I.
Denkmäler sind in aller Regel gesellschaftliche und soziale Orte, sie ziehen Menschen an. Sie eignen sich denn auch besonders gut als Treffpunkte, denn sie stehen in der Regel im Weg, man muss ihnen – wie es Robert Musil so treffend formuliert hat – „täglich ausweichen“. Man „würde augenblicklich verwirrt stehen bleiben, wenn sie eines Morgens fehlen sollten“. Und doch: „Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler“. Im Brennpunkt und doch unsichtbar nehmen die Menschen sie zwar als soziale und gesellschaftliche Orte wahr und nutzen sie, aber sie erkennen in ihnen häufig eben nicht ihre eigentliche Funktion: Denkmäler sind historische Erinnerungsstützen, sie wollen Impulse für die Auseinandersetzung mit Geschichte, mit handelnden Personen und Ereignissen setzen.
Dies gilt gerade auch für die Denkmäler, die König Ludwig I. von Bayern schaffen ließ, für die großen Nationaldenkmäler der Walhalla in Donaustauf, der Befreiungshalle in Kelheim und der Ruhmeshalle, dann auch für die Propyläen, die Feldherrnhalle und das Siegestor in München. Aber Ludwig ließ überdies in ganz Bayern und darüber hinaus viele Personendenkmäler errichten. Sie sollten seine Sicht auf die Geschichte und die dargestellten Akteure vermitteln. Mehrfach gedachte Ludwig dabei auch Johann Joachim Winckelmann. Der Gelehrte fand Aufnahme sowohl in die Walhalla als auch in die Glyptothek und schließlich widmete der bayerische Monarch ihm eine monumentale Hermenbüste in Rom. Ludwig zeichnete ihn literarisch in Walhalla’s Genossen und in seinem dichterischen Werk aus. In dem monumentalen Freskenzyklus Wilhelm von Kaulbachs an der Neuen Pinakothek wurde er gleich zweimal in Szene gesetzt.
Schon sehr früh entschied Ludwig, dass Johann Joachim Winckelmann in der Walhalla besonders geehrt werden sollte. Von ihm überlegt und von Leo von Klenze als Architekten konzipiert und gebaut, wollte er dort die seiner Meinung nach „größten Teutschen“ gewürdigt wissen. Über das Moment der Erinnerung im nationalen Gedächtnisraum hinaus war es Ludwig allerdings auch ein Anliegen gewesen, die Besucher pädagogisch an die Hand zu nehmen, um sie zu motivieren, den Helden im eigenen Leben nachzueifern. Dementsprechend äußerte sich Ludwig auch bei der Eröffnung der Walhalla: „Möchte Walhalla förderlich seyn der Erstarkung u. Vermehrung Teutschen-Sinnes. Möchten alle Teutschen, welchen Stammes sie auch seyen, immer fühlen daß sie ein gemeinsames Vaterland haben, ein Vaterland auf das sie stolz seyn können, u. jeder trage bey, was er vermag zu dessen Verherrlichung“. Die Büstensammlung erfüllte also dezidiert einen Auftrag monarchisch inspirierter Sinnstiftung –Ludwig I. wollte Winckelmann unbedingt zu jenen Gelehrten gezählt wissen, die in der kollektiven Erinnerung einen festen Platz haben sollten.
Die erste Büste Johann Joachim Winckelmanns, die Ludwig für die Walhalla vorgesehen hatte, gab er bereits sehr früh, nämlich 1807/1808, bei Salvatore De Carlis in Auftrag. Sie wurde allerdings seit ihrer Eröffnung 1830 in der Glyptothek präsentiert und ist nach vielen Jahren der Abwesenheit erst vor kurzer Zeit wieder in das Münchner Antikenmuseum zurückgekehrt. In der Zwischenzeit war sie eine Zeit lang in der Neuen Pinakothek beherbergt gewesen, später auch auf dem Kunstmarkt nachzuweisen.
Das Werk Salvatore de Carlis hatte bei seiner Vollendung Kontroversen ausgelöst und es war Johann Martin von Wagner, der in Rom lebende Kunstagent König Ludwigs I. gewesen, der sich im März 1812 ausgesprochen negativ äußerte: „Winkelmans Büste wurde von Carlis lediglich nach jener in der Rotonde in Marmor vorhandenen verferdigt, allein so schlecht, das zu bedauern, das dieser würdige Deutsche in so schlechte Hände gefallen“.
