Orpheus und Christus

Antike Mythen in der europäischen Religionsgeschichte

Wenn von „dem“ Orpheus-Mythos die Rede ist, dann müsste eigentlich angemerkt werden, dass dieser Mythos viele verschiedene Motive enthält und in verschiedenen Versionen überliefert ist, so dass auch im Plural von „den“ Orpheus-Mythen gesprochen werden könnte. In der Antike war Orpheus nicht nur als der Sänger bekannt, der durch seinen Gesang die Götter der Unterwelt rührt und – wenn auch letztlich vergeblich – Eurydike in die Welt der Lebenden zurückzuführen versucht, und der schließlich von thrakischen Frauen getötet wird. Er war u.a. auch als Dichter und Gründer von Mysterien bekannt, als ein Verkünder des Monotheismus sowie als ein Teilnehmer am Zug der Argonauten. Und es gab wohl auch eine andere Version von seinem Gang in die Unterwelt: nämlich dass dieses Unternehmen einen glücklichen Ausgang hatte. Zweifellos hat aber eines dieser Motive des Mythos in der europäischen Kultur die stärkste Nachwirkung gehabt: Orpheus und die Macht der Musik. Dieses Motiv ist in zwei Bildern immer wieder dargestellt worden, schon in der Kunst der vorchristlichen Antike: zum einen Orpheus in der Unterwelt, zum andern Orpheus im Kreis wilder Tiere, die er durch seine Musik zum Frieden gebracht hat. Die literarischen Quellen, die dieser europäischen Überlieferung des Orpheus-Mythos zugrunde liegen, sind in erster Linie die Dichtungen von Vergil und Ovid, also Literatur aus der Zeit des Kaisers Augustus.

 

I.

 

Die Christen im Römischen Reich mussten sich der Frage stellen, wie dieser Mythos aus der vorchristlichen Antike sich zu der christlichen Offenbarung verhält. Denn es gab ja einige Vergleichspunkte. Einmal zum Alten Testament: der Harfe spielende David, der Saul durch die Musik besänftigt, oder die prophetische Vision eines Friedens unter den Tieren; die Schlange, an deren Biss Eurydike stirbt, kann an die Schlange aus der biblischen Urgeschichte erinnern; dann auch zum Neuen Testament: Christi Gang in die Unterwelt, ausführlich dargestellt im nichtkanonischen Nikodemus-Evangelium, das noch im Mittelalter bekannt und beliebt war. Die Entdeckung der Vergleichbarkeit kann verschiedene Reaktionen hervorrufen, negative und positive Haltungen gegenüber dem Erbe der Antike. Auf der einen Seite könnte eine Abgrenzung vorgenommen werden, die bis zu einer Antithese verschärft werden kann, z.B. indem der Mythos als teuflische Nachahmung der Wahrheit abgewertet wird. Auf der anderen Seite könnte eine Aneignung stattfinden, die bis zu einer Synthese führen kann, z.B. indem der Mythos als schattenhafte Vorahnung der Wahrheit anerkannt wird. Beide Möglichkeiten sind, so scheint es, schon im Frühen Christentum realisiert worden.

Klemens von Alexandrien, einer der frühen Kirchenväter und Apologeten, hat gleich am Anfang seiner „Mahnrede an die Heiden“ mehrere mythische Sänger der Antike erwähnt, darunter auch Orpheus. Er wird zwar nicht mit seinem Namen genannt, aber doch eindeutig gekennzeichnet: er „zähmte durch bloßen Gesang die wilden Tiere; ja sogar die Bäume, die Eichen, verpflanzte er durch seine Musik“. Damit hat Klemens strategisch geschickt ein religiöses Motiv aufgegriffen, das dem Zielpublikum – das er ja für das Christentum gewinnen will – vertraut ist: das Bild von Orpheus unter den Tieren war auf Mosaik-Darstellungen im ganzen römischen Reich verbreitet. Klemens stellt seinen Lesern dann aber die kritische Frage, warum sie denn solchen nichtigen Mythen Glauben schenken, die Wahrheit aber nicht annehmen wollen. Nach seiner Ansicht, fährt er fort, waren jene Sänger, darunter auch Orpheus, „in Wahrheit Betrüger, die unter dem Deckmantel der Musik Unheil über das Menschenleben brachten“ – denn sie haben die Menschen zum Götzendienst verführt. In klarer Abgrenzung gegen jene Sänger wird dann Christus eingeführt: „Aber nicht so ist mein Sänger; er ist gekommen, um binnen kurzem die bittere Knechtschaft der tyrannischen Dämonen zu zerstören“ und die Menschen zur wahren Religion zu führen. Der Vergleich wird dann noch weitergeführt: Christus allein, sagt Klemens, habe „die wildesten Tiere“ gezähmt – das sind die Menschen, die durch „das himmlische Lied“ Christi bekehrt und auf den Weg zum ewigen Leben gebracht worden sind. Dass Klemens‘ Vergleich zwar eine Anknüpfung ist, letztlich aber auf eine Abgrenzung hinausläuft, wird ganz deutlich, wenn er etwas später König David einführt, den „Harfenspieler“, der „weit davon entfernt“ war, „die Dämonen zu besingen, die er vielmehr durch wahre Musik verscheuchte, wie er auch allein durch seinen Gesang den Saul heilte, als er von jenen besessen war“.

Beispiele für die andere Möglichkeit, die Aneignung des Orpheus-Motivs ohne Abgrenzung, finden sich in der frühchristlichen Kunst der Katakomben-Malerei. Ein Fresko in der Katakombe von SS. Marcellino e Pietro, wohl aus dem 4.Jh., zeigt einen jugendlichen Orpheus mit seinem Musikinstrument. In der Forschung wurde es als „erstes Porträt des Orpheus-Christus“ bezeichnet (John Friedman), gedeutet als eine Verschmelzung (conflation) der beiden Gestalten.

Durch die Werke der Kirchenväter, die das eine oder andere Motiv des Mythos aufgegriffen hatten, sowie durch die Dichtungen Vergils und Ovids, die weiterhin gelesen wurden, blieb die Orpheus-Gestalt im mittelalterlichen Christentum Europas bekannt. Auch hier sind wieder die verschiedenen Möglichkeiten der Reaktion, Abgrenzung wie Aneignung, zu erkennen. Im 12. Jahrhundert äußert Hugo von St. Victor (1097-1141) sich kritisch über jene Christen, die zwar am christlichen Kult teilnehmen, aber mehr Interesse an den antiken Mythen haben als an der Bibel. Wer im Mittelalter die lateinische Sprache erlernte, kam unvermeidlich mit dem Erbe der Antike in Berührung, z.B. durch die Lektüre Vergils und Ovids, und so wurden Strategien der Abgrenzung entwickelt. Ein solcher Ansatz zeigt sich in der „Ecloga des Theodulus“, einem Text, der vom frühen Mittelalter bis hinein in die Frühe Neuzeit im Lateinunterricht verwendet wurde. In diesem Text eines unbekannten Verfassers wird der Wettstreit zwischen dem (heidnischen) Hirten „Pseustis“, dem Lügner, und der (christlichen) Hirtin „Alithia“, der Wahrheit, dargestellt – ein Sängerwettstreit, der durch die Hirtin „Phronesis“, die Vernunft, entschieden werden soll. Abwechselnd tragen die Kontrahenten in Versen einzelne Motive vor, die jeweils aus der antiken bzw. aus der biblischen Tradition genommen werden. Pseustis beginnt, und Alithia antwortet jeweils mit einem passenden Vergleichsbeispiel aus dem Alten Testament. Wenn Pseustis z.B. die Taten des Herakles besingt, antwortet Alithia mit einer Strophe über Samson (V. 173-180); und wenn Orpheus genannt wird, antwortet Alithia mit einer Strophe über David (V. 189-196):

 

Pseustis: Die Eschen senkten ihre Äste und wetteiferten, Orpheus zu folgen, als er seine Lieder durch die Wälder ertönen ließ. Die Herrscher des Reiches der Unterwelt wurden gerührt, und Proserpina befahl, dass ihm Eurydice zurückgegeben werde, doch unter schwerer Bedingung.

Alithia: Damit der böse Geist den König Saul nicht länger quäle, half ihm David der Knabe mit dem Klang seiner Harfe. Der vorher eifrig Schafe schor, hielt bald danach als Nachfolger das Szepter in der Hand.

 

Wie zu erwarten, wird der Wettstreit am Ende zugunsten Alithias, der „Wahrheit“, entschieden, und der Sänger Pseustis, der Lügner, der die Motive der heidnischen Mythologie vortrug, muss seine Niederlage eingestehen. Die Abgrenzung der biblischen Geschichten gegen die antiken Mythen wird in diesem Schultext durch die Namengebung – „Pseustis“ und „Alithia“ – zu einer Antithese verschärft, offensichtlich mit dem Ziel, den Schülern die richtige, kritische Einstellung zu vermitteln.

Ein anderer Ansatz zum Umgang mit den antiken Mythen zeigt sich im Werk von Alanus ab Insulis (1120-1202). In seiner Predigtlehre erklärt er ausdrücklich, es sei legitim und sinnvoll, Motive aus der heidnischen Literatur zu verwenden. Besonders großes Interesse fand im Mittelalter die Orpheus-Gestalt, wie sie aus der Dichtung Ovids bekannt war. Im 14. Jh. hat Petrus Berchorius (Pierre Bersuire) gleich mehrere allegorische Deutungen vorgeschlagen, darunter auch die Identifikation mit Christus: „Let us speak allegorically and say that Orpheus, the child of the (sun), is Christ the son of God the Father, who from the beginning led Eurydice, that is, the human soul (to himself?). … But the devil, a serpent, drew near the new bride, … while she collected flowers, that is, while she seized the forbidden apple, and bit her by temptation, and killed her by sin, … Seeing this, Christ-Orpheus wished himself to descend to the lower world and thus he retook his wife, that is, human nature, … and he led her with him to the upper-world, …“ (John Friedman). Petrus Berchorius hat also durch seine allegorische Auslegung zwei Geschichten gleichgesetzt: den antiken Mythos von Orpheus und Eurydike, und die biblische Geschichte vom Sündenfall und der Erlösung. Den tragischen Ausgang des Orpheus-Mythos, wie er von Ovid vorgegeben ist, hat er bei dieser Auslegung einfach übergangen. Er hat offensichtlich bewusst darauf verzichtet, durch die Betonung des unterschiedlichen Ausgangs eine Abgrenzung anzudeuten. Dieser mittelalterliche Theologe sah aber noch andere Möglichkeiten einer Aneignung des antiken Mythos, u. a. diese: „Orpheus signifies the preacher of the word of God and writer of songs who, coming from hell, that is, the world, must sit in the mountains of Scripture and religion and sing the songs and melodies of Sacred Scripture, and call to himself, that is, to the state of penitence or faith, trees and stones, that is, the insensible and hardened sinners, …“ (John Friedman).

Petrus Berchorius hat damit jenes Motiv aufgegriffen, das Klemens von Alexandrien in den Mittelpunkt gestellt hatte: das Bild des Orpheus, der durch seinen Gesang wilde Tiere besänftigt und Bäume in Bewegung setzt. Anders als Klemens hat dieser mittelalterliche Theologe aber keine Abgrenzung vorgenommen – der Gesang des Orpheus wird in der allegorischen Auslegung ja auf eine Stufe gestellt mit dem „neuen Lied“ der christlichen Verkündigung.

 

II.

 

So gab es als Alternative zur Tendenz der Abgrenzung auch einen freien Umgang mit den antiken Mythen, wie z.B. mit dem Orpheus-Motiv. Diese Freiheit zeigt sich später auch in der Kunst der Renaissance. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts hat Andrea Mantegna, eher bekannt als Maler christlicher Motive, mehrere Gestalten aus den antiken Mythen dargestellt: neben Herakles und dem Sänger Arion auch den Sänger Orpheus – im Schloss von Mantua, also dort, wo eine der ersten Orpheus-Opern aufgeführt wurde. Noch stärker ist der Eindruck einer (christlichen) Aneignung antiker Mythen in einer Kapelle des Doms von Orvieto, ausgemalt von Luca Signorelli: neben Dante, dem christlichen Dichter, finden sich in dieser Kapelle auch Porträts der heidnischen Dichter Vergil und Ovid; und der Künstler hatte offensichtlich die Freiheit, in dieser Kapelle auch „Orpheus in der Unterwelt“ darzustellen, ebenso wie das entsprechende Motiv aus dem Mythos von Herakles – auch dieser hat die Schwelle zur Unterwelt überschritten.

Im 17. Jahrhundert, im Zeitalter der Konfessionalisierung, haben christliche Künstler und Autoren beider Seiten, katholische wie protestantische, auf den Mythos von Orpheus zurückgegriffen. Der spanische Dichter und Theologe Don Pedro Calderon de la Barca hat diesem Thema zwei Dramen gewidmet, 1634 und 1663. Es handelt sich dabei um Beispiele der sogenannten autos sacramentales, das sind Dramen, die am Fronleichnamstag aufgeführt wurden, nach dem Gottesdienst und der Prozession. Das 1663 aufgeführte Werk ist unter dem Titel „Der göttliche Orpheus“, il divino Orfeo, bekannt. Dieser Titel weckt die Erwartung, dass der katholische Dichter die Tradition der Aneignung, die bis hin zur Synthese Orpheus-Christus führen kann, noch weiter fortsetzen wird. Der erste Eindruck scheint diese Erwartung zu bestätigen: Orpheus tritt auf als der Weltschöpfer, der durch seine Stimme die sieben Tage und am siebten Tag die menschliche Natur zum Leben erweckt, um sie gleich vor dem Gift der Schlange zu warnen. Orpheus‘ Gegenspielern auf der Bühne, dem Fürsten der Finsternis und seiner Gefährtin, dem Neid, gelingt es aber doch, die menschliche Natur zu verführen und in die Unterwelt zu bringen. Orpheus beweint seine verlorene Braut, „die durch das Gift der Schlange im Reiche des Vergessens“ gefangen ist. Auf dem Weg in die Unterwelt nimmt Orpheus mehr und mehr die Züge Christi an – sein Musikinstrument wird zum Kreuz:

„Und jeder Wirbel ist

Ein schneidend scharfer Nagel,

Und Geißeln sind die Saiten,

Die tönen wenn sie schlagen.“

Orpheus‘ Stimme ist der „Schlüssel“ zu den Pforten der Hölle, und den Wächter der Unterwelt überwindet er gerade dadurch, dass er sich töten lässt. So kann er die menschliche Natur von dem Fürsten der Finsternis, dem Herrn der Unterwelt, zurückfordern. Dieser erkennt ihn durch den Vergleich mit David – „Nicht zum ersten Male ja bannet Böse Geister eine Harfe.“ –, und so muss der Fürst der Finsternis seine Beute, die menschliche Natur, herausgeben. Er kann aber darauf hinweisen, dass sie bei Wiederholung der Sünde ja doch und dann endgültig seiner Macht verfallen würde. Orpheus‘ Antwort ist der Verweis auf die Sakramente der Kirche, die der menschlichen Natur den Schutz vor der Macht des Todes bieten werden – das Drama wurde ja auch als „auto sacramental“ am Fronleichnamsfest aufgeführt.

So scheint sich der Eindruck zu bestätigen, dass Calderon auf jede Abgrenzung zwischen antiken Mythen und biblischen Geschichten verzichten und eine neue Synthese von Orpheus und Christus schaffen will. Es ist aber zu beachten, dass das Schauspiel