufgreift, leiht es denen, die nicht mehr sprechen können, stellvertretend das Wort, und trägt so dazu bei, ihre Sprache vor endgültigem Verstummen zu bewahren. Insofern hat das Zitat auch die Funktion, anamnetische Solidarität mit den vor allem osteuropäischen Juden zu bekunden, für die einst das Jiddische lebendige Sprache war. Celan, der das Jiddische erst in den Arbeitslagern näher kennenlernte (zuhause wurde Hochdeutsch gesprochen), distanziert sich dadurch indirekt vom abschätzigen Urteil der meisten assimilierten westeuropäischen Juden, für die das Jiddische eine rückständige Sprache, die Sprache des Ghettos, war. Die poetische Technik der Einbeziehung des Fremden ins eigene Sprechen, ohne das Fremde nach eigenen Maßstäben so zuzurichten, dass es unkenntlich wird, ist für das Gedicht Benedicta strukturbildend: Anfang (Motto), Mitte und Ende des Gedichts bestehen aus einkomponierten Elementen des Jiddischen.
Bemerkenswert ist, dass Celan in Benedicta nicht ausdrücklich von Gott spricht. Er tut dies nur indirekt im Motto des jiddischen Zitats, auch im Sprechakt des Segens wird nur andeutend auf die Instanz verwiesen, in deren Namen der Segen gesprochen wird. Das jüdische Verbot, den heiligen Namen auszusprechen, wird hier wie im Psalm geachtet, in dem „Niemand“ als „Du“ angerufen wird.
Wenn in den Gedichten Benedicta or Tenebrae der Passion gedacht wird, dann wird die Nacht des Leidens ins Zentrum gerückt, nicht die Erlösung von Sünde und Schuld. Diese Verschiebung ist wichtig. Die alle Kategorien sprengende Abgründigkeit der „Passion aller Passionen“ (Emmanuel Levinas) wird im Verstummen der Stimme deutlich. Celan konfrontiert das Geschick des „Herrn“ mit den „ineinander verkrallten“ Leichen der Shoah. Darin steckt eine deutliche Reserve gegen jede Form der theologischen Verklärung oder Ästhetisierung des Leidens. Diese tiefe Verstörung sollte auch in den theologischen Reflexionen über die Bedeutung der Passion Jesu nachzittern. Eine Christologie nach Auschwitz kann von daher den Anstoß aufnehmen, das lange vernachlässigte Judesein Jesu, aber auch die Nähe des Gekreuzigten zu den Opfern der Geschichte deutlicher zu betonen. Für die Gedichte Benedicta and Tenebrae trifft zu, was Edith Silbermann, eine Jugendfreundin des Dichters, einmal bemerkt hat: „Auffallend ist, dass Paul Celan die Leiden Christi mehrfach stellvertretend für die Leiden seines Volkes in Anspruch nimmt.“ Dem entspricht eine Mitteilung von Gerhart Baumann, der mit Celan am 26. März 1970, dem Mittwoch der Karwoche, den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald in Colmar besucht hat. „Celan wandte seine Aufmerksamkeit ausschließlich der Kreuzigung zu. Die Gegenwart des Entsetzlichen ließ ihn nicht los, die unerhörten Spannungen zwischen Inbrunst und Verwesung, der Glaube an den geschändeten Gott. Wir verharrten schweigend.“ Im anschließenden Gespräch, das von nachdenklichen Pausen immer wieder unterbrochen wurde, soll Celan die Kreuzigung Grünewalds, die plastisch die physischen Qualen herausstellt, mit dem Leidensweg seiner Eltern und Gefährten in Zusammenhang gebracht haben. Mit der Trauer über diesen Verlust und dem Versuch, den unbestatteten Opfern der Shoah einen Erinnerungsort in der Sprache zu geben, dürfte der tiefste Impuls Celanscher Dichtung berührt sein.