Diese vernichtende Kritik des Würzburger Bildhauers veranlasste Kronprinz Ludwig schließlich, eine neue Büste in Auftrag zu geben. Er verließ sich auf das Urteil des Kunstberaters in Rom, nicht zuletzt deshalb, weil er das Objekt ja nicht selbst in Augenschein nehmen konnte. Gerade dieses Beispiel zeigt damit sehr schön, welch großen Einfluss der Kunstberater in Rom auf Entscheidungen Ludwigs I. hatte. Johann Martin von Wagner gewann auf diese Weise mittelbar auch eine nicht zu unterschätzende Rolle im bayerischen Kunstbetrieb. So beförderte er bewusst die Karrieren der einen und hemmte das Fortkommen der anderen. 1813 gab Ludwig also bei Rudolf Schadow erneut eine Büste Winckelmanns in Auftrag. Diese wurde von Johann Martin von Wagner positiv bewertet und von Ludwig in die Walhalla aufgenommen. 1814 war die Büste vollendet, Ludwig zahlte dafür 562 Gulden und 59 Kreuzer.
Im Januar 1821 mahnte der Altertumsforscher Friedrich Karl Ludwig Sickler im Kunstblatt an: „Nirgends zeigt der Boden, dem er seiner Geburt nach angehört, und dem er durch sein Wirken einen schönen Ehrenkranz geflochten, auch nur sein Kenotaph oder irgend eine, im Kreise der bildenden schönen Künste entstandene und ausgeführte Erinnerung!“ Gleichzeitig regte er an, es sollten, wie einst von Winckelmann vorgeschlagen, Ausgrabungen in Olympia stattfinden und die gefundenen antiken Stücke dann in Deutschland als „Nationaldenkmal zu Ehren Winckelmanns“ in einem dafür errichteten Gebäude der Öffentlichkeit präsentiert werden. So wenig der Vorschlag zahlungswillige Unterstützer gewann, so sehr fühlte sich Ludwig aufgefordert, mitteilen zu lassen, dass „Bayerns Kronprinz bereits vor ohngefähr 10 Jahren Winkelmanns Brustbild aus Marmor von einem geschickten Teutschen Künstler habe verfertigen lassen sie für das Gebäude welches die Bildniß-Sammlung rühmlich ausgezeichneter Teutschen enthalten wird, bestimmend.“
Selbstbewusst reklamierte der bayerische Kronprinz für sich, durch die Aufstellung der Büste Winckelmanns in dem von ihm geplanten nationalen Gedächtnisraum für die Ehrung und bleibende Erinnerung Sorge zu tragen. Gleichzeitig erhob Ludwig wie selbstverständlich den Anspruch, Erinnerungsbevollmächtigter in „teutschen“ Angelegenheiten zu sein.
II.
Noch bevor also der Plan für die Walhalla auch nur endgültig genehmigt, ja noch bevor überhaupt der Bauplatz bestimmt worden war – erst 1826 stand der Bräuberg in Donaustauf fest – war sich Ludwig sicher gewesen, dass in den Ehrentempel die Büste Winckelmanns aufgenommen werden würde und dies auch der Öffentlichkeit angezeigt werden könne, ja müsse. Schon an diesem frühen Beispiel zeigte sich die Beharrlichkeit Ludwigs, auf die er sich auch in seiner Devise „Gerecht und beharrlich“ bezog. Für ihn gab es bereits im Moment der ersten Büsten-Bestellung 1807 keinen Zweifel an der zukünftigen Vollendung des Nationaldenkmals. Er sollte Recht behalten.
Als die Walhalla 1842 eröffnet wurde, fand die Winckelmann-Büste, die Rudolf Schadow geschaffen hatte, dort ihren Platz. Sie alleine machte dabei aber nur deutlich, dass Ludwig I. Johann Joachim Winckelmann für so herausragend hielt, ihn im „Ruhmestempel der Teutschen“ zu memorieren. Die Frage, warum Ludwig gerade ihn als Vorbild für die „Teutschen“ verstanden wissen wollte, wird auf diese Weise noch nicht beantwortet. Doch genau darum ist es dem Monarchen immer gegangen; er wollte seine Deutung von Personen und Ereignissen vermitteln und damit auf den Erinnerungshaushalt Bayerns und Deutschlands einwirken.
Daher verfasste er eine eigene Publikation: Walhalla’s Genossen. Mit diesem Werk interpretierte der Bauherr die Biographien der ausgewählten Persönlichkeiten in seinem Sinn, wollte er einen Wertmaßstab für die moralische und inhaltliche Ausrichtung der „teutschen“ Nation vorgeben. Dass dieser unverhohlen vorgetragene Deutungsanspruch Ludwigs harte Gegenreaktionen, vor allem durch wortgewaltige Liberale hervorrief, verwundert nicht. Heinrich Heines publizistische Proteste beispielsweise sind sehr bekannt. Sie griffen gerade den Versuch des Bauherrn an, vorzugeben, in welcher Weise die Geehrten wahrzunehmen seien: „Bei Regensburg läßt er erbaun / Eine marmorne Schädelstätte, / Und er hat höchstselbst für jeden Kopf / Verfertigt die Etikette. // ‚Walhallagenossen‘, ein Meisterwerk, / Worin er jedweden Mannes / Verdienste, Charakter und Taten gerühmt, / Von Teut bis Schinderhannes“.
Winckelmanns Biogramm aus Ludwigs Feder ist dementsprechend zu lesen. Dort heißt es: „Eines sehr armen Schusters Sohn, galt der Knabe Winckelmann als Beyspiel des Fleißes in Erlernung der Sprachen Hella’s und Latium’s. Classiker bei einer Versteigerung erwerben zu können, erbat er sich das Geld auf einer deßwegen unternommenen Fußreise. Dürftiger Conrector geworden, schlief er, um mehr in der Vorwelt zu leben, während fünf Jahren wenige Stunden nur in einem Armstuhle, schrieb dann dem Grafen Bünau ‚um einen Winkel in dessen Bücher-Sammlung.‘ In ihr sagte ihm der Nuntius: ‚Nach Italien müssen Sie reisen.‘ Nach Italien, nach Rom, dessen Kunstwelt ergründen, das sein Beruf, dieß fühlte Winckelmann jetzt. Lange war er in Anschauung versunken, bis er dann über Kunst schrieb; beschrieb begeistert der Begeisterung Werke. Der die Bahn eröffnet, sie so eröffnet, dem bleibt höchster Ruhm, mag sich gleich derselbe in Einigem geirrt haben. Italienische Wärme vereinigte er mit teutschem Fleiße; seine eigene, die faltenreiche, anschauen machende und schöne Schreibart ist umso verdienstlicher, weil fad damals die fast aller teutschen Schriftsteller. Antiquario della Cammera Apostolica wurde er, bereits Vorstand der reichen Antiken-Sammlung seines Freundes, Cardinal Alexander Albani’s; Winckelmann war glücklich. Sein Fühlen glich dem des edelsten Hellenen, Plato’s; Schwärmerey nennt’s die Menge, welche dieß erhebende, beseligende nicht kennt. Nach zwölf- bis dreyzehnjährigem, nur wenig unterbrochenem Aufenthalte in Rom unternahm er, dringend dazu eingeladen, eine Reise nach Teutschland, wo er ausgezeichnet behandelt, ansehnliche Geschenke bekam, seines frühzeitigen Todes Ursache. Wenige Stunden, nachdem er fünf Messerstiche empfangen, seinem Mörder vergebend, starb Winckelmann, der offen, treu und gut, ‚den Römern Rom’s alte Kunstschätze kennen gelehrt‘“.
Ludwig zeichnete die Lebensgeschichte des Gelehrten in seiner eigentümlichen Weise nach, wobei er besonderen Wert auf gerade ihm wichtig erscheinende Momente legte – für bemerkenswert hielt er, dass Winckelmann aus wenig gelehrtem Umfeld stammte, sich bewusst und mit großem Fleiß Bildung erwarb, früh schon unter zahlreichen Entbehrungen Werke antiker Autoren erwarb. Vermitteln wollte der Autor, dass Winckelmann lange antike Objekte studierte, bevor er über sie schrieb. Deutlich wies er, der ja aus den eigenen Antikenankäufen und der Beratung Wagners viel über Winckelmanns Beschreibungen wusste, auch darauf hin, dass Winckelmann sich in manchem geirrt hatte; nichtsdestoweniger lobte er dessen Art zu schreiben und dem Leser die Welt der Antike zu erschließen.
Winckelmanns Position in Rom wurde ebenso erwähnt wie seine enge Verbindung zu Kardinal Albani. Gerade, dass Winckelmann einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war, schien Ludwig besonders berührt zu haben; vergleichsweise ausführlich erzählte er davon. Vor allem aber fühlte sich Ludwig dem Kunstforscher nahe im emotionalen Erleben der Kunst. Und schließlich nahm er den Gelehrten als denjenigen wahr, der den Römern die römische Antike wieder nähergebracht habe.
Die Überlegungen und Wahrnehmungen Ludwigs sind nicht kritisch hinterfragt, darum ging es dem König auch nicht. Vielmehr spiegelt sich hier seine persönliche Ansicht wider, die nichtsdestoweniger nach seinem Selbstverständnis Anspruch auf Gültigkeit erheben konnte. Für Auswahl und Wertung waren kein Kunstkomitee und keine Jury beigezogen worden. Ludwig allein entschied und verfasste die Biogramme.
Johann Joachim Winckelmann war Ludwig I. darüber hinaus so präsent, dass er ihn in eines seiner vielen Distichen aufgenommen hat. Im 324. Distichon, das den „in Rom gewesenen ausgezeichneten Teutschen“ gewidmet ist, heißt es: „Lebten in Rom doch Winkelmann, Heinse und Göthe//und Stollberg//Nicht mit dem Fremden, mein Geist lebt mit des//
Vaterlands Zier“. Noch einmal wird hier spürbar, wie sehr sich Ludwig I. von Winckelmann beeinflusst sah und wie hoch er die Bedeutung der „Teutschen“ für das römische Kulturleben und für die eigene Entwicklung einschätzte.
III.
15 Jahre nach der Eröffnung der Walhalla, 1857, reiste König Ludwig, der während der Revolution 1848 dem Thron entsagt hatte, wieder einmal nach Italien und Rom. Am 1. April kam er in der ewigen Stadt an. Dieser Aufenthalt sollte zunächst nur ein Zwischenstopp sein; schon am darauffolgenden Tag brach er weiter in Richtung Süden auf. Erst Mitte Mai kehrte er nach Rom zurück – dieses Mal immerhin für knapp einen Monat. Wie immer wohnte er im Giardino di Malta, den er 1827 privat gekauft hatte und wo er seitdem immer Wohnung nahm. Er traf die Künstler, die er schon seit Jahrzehnten kannte, er genoss die Freiheit des Lebens ohne Bürde und repräsentative Pflichten. Friedrich Overbeck, Pietro Tenerani, Peter von Cornelius, Carl Christian Vogel von Vogelstein waren unter seinen Gästen, aber auch Peter Schöpf, John Gibson und andere.
Das Leben in Rom gestaltete sich sehr entspannt. Ludwigs Hofmarschall Friedrich du Jarry von La Roche bemerkte dazu: „Wir leben hier ziemlich regelmäßig. In den Frühstunden sind wir frey; um ½ 11 oder 11 Uhr fahren S. Majestät gewöhnlich zu den hiesigen Künstlern, Malern u. Bildhauern in die Ateliers; um ½ 4 Uhr wird gespeist, wobey regelmäßig 2 Künstler eingeladen sind, – und nach der Tafel wird jedesmal auf irgend einen interessanten Punkt, wo etwas zu sehen ist, eine Spazierfahrt gemacht.“ Bemerkenswert an dieser Romreise war, dass Ludwig intuitiv in sich spürte, wie sich sein Verhältnis zur Stadt wandelte, wie er sich nicht mehr in gewohnter Weise an ihr erfreuen konnte: „Wo ist die Zeit hingekommen da ich in diesem Cabinette mich auf dem Boden wälzte vor Wonne in Rom zu seyn!“ Dieses letztlich depressive Verlustgefühl blieb die folgenden Jahre bestehen, ja es sollte sich sogar noch verstärken.
Höhepunkt des Romaufenthalts 1857 aber stellte die Einweihung des Denkmals für Johann Joachim Winckelmann in der Villa Albani dar. Die überlebensgroße Hermenbüste hatte der König 1855 zunächst bei Heinrich Kümmel in Auftrag gegeben. Nach dem unerwarteten Tod Kümmels Ende 1855 übernahm Emil Wolff die Aufgabe und fertigte das Denkmal und das Fundament für etwa 3000 Gulden an. Fürst Torlonia, der Eigentümer der Villa Albani, hatte die Erlaubnis erteilt, das Denkmal an Winckelmanns alter Wirkungsstätte aufzustellen.
Wie schon seit frühesten Zeiten war Ludwig eine möglichst große Ähnlichkeit zwischen Abbildung und porträtierter Person wichtig. Beharrlich forderte er dies zeit seines Lebens ein: „Wenn Emil Wolf in Thon Winkelmann’s Brustbild moduliert hat, so vergleichen Sie [gemeint ist Johann Martin von Wagner] solche mit dem auf dem Capitol, und ruhen nicht eher als bis sie derselben völlig gleichend seyn wird“.
Am 31. Mai 1857 berichtete König Ludwig aus Rom zufrieden: „Schön fiel Winckelmanns kolossales Brustbild, das von Emil [Wolff] ich verfertigen u. ein schönes Fest derer Enthüllung in d. Villa Albani. Da teutsche Gelehrte Antheil daran nehmen wird ausführliche Beschreibung desselben in d. Allg. Z. nicht fehlen.“ Und tatsächlich berichtete unter anderem die Allgemeine Zeitung ausführlich über Denkmal und Fest. Die Berichte lassen auch uns noch ein Stück weit an diesem Fest teilhaben.
Am 4. Juni und damit über eine Woche nach dem Ereignis hieß es dazu: „Weil aber das Verdienst die Gränzen jenes engen Kreises weit überragt, so wollte Se. Maj. König Ludwig, der Fürst ächtdeutscher Sinnesart, der Anerkennung desselben durch Errichtung eines ihm fehlenden öffentlichen Gedächtnißmals einen würdigern Ausdruck geben. So entstand durch königliche Munifizenz unter Professor Wolffs geschicktem Meißel nach dem in der capitolinischen Protomothek stehenden Original eine kolossale Marmorbüste Winckelmanns, mit einem der Größe derselben entsprechenden Postament aus gleichem Gestein. Gestern wurde das Denkmal in Villa Albani, dem eigentlichen Feld von Winckelmanns archäologischen Ehren, aufgerichtet, nachdem die vorangegangenen Tage der Grund des Standortes ausgemauert war. Es ist eine stille Größe; ihr entspricht die einfache Inschrift: Winckelmanns Name auf der Vorder-, der des hohen Denkmalsetzers auf der Rückseite. Es soll in Gegenwart des Königs morgen feierlich enthüllt werden, falls das Wetter nicht so unfreundlich und regnerisch wie heute ist.“
IV.
Die Denkmalenthüllung selbst hatte am 27. Mai 1857 stattgefunden. Mit der Wahl des Datums bezog sich Ludwig I. zum einen auf den bayerischen Verfassungstag und zum anderen auf den Geburtstag seines Vaters König Maximilian I. von Bayern. Über das Fest selbst berichtete die Allgemeine Zeitung: „Um halb 6 Uhr abends trat König Ludwig dort in einem aus mehr als hundert deutschen und fremden Künstlern und Gelehrten bestehenden Kreis zu dem durch allerhöchste Munificenz errichteten Denkmal Johann Joachim Winckelmanns. Se. Maj. ward mit einem jubelnden Hoch empfangen, und sprach wahrhaft königliche Worte über Winckelmanns unsterbliche Verdienste.“
Tatsächlich nahmen an die hundert Personen aus der deutschen Kunst- und Gelehrtenszene in Rom sowie italienische Künstler und Wissenschaftler an dem von den Künstlern zu Ehren des bayerischen Königs ausgerichteten Künstlerfest teil. Ludwig hielt nur eine kurze Rede: „Was Winckelmann geleistet schildern zu wollen, wäre überflüssig. Sein Wirken ist bekannt. Haben Spätere gleich die Wissenschaft der Kunst, welcher er sein Leben geweiht, ausgebildet, bleibt ihm doch das große Verdienst den Grund dazu gelegt zu haben. Keine Stelle dürfte zu seinem Denkmal sich eignen wie diese Villa, wo er so gerne verweilt, der von Rom aus die Welt belehrte.“
Nach seiner Rede wurde das Denkmal enthüllt, Heinrich Brunn vom archäologischen Institut hielt eine Laudatio auf Winckelmann und auf den Initiator des Denkmals: „[…] das Denkmal das er Winckelmann errichtete, werde dastehen zugleich als ein Denkmal für ihn, der, wie wenige, die Kunst gepflegt in Winckelmanns Geist.“ Am Ende des Festaktes pflanzte König Ludwig schließlich zu Ehren des Denkmals und des Festes einen Lorbeerbaum.
Im Anschluss fand ein gemeinsames Essen statt, das Ludwig sichtlich genoss. Er mischte sich ohne Zurückhaltung unter die Künstler. Als der König gegen 19 Uhr das Fest verlassen wollte, verrieten ihm die Künstler, dass es noch eine Beleuchtung mit bengalischem Feuer geben würde. Daher kehrte der König nur wenig später erneut zurück. „Weiße, dann rothe Flammen beleuchteten magisch das Monument und die prachtvollen immergrünen Eichen, deren dunkles Laubdach sich über ihm wölbt, und deutsche Volkslieder erschallten aus der Seitenallee her. Der König bezeugte seine volle Zufriedenheit, und schied endlich mit freundlichstem Lebewohl, mit erneutem dreifachem Hoch von der Versammlung begleitet, das sich nochmals wiederholt als er in den Wagen stieg. Laut rief Se. Maj. zurück: ‚Es leben die Kunst und die Künstler!‘“
Diese Festtradition geht bis auf das Jahr 1818 zurück. Damals hatten die in Rom lebenden deutschsprachigen Künstler Kronprinz Ludwig in der Villa Schultheiß gefeiert. Sie hatten ihn in den nur dafür geschaffenen Transparenten in eine Reihe gestellt mit Perikles, Augustus, Maecenas, Karl d. Großen, Maximilian I., Julius II., Leo X. und den pfälzischen Kurfürsten Jan Wellem. Nach der Thronentsagung 1848 konnte Ludwig sich nur mehr sehr begrenzt als Monarch inszenieren und war in der Nutzung monarchisch-staatlicher Repräsentationsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt worden. Nun boten die Künstlerfeste einen stimmigen, gleichzeitig repräsentativen und würdigen Ersatzrahmen für einen „politisch toten“ Monarchen (Heinz Gollwitzer). Die Künstler feierten Ludwig I. vor allem als Mäzen und rückten ihn auf diese Weise politisch unverfänglich in den Mittelpunkt der Veranstaltungen.
Beharrlich schuf Ludwig I. während seines Lebens Medien der Erinnerung an Johann Joachim Winckelmann – vom ersten Büstenauftrag 1807 bis zum Denkmal in der Villa Albani 1857 lag immerhin ein halbes Jahrhundert. Durch „Walhalla‘s Genossen“ versuchte er, Winckelmann nicht nur ein plastisches Denkmal zu setzen, sondern vielmehr das Verständnis Winckelmanns durch ein literarisches Zeugnis zu lenken. So sehr diese Maßnahmen natürlich dem jeweiligen Geehrten galten, so sehr dienten sie immer auch als Mittel fürstlicher Selbsterhöhung.
Dabei gab es in der Erinnerungsarbeit, wie so häufig bei Ludwig I., auch eigentümliche und durchaus befremdende Momente. Als Wilhelm von Kaulbach die monumentalen Fresken an der Neuen Pinakothek malte, mit dem Ziel, dem Mäzenatentum Ludwigs I. zu huldigen, war es nur natürlich, dass auch Winckelmann seinen eigenen Platz erhielt – als Tintenfass werfender Gelehrter gegen das mehrköpfige Ungeheuer, das die Kunst des Rokokos versinnbildlichte, und als Gelehrter zu Füßen des vom Thron herabsteigenden Monarchen. Die ironische Brechung Kaulbachs, die für den gesamten Zyklus gilt und von Ludwig jeweils genehmigt worden war, wird gerade bei Winckelmann sehr schön deutlich.