Sokrates’ Rolle in der westlichen Ethik
Ist Sokrates schuldig? Seit langem unbestritten gilt Sokrates als eine entscheidende Figur in der Geschichte westlicher Ethik. Seine Rolle wird manchmal in einem Atemzug mit der von Jesus genannt. Bei allen Unterschieden ist die Verbindung beider Figuren nicht ganz abwegig, und zwar in folgender Hinsicht. Sokrates’ Botschaft ist, dass nichts im Leben wichtiger ist als die Sorge um die eigene Seele. Mit anderen Worten, nichts ist auch nur entfernt so wichtig wie sich zu fragen, wie man leben soll. Um seine Seele kümmert man sich, wenn man darüber nachdenkt, was im Leben wichtig ist und wie man sein Leben so einrichten kann, dass man ein guter Mensch ist. Diese Fragen, so der Gedanke, sind schwierig. Sie sind sogar so schwierig, dass man ihnen gewissermaßen sein Leben widmen muss.
Damit haben wir zwei Prämissen: (1) Wertfragen sind für jeden wichtig. (2) Wertfragen sind schwierig. Dies ist eine bemerkenswerte Kombination. Manchmal denken wir, das Wichtige ist einfach, vielleicht weil es auf der Hand liegt. Und manchmal denken wir, das Schwierige kann den Experten überlassen werden. Entgegen dieser Ideen sagt die Sokratische Ethik: nein, Wertfragen gehen jeden an, und sie sind schwierig. Aus der Kombination dieser Prämissen entsteht, so werden wir sehen, ein spezifischer Ansatz in der Ethik.
Sokrates ist bekannt dafür, nichts geschrieben zu haben und keine Theorien vertreten zu haben. Er betont, zu den großen Fragen keine abschließenden Ansichten zu haben. Was ist gut? Was ist die Seele? Was sind die Götter oder wer ist Gott? Was ist das Universum? Was ist unsere Rolle in der Natur? All dies sind Fragen, die aus Sokrates’ Sicht eine gewisse Ehrfurcht verlangen. Sie sind zu groß, als dass man einfach so Antworten zur Verfügung hätte. Stattdessen stellt sich heraus, dass das beste menschliche Leben dem Fragen und Untersuchen gewidmet ist.
Eine ethisch geforderte Einstellung ist dann, explizit und demonstrativ, eine Einstellung des Suchens, nicht eine Einstellung, in der man davon ausgeht, im Besitz von Wahrheiten über das Gute und Gerechte zu sein. Dies ist der distinkte Beitrag, den Sokrates zur Ethik leistet: mit ihm entsteht der Gedanke, dass das Suchen und Versuchen schon in sich eine gute Sache ist, weil es eine Verpflichtung auf die Werte von Wahrheit und Wissen ausdrückt. Historisch hat diese Haltung viele Generationen von antiken Denkern beeinflusst, die in verschiedenen Variationen der Meinung sind, dass ein Leben, das man der Untersuchung widmet, das beste Leben für Menschen ist. In der Geschichte theologischen Denkens findet sich diese Idee etwa bei Augustinus wieder, der die Suche nach Gott als ein Leben versteht, das in sich gut ist, auch wenn die Suche andauert.
Aus der Distanz mögen wir Sokrates also als Held sehen – als jemanden, der die Werte von Wahrheit und Wissen relevant gemacht hat für das Leben jeder einzelnen Person. Im gegebenen historischen Kontext jedoch war Sokrates unbequem. Die Athener Aristokratie denkt, dass sie weiß, wie man leben soll. Die Priester Athens sind überzeugt, dass sie wissen, wer und was die Götter sind und wie eine fromme Person lebt. Da ist es nicht willkommen, dass Sokrates den jungen Leuten “einredet”, all dies seien offene Fragen. Unsere eigene Reaktion heute wäre möglicherweise ähnlich. Vielleicht würden wir in Sokrates eine Art falschen Propheten sehen, der die Jugend vom rechten Weg abbringt.
Mein Vortrag heute nimmt den Fall Sokrates zum Anlass, über Dissens in Wertfragen nachzudenken. Die Causa Sokrates ist bemerkenswert, u.a. weil wir bis heute geteilter Meinung darüber sein können, ob Sokrates zu Recht oder Unrecht zum Tode verurteilt wurde. Ich will dafür argumentieren, dass gerade dieser Aspekt Platon interessiert. Anders als Sokrates hat Platon zwar geschrieben. Auch er jedoch schreibt keine Texte, in denen er Theorien formuliert und vertritt. Seine Texte haben die Form von Dialogen. Er erfindet gewissermaßen die Gesprächspartner, und eine der wichtigsten Figuren in seinen Dialogen ist Sokrates. Sokrates steht hier für die eingangs skizzierte Einstellung. Es ist das Wichtigste überhaupt für Menschen über ihr Leben zu reflektieren und auf diese Weise zu versuchen, besser zu leben. Sokrates als Figur verkörpert damit die Schwierigkeit und Strittigkeit von Wertfragen. Denn was ist ein gutes Leben? In einigen von Platons Dialogen geht es direkt um Sokrates’ Verurteilung. Hier wird Sokrates’ unkonventionelles Leben selbst zum Beispiel dafür, wie uneinig wir uns darüber sind, was gut und schlecht ist.
Heute will ich diesen Fragen in einem Dialog nachgehen, dessen Titel Euthyphron ist. Euthyphron, ein Priester, ist Sokrates’ Gesprächspartner, und nach ihm ist der Dialog benannt. Mein Vortrag hat vier Abschnitte. Zunächst frage ich Sie, ob Sokrates schuldig ist, und erkläre die Anklage, die gegen ihn vorliegt, damit Sie sich in der Lage fühlen, die Titelfrage dieses Vortrags zumindest vorläufig zu beantworten. In einem zweiten Schritt vertrete ich eine sokratische Position dazu, warum Wertfragen nicht nur strittig sondern auch inhärent schwierig sind. Dann stelle ich Ihnen Platons Analyse von Wertdissens vor, mit besonderer Rücksicht auf einen Vergleich, der bis heute in der Ethik diskutiert wird – den Vergleich von Ethik und Mathematik. Es ergeben sich, und damit schließe ich, zwei Sokratische Vorschläge dazu, wie wir mit Wertdissens umgehen sollten.
Erster Wahlgang
Zuerst möchte ich also ein Experiment in Gang setzen. Ich möchte Sie zum Wählen auffordern, so als ob Sie die Jury in Athen wären, die darüber entscheidet, ob Sokrates schuldig ist. Dieses Experiment ist beliebt bei Antike-Forschern und Sie sind nicht das erste Publikum, das als Jury wählt. Und seien Sie gewarnt. Am Ende des Vortrags werden Sie noch einmal abstimmen. Hier also ist eine Liste der Anklagepunkte:
(1) Naturwissenschafts-Vorwurf
Nennen wir den ersten Anklagepunkt – etwas anachronistisch – den Vorwurf, dass Sokrates Naturwissenschaft betreibt. Ihm wird vorgeworfen, die Dinge im Himmel und unter der Erde zu studieren. Aus antiker Sicht ist dies ein Sakrileg, weil beides göttliche Regionen sind. Zeus herrscht im Himmel, Hades unter der Erde. Der Naturwissenschafts-Vorwurf wird auch gegen die sogenannten Vorsokratiker oder frühgriechischen Naturphilosophen erhoben. Die Kritik lautet, dass die natürliche Welt als bloßes Material analysiert wird. Dies ist blasphemisch, weil jedes Element – Feuer, Wasser, Luft, Erde – aus Sicht griechischer Religion mit Gottheiten assoziiert ist.
(2) Blasphemie-Vorwurf
Deshalb ist der Naturwissenschafts-Vorwurf eng verbunden mit einem zweiten Anklagepunkt, einem generellen Blasphemie-Vorwurf. Sokrates erfindet, so sagen seine Gegner, eigene Gottheiten. Dieser Vorwurf beruht darauf, dass Sokrates die traditionellen griechischen Gottheiten ablehnt, aber doch mit Ehrerbietung von Göttern spricht. Die Götter, von denen er spricht, müssen also wohl seine eigenen sein.
(3) Sophisten-Vorwurf
Drittens wird Sokrates vorgeworfen, ein Sophist zu sein. Sophisten sind eine Art Wander-Intellektuelle, die in griechischen Städten ihre Dienste als Lehrer für die Jugend anbieten. Wenn Eltern sie für den Unterricht bezahlen, so die Aussicht, dann werden die Söhne erfolgreiche und mächtige Personen in der Politik. Dieses Versprechen wird als aufrührerisch wahrgenommen. Die traditionelle Auffassung in der Aristokratie ist, dass man qua Geburt zu einem erfolgreichen Athener wird; man wird in die Gruppe der Führenden hineingeboren und wächst auf, geleitet vom Vorbild der vorherigen Generation. Sophistische Lehrer stören hier. Sie sind anti-aristokratisch, weil ihre Botschaft impliziert, dass man durch Studium, nicht durch Geburt, zu einer führenden Person im Staat wird. Der Vorwurf gegen Sokrates ist also, dass Sokrates genau wie die Sophisten andere für Geld ausbildet; und dass er dabei Techniken von Frage und Antwort verwendet, die ihn befähigen, in jeder Diskussion die Oberhand zu gewinnen. Dies ist eine spezifisch sophistische Sache: die Fähigkeit, aus dem schwächeren Argument das stärkere zu machen und dies auch anderen beizubringen.
(4) Verführung der Jugend-Vorwurf
All dies spielt zusammen im vierten und letzten Vorwurf, nämlich dass Sokrates die Jugend verführt. Er verdirbt sie, indem er mit seinen Schülern naturwissenschaftliche Fragen studiert; indem er über Götter redet, die nicht die traditionellen Götter sind; und indem er eine Methode von Frage und Antwort – von philosophischer Untersuchung – praktiziert, die darauf abzielt, Gesprächspartnern überlegen zu sein.
Dies also sind die vier Vorwürfe. Nach allem, was Sie über Sokrates wissen, und sozusagen “Hand aufs Herz”: Wenn Sie sich ehrlich fragen, wie Sie Sokrates sehen würden, bevor Jahrtausende der historischen Distanz ihn glorifizieren – wie würden Sie als Mitglied der Jury abstimmen? Ist Sokrates schuldig? Ist Sokrates unschuldig?
Zwei Ebenen
Manche von Ihnen haben gezögert, wie Sie abstimmen sollen. Fragen wir uns also mit Hilfe von Platons Euthyphron, warum man zögern mag bei dieser Abstimmung. Ihre Rolle ist ja die der Jury. Wie in einem Rechtsstreit heute begegnen Sie damit dem Problem, dass es gewissermaßen zwei Ebenen gibt. Wir können fragen: “Ist Sokrates schuldig im Sinne der Anklage und des geltenden Rechts?” Wir können aber auch fragen: “Ist Sokrates schuldig?” Nehmen wir an, dass Sokrates in allen Anklagepunkten das tut, was ihm vorgeworfen wird. Er betreibt Naturwissenschaft, glaubt nicht an die traditionellen Götter, unterrichtet Methoden von Argumentation, die nicht unähnlich zu denen der Sophisten sind, und führt seine Schüler weg von deren traditioneller Ausbildung und Lebenseinstellung. Nehmen wir weiter an, dass all dies nach den geltenden Gesetzen Unrecht ist. So beschrieben ist Sokrates in allen vier Punkten schuldig. Dies ist aber vereinbar damit, dass er nichts Falsches macht. Denn freilich kann es gut sein, Himmel und Erde zu erforschen, das traditionelle Götterbild zu verwerfen, Methoden der Untersuchung zu unterrichten, und damit Jugendliche für ein neues Lebensmodell zu gewinnen. Sokrates kann also gleichwohl schuldig im Sinne des geltenden Rechts und unschuldig in einem fundamentaleren Sinne sein.
In einem Gerichtsverfahren sind wir unweigerlich mit beiden Fragen befasst. Wir müssen nach geltendem Recht entscheiden. Gleichzeitig fragen wir uns, ob der Angeklagte in einem fundamentaleren Sinn wirklich etwas Falsches getan hat. Keine von beiden Perspektiven kann einfach aufgegeben werden. Idealerweise, so mögen wir denken, ist in einem Staat das legal, was auch wirklich richtig ist. Das ist der erste von drei Gründen, die ich dafür anführen will, dass Wertfragen schwierig sind: wir müssen typischerweise auf zwei Ebenen navigieren, von denen eine fundamentaler ist als die andere. Indem der Dialog Euthyphron mit einer Skizze von Sokrates’ Rechtsfall beginnt, führt er uns den Kontrast dieser beiden Ebenen vor Augen. Wir wissen, dass Sokrates schuldig gesprochen wurde, und vermeintlich nach der geltenden Rechtslage zurecht. Und doch ist für uns die Frage offen, ob er wirklich schuldig war.
Im Verlauf des Dialogs stellt sich zudem heraus, dass die Werteigenschaft “fromm” strukturell so funktioniert wie die Werteigenschaft “legal”. Beides sind Werte “zweiter Ordnung,” die fundamentalere Werte voraussetzen; oder zumindest ist das die Analyse, die Platon nahelegt. Idealerweise erklärt unser Rechtssystem das für legal, was wirklich gut und richtig ist. So ähnlich mag man denken, dass man nur an Götter glauben kann, die von Menschen das erwarten und das als fromm sehen, was wirklich gut und richtig ist (statt etwa an Götter, die sich dadurch auszeichnen, Betrug, Raub und Vergewaltigungen zu begehen).
Big Picture Fragen
Wenden wir uns einem zweiten Grund zu, weshalb Wertfragen schwierig sind. Nennen wir ihn den “big picture” Grund: Wertfragen haben es oft mit sehr umfassenden Fragen zu tun. Am Anfang des Dialogs treffen sich Sokrates und Euthyphron zufällig auf der Treppe des Gerichtshauses. Euthyphron fragt Sokrates: “Was machst Du hier?” Sokrates antwortet, dass ein junger Mann namens Meletus eine Anklage gegen ihn eingereicht hat, weil er die Jugend verderbe. Weiter sagt Sokrates, dass Meletus hier ein zweifaches Wissen in Anspruch nimmt. Meletus behauptet zu wissen was die Jugend verdirbt und wer die Jugend verdirbt. Nennen wir das ein allgemeines und ein partikuläres Wissen. Meletus weiß vermeintlich, was schlecht für die Jugend ist. Aus Sokrates’ Sicht ist das ein enormes Wissen. Es ist nämlich das Wissen davon, was gut und schlecht für Menschen ist. Zusätzlich weiß Meletus etwas Spezifisches. Er weiß, wer – nämlich vermeintlich Sokrates – das tut, was im Allgemeinen etwas Schlechtes ist. Diese Unterscheidung zwischen Allgemeinem und Partikulärem werden wir später noch brauchen. Zunächst aber halten wir Folgendes fest. Die Frage, ob Sokrates schuldig ist, nicht nur im Sinne der Anklage, sondern in der fundamentalen Weise, dass er wirklich Falsches tut, hängt letztlich davon ab, was gut und was schlecht für Menschen ist. Dies ist eine umfassende Frage, die bis heute Gegenstand kontroverser Diskussion ist. Es sollte also keine Überraschung sein, dass wir uns nicht einig sind, ob Sokrates schuldig ist.
Singularität
Sokrates fragt zurück, an Euthyphron gerichtet: “Und was bringt Dich hier zum Gericht?” Als geübte Platon-Leser sind wir gewarnt. Ein kontroverser Fall wurde bereits eingeführt, die Causa Sokrates. Zwei Gründe dafür, dass Wertfragen schwierig sind, haben wir schon kennen gelernt – den Zwei-Ebenen-Grund und den Big-Picture-Grund. Nun kommt der dritte Grund, nennen wir ihn den Singularitäts-Grund: wenn wir uns in Wertfragen eine Meinung bilden, ist der Anlass oft ein singulärer Fall. Dies wird besonders deutlich, wenn wir Euthyphrons juristisches Anliegen betrachten.
Euthyphrons Vater hat einen Arbeiter, der betrunken einen anderen Arbeiter getötet hat, weggesperrt. Allerdings hat er vergessen, ihm Essen und Trinken zu bringen und ihn angekettet, weshalb der Mann gestorben ist. Euthyphrons Vater hatte gute Absichten: er wollte juristischen Rat einholen, was mit dem trunkenen Angreifer zu tun sei. Euthyphron ist nun überzeugt, dass er seinen Vater des Mordes anklagen muss. Dies wiederum finden andere in seiner Familie schrecklich. Sie sind der Meinung, dass man den eigenen Vater nicht anklagt.
Platon führt hier einen Fall vor, dessen Singularität nicht zu unterschätzen ist. Euthyphrons Anklage ist der einzige belegte Fall in der Athener Rechtsgeschichte, in dem ein Sohn seinen Vater anklagt. Der Fall gilt deshalb als spektakulär. Betrachten wir, wie unsere drei Gründe für die Schwierigkeit von Wertfragen hier relevant sind. Erstens können wir unterscheiden zwischen einer kulturellen Ebene, der zufolge es undenkbar ist, sich gegen den eigenen Vater zu wenden, und einer grundlegenderen Ebene, auf der es möglicherweise richtig ist, eine Straftat anzuzeigen, auch wenn sie vom eigenen Vater begangen wurde. Das ist der Zwei-Ebenen-Grund. Der Big-Picture-Grund ist ebenso einschlägig, denn wir haben es mit fundamentalen Wertfragen zu tun. Was ist wichtiger, dass hier jemand ein Verbrechen begangen hat, oder dass dieser jemand der eigene Vater ist? Entsprechende Fragen gehören bis heute zu den schwierigsten der Ethik. Müssen wir unsere Handlungen von einem unparteilichen Standpunkt aus begründen, wie Euthyphron denkt? Oder ist eine gewisse Form von Parteilichkeit gegenüber Familie und Freunden ethisch erlaubt, vielleicht sogar gefordert?
Drittens kommt der Singularitäts-Grund hinzu. Nehmen wir an, wir sind uns alle einig, dass allgemein Mord ein schlimmes Verbrechen ist, und dass Mörder vor Gericht gebracht werden sollten. Dies ist gut damit zu vereinbaren, dass wir uns nicht einig sind, wer im einzelnen als Mörder zu gelten habe. Hat Euthyphrons Vater wirklich einen Mord begangen? Oder war es Totschlag? Oder fahrlässige Tötung? Was wird aus der guten Absicht, juristischen Rat zu holen? Die Fallbeschreibung hat viele Facetten, so dass wir uns vorstellen können, dass man für unterschiedliche Positionen argumentieren kann.
Dissens in Wertfragen
So also beginnt der Dialog Euthyphron: mit Beispielen, die die Strittigkeit von Wertfragen erhellen, indem sie darauf hinweisen, warum Wertfragen so schwierig sind. Angesichts dieses Beginns sollte es uns nicht überraschen, dass der Euthyphron eine ausführliche Analyse von Dissens enthält. Sokrates und Euthyphron kommen ins Gespräch, und zwar über Euthyphrons Spezialgebiet. Als Priester ist Euthyphron ein Experte für Frömmigkeit und alles, was mit den Göttern zusammenhängt. Er verstrickt sich allerdings in ein Problem. Einerseits scheint ihm, dass das Fromme das ist, was die Götter lieben, oder in einer anderen Formulierung, was den Göttern gefällt. Andererseits sind die Götter, von denen er spricht, die Olympischen Götter, und die sind sich alles andere als einig. Dem einen gefällt dieses, dem anderen jenes. So lässt sich also nicht ermitteln, was fromm ist, indem man fragt, was die Götter lieben. Die Antwort wäre: alles und nichts.
An dieser Stelle wird klar, warum Sokrates die traditionelle Religion ablehnt. In einer Weise, die die Geschichte der westlichen Theologie prägt, denken Sokrates und Platon, dass das Göttliche gut ist. Was auch immer sonst der Fall ist bezüglich der Götter, dies erscheint ihnen als unverrückbare Annahme. Die Olympischen Götter aber sind nicht gut. Sie rauben und lügen und entführen, begehen Vergewaltigungen und anderes mehr. Sokrates findet dieses Götterbild und die Idee, dass Götter sich streiten, abwegig. Wenn die Götter sich streiten, sagt er (mit Betonung auf “wenn”), dann so, wie auch Menschen sich streiten. Diese Hypothese bringt zum Ausdruck, dass die Olympischen Götter keine richtigen Götter zu sein scheinen. Mit all ihren Fehden und Fehlern sind sie eher wie Menschen. Und nun bietet Sokrates eine Analyse von Dissens in vier Schritten:
1: Dissens in Wertfragen betrifft das Gerechte und Ungerechte, Noble und Schändliche, Gute und Schlechte. Das Auffällige hier ist, was Sokrates not sagt. Er sagt nicht, dass Dissens in Wertfragen das Fromme und Unfromme, Legale und Illegale betrifft, obgleich dies die Eigenschaften sind, mit denen der Dialog anfängt. Mit anderen Worten, wenn wir über Werte streiten, so der erste Schritt in Platons Analyse, streiten wir letztlich über fundamentale Werte wie das Gute und Gerechte. Dies greift den Gedanken der zwei Ebenen auf, den wir bereits angesprochen haben. Fundamentale Werte wie gut und gerecht sind die primäre Bewertungsebene. Wenn etwas schlecht ist, dann mag es dadurch, auf einer zweiten Bewertungsebene, auch illegal oder unfromm sein. Die Basisfrage aber ist, ob jemand gut oder schlecht handelt.
2: Dissens in Wertfragen unterscheidet sich von anderem Dissens darin, dass wir keine etablierte Methode der Klärung haben, so dass diese Methode vergleichbar wäre mit zählen oder messen. Stellen Sie sich vor, wir fragen, wer größer ist: Ben oder Noah. Was würden wir in diesem Falle tun? Wir verwenden ein Maßband. Vielleicht denken Bens Eltern, dass Ben größer ist und Noahs Eltern, dass Noah größer ist. Alle sind sich aber einig, wie der Dissens geklärt werden kann: wir messen. Diese Art von Einigkeit über die Methode der Klärung fehlt in Wertfragen.
3: Wertdissens hat eine affektive Dimension. Wir streiten und kämpfen, wenn wir uns über Werte nicht einig sind, weil wir das lieben, was wir als gut sehen und das hassen, was wir schlecht und ungerecht finden. Dieser Vorschlag mag selbstverständlich klingen. Gleichwohl ist er einer meiner Gründe, zum Euthyphron zu publizieren. In der heutigen Ethik wird Wertdissens als ein reines Problem des Denkens gesehen. Keine der prominenten Analysen heute enthält die Prämisse, dass wir bei Wertdissens emotional involviert sind und uns streiten. Und doch ist dies offenkundig und, man möchte meinen, ausserordentlich wichtig – schließlich können diverse Krisen und sogar Kriege beginnen, wenn Menschen sich in Wertfragen nicht einig sind.
4: Wertdissens über Einzelfälle kann auch dann fortbestehen, wenn wir uns über Allgemeines einig sind. Z.B. mögen wir einig darin sein, dass “Unrecht geahndet werden muss”, und doch uneinig sein, wie Sokrates, Euthyphron, und dessen Vater zu beurteilen sind. Diese Überlegung habe ich vorher den Singularitäts-Grund für die Schwierigkeit von Wertfragen genannt. Selbst dann, wenn wir im Allgemeinen übereinstimmen, können wir immer noch uneinig sein, weil es schwer ist, Einzelfälle unter das Allgemeine zu subsumieren.
Werte und Mathematische Entitäten – Companions in Guilt
Bevor wir uns auf den zweiten Wahlgang vorbereiten, noch ein paar Worte zu der Dimension dieser Analyse, die theoretisch besonders weitreichende Konsequenzen hat: der Vergleich zwischen Wertfragen auf der einen Seite, und Fragen des Zählens und Messens auf der anderen Seite; mit anderen Worten, der Vergleich zwischen Ethik und Mathematik.
In der heutigen Metaethik – dem Bereich der Ethik, dem es u.a. um die Metaphysik von Werten geht – wird genau wie bei Platon oft der Vergleich zwischen Ethik und Mathematik bemüht. Warum ist dieser Vergleich metaphysisch naheliegend? Zum einen deshalb, weil Werte wie Zahlen oder Mengen oder Axiome – kurz, mathematische Entitäten – nicht Teil der wahrnehmbaren Welt sind. Zum anderen deshalb, weil Werte genau wie mathematische Entitäten nicht Teil von Ursache und Wirkung sind. Man könnte also fast schon meinen, Werte und mathematische Entitäten gäbe es nicht. Diese Situation kann in einem Slogan ausgedrückt werden. Werte und mathematische Entitäten sind “companions in guilt” – vereint darin, wie fragwürdig sie sind. Beiden kann vorgeworfen werden, dass sie metaphysisch mysteriös sind.
Gleichzeitig sind wir keineswegs geneigt, die Mathematik aufzugeben. Das Companions-in-Guilt-Argument kann umgedreht werden, und zwar zugunsten von Werten. Wenn es in der Mathematik kein Problem ist, dass das, worüber wir reden und wahre oder falsche Aussagen machen, nicht wahrnehmbar und kausal wirksam ist, dann, so der Gedanke, sind dies auch keine hinreichenden Gründe, um Werte in Frage zu stellen. Der Vergleich mit mathematischen Entitäten liefert damit ein Argument, das wir gegen diejenigen einsetzen können, die die Realität von Werten leugnen. Wir können diesen Gesprächspartnern sagen, dass sie dann auch die Mathematik aufgeben müssen. Dies, so die Annahme, ist ein inakzeptabler Verlust, auch deshalb, weil Mathematik wesentlich ist für Naturwissenschaft. Solange also unsere Gesprächspartner keine Gründe haben, Werte zu leugnen, die sich nicht auch auf mathematische Entitäten anwenden lassen, stecken sie in der Klemme: sie können die Realität von Werten nicht verwerfen.
Der Vergleich von Ethik und Mathematik
Das Companions-in-Guilt-Argument ist widerlegend; es weist einen Einwand zurück. Es enthält keine positive Theorie davon, was Werte sind oder wie wir Wertaussagen verstehen können. Was also ist der positive Gehalt des Vergleichs von Ethik und Mathematik? Betrachten wir zwei Aspekte. Erstens ist die Mathematik, und mit ihr Zählen, Wiegen und Messen, paradigmatisch dafür, dass verschiedene Personen sich auf eine Methode einigen können. Genau dies ist es, was wir in der Ethik suchen. Zweitens ist die Mathematik ein Bereich, in dem wir wahre und falsche Aussagen machen können, obwohl wir nicht direkt über die natürliche Welt sprechen. Auch hier gilt: genau dies scheint auf die Ethik zuzutreffen. Wenn wir Mathematik betreiben oder messen, dann sind wir uns bewusst, dass verschiedene Axiomatisierungen und verschiedene Einheiten gewählt werden können. Ob wir sagen, dass Ben 1,80 Meter groß ist oder sagen, dass er “five foot nine” groß ist, ist unsere Entscheidung. Maßeinheiten kommen nicht aus der Natur, sondern aus der Theorie bzw. aus unserer Art, über die Welt zu denken. Aber sie befähigen uns, Aussagen über Dinge zu machen, die “in der Welt” sind, nämlich z.B. darüber, wie groß Ben ist.
Wertaussagen könnten aus Platons Sicht so ähnlich sein. Wahre Aussagen über Werte erfassen nicht direkt etwas, was in der wahrnehmbaren Welt existiert. Aber sie sind auch nicht subjektiv oder relativ im Sinne des Relativismus. Genauso wie es wahr oder falsch ist, dass Ben 1,80 Meter groß ist, könnte es wahr oder falsch sein, dass Euthyphrons Vater Totschlag begangen hat, obwohl ein solches Urteil konventionelle Kategorien – die Unterscheidung zwischen Mord, fahrlässiger Tötung, und Totschlag – zur Anwendung bringt.
Maß und Relation
Das Vokabular von Maß und messen mag zunächst überraschen, wenn es um Werte geht. Und doch werden ähnliche Begriffe auch in der heutigen Ethik verwendet. Die Idee ist, dass wir Wertaussagen als wahr oder falsch bewerten wollen. Dazu, so der Gedanke, brauchen wir einen Standard, ein weiterer Ausdruck, den Platon ähnlich verwendet wie den des Maßes. Wir brauchen etwas, bezogen worauf – oder, technischer ausgedrückt, in Relation wozu – Wertaussagen wahr oder falsch sind. In Relation wozu ist es z.B. wahr oder falsch, dass Euthyphron seinen Vater nicht anklagen sollte? Platons Antwort lautet: in Relation zum Menschen. Die Relation, um die es in der Ethik geht, ist, dass es etwas gibt, was gut für Menschen ist – was so ist, dass es gut ist, wenn Menschen entsprechend handeln.
Wenn wir fragen, was gut ist, fragen wir, wie Menschen leben sollen. Das ist der Ansatz, den Platon in späteren Dialogen entwickelt. In einer polemischen Formulierung sagt Aristoteles, dass das Gute genau wie das Gesunde bei Menschen und bei Fischen verschieden ist. Mit anderen Worten, was gut für Menschen ist hängt davon ab, was für Lebewesen Menschen sind. Das Maß, das wir in der Ethik brauchen, ist dem zufolge die Natur des Menschen – unsere Fähigkeiten und was es bedeutet, gut in den Tätigkeiten zu sein, die spezifisch menschlich sind. Ein guter Mensch ist z.B. nicht jemand, der gut darin ist zu wachsen; das Wachsen haben wir mit Pflanzen gemeinsam. Ein guter Mensch ist auch nicht jemand, der gut hört; derartige Tätigkeiten haben wir mit Tieren gemeinsam. Ein guter Mensch ist jemand, der in charakteristisch menschlichen Aktivitäten gut ist: der sich bemüht und ein Stück weit darin Erfolg hat, gut nachzudenken, gut zu entscheiden, und seine affektiven Einstellungen so zu formen, dass diese seinen Überlegungen dazu, wie man fühlen und sich verhalten sollte, entsprechen.
Dissens als Grundfrage der Ethik
Hier benutzt Platon dasselbe Vokabular, das auch der Relativismus bemüht. Der Sophist Protagoras erklärt den Menschen zum Maß der Dinge. Allerdings bedeutet dies bei Protagoras, dass jeder einzelne Mensch das Maß ist. Was mir scheint, so der Gedanke, ist wahr (für mich) und was jemand anderem scheint, ist wahr (für den anderen). Diese Position verwirft Platon als selbstwidersprüchlich und grundlegend falsch. Der Mensch ist das Maß der Dinge, insofern die Natur des Menschen – nicht meine Meinung oder Ihre Meinung – das Maß der Dinge ist. Und doch zeigt sich im gemeinsamen philosophischen Vokabular, dass Platon Protagoras ernst nimmt.
Dies liegt u.a. daran, dass Platon die Phänomene ernst nimmt, von denen die Sophisten berichten: Phänomene von Unterschied und Dissens. Meine Wendung zu Platon und Aristoteles, statt etwa zu modernen Ethikern, ist mit darin begründet, dass Platon und Aristoteles Unterschied und Dissens als Basisphänomene im menschlichen Leben betrachten. Die griechische Ethik beginnt gewissermaßen mit den Sophisten und deren Beobachtung, dass die Menschen überall verschieden leben und doch durchweg davon überzeugt sind, dass das, was sie tun, gut und richtig ist. Offenkundig passt dies nicht zusammen. Und offenkundig sitzen wir heute im selben Boot. Auch wir finden das, was wir tun, selbstverständlich richtig und das, was andere tun, teils falsch, teils fürchterlich. Was aber folgt daraus, dass es den anderen genauso geht?
Können wir – und dies ist das Projekt von Platon und Aristoteles – den Gedanken verteidigen, dass es wahre Aussagen über Werte gibt, ohne einfach arrogant zu insistieren, dass wir selbst recht haben und alle anderen unrecht? Dazu gibt es einen polemischen Slogan: “If I were to agree with you, we would both be wrong.” So empfinden wir die Dinge oft, das ist schwer zu leugnen. Ein anderer Slogan sagt: “split the difference.” Auch hier mag uns scheinen, dass dann am Ende niemand mehr recht hat. Wenn wir uns in der Mitte treffen, dann würde ja auch der, der eigentlich recht hat, seine Position aufgeben. Wie also sollen wir auf Dissens reagieren, insbesondere insofern es keinen prinzipiellen Grund gibt, warum gerade wir recht haben sollten?
Vorschläge
Hier sind die Vorschläge, die sich aus dem Euthyphron ergeben. Zunächst sollten wir uns vor Augen führen, dass es bei Wertdissens nicht nur um wahre und falsche Aussagen und deren Begründungen geht, sondern auch um affektive Einstellungen. Wir müssen zugeben, dass wir beim Gedanken an (aus unserer Sicht) falsche Lebensweisen innerlich abgestoßen und empört sind. Dies bedeutet unter anderem, dass Normen dazu, wie wir mit Dissens umgehen sollen, nicht allein epistemisch – auf das Denken bezogen – sein können. Wir müssen überlegen, wie wir mit unserer Abneigung oder gar Abscheu – der affektiven Seite von Dissens – umgehen sollen.
Des weiteren und ganz fundamental macht der Euthyphron deutlich, dass es echte Gründe dafür gibt, dass wir uns in Wertfragen nicht einig sind. Nämlich, und zusammenfassend: den Grund, dass wir uns auf zwei unterschiedlichen Ebenen bewegen (fundamentale Werte wie gut auf der ersten Ebene, und Werte wie legal oder fromm auf der zweiten Ebene); dass Wertfragen typischerweise “big picture” Fragen involvieren; und dass Wertfragen auch dann, wenn wir im Allgemeinen übereinstimmen, noch Dissens über Einzelfälle zulassen.
Mit anderen Worten, wir sollten nicht davon ausgehen, dass der andere letztlich dumm oder stur ist, wenn er nicht mit uns übereinstimmt. Stattdessen sollten wir davon ausgehen, dass die inhärente Schwierigkeit von Wertfragen schuld daran ist, dass wir oft verschiedener Meinung sind. In dieser Hinsicht ist Sokratische Ethik ein wenig wie Wissenschaft. Hier stört es uns nicht, dass verschiedene Theorien und Modelle koexistieren. Wir gehen davon aus, dass die Fragen so bedeutend und schwierig sind, dass sie langfristige Untersuchungen aus verschiedenen Perspektiven erfordern. In der Ethik, so der Sokratische Gedanke, verhält es sich genauso, weil die Frage nach dem guten Leben eben auch umfassend und schwierig ist.
Eingangs habe ich Augustinus und die Idee der Suche genannt. In einem Brief an die Grand Duchesse, in dem sich Galileo Galilei gegen den Vorwurf verteidigt, dass seine revolutionäre Naturwissenschaft gegen die Bibel verstösst, zitiert Galileo Augustinus mit folgender Aussage. Sowohl die Natur als auch die Bibel sind komplex. In beiden Fällen sollten wir davon ausgehen, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben, um auch nur annäherungsweise Alles zu verstehen. Der Sokratische Gedanke zur Ethik lautet: genauso verhält es sich auch mit Werten und dem guten Leben. Auch hier sollten wir annehmen, dass sowohl unsere eigenen Ansichten wie die Ansichten anderer “work in progress” sind und weiterer Überlegung bedürfen.
Zweiter Wahlgang
Zum Abschluss möchte ich Ihnen, der Jury, noch einmal die Möglichkeit geben zu wählen. Ist Sokrates schuldig? Ist Sokrates unschuldig?
Einige von Ihnen haben Ihre Meinung geändert und anders abgestimmt als im ersten Wahlgang. Dieses Phänomen liefert einen zusätzlichen Anlass dafür, sokratisch über Dissens nachzudenken. Oft sind wir selbst die- oder derjenige, der in der Vergangenheit (oder der Zukunft) etwas anders sieht, als es uns im Moment erscheint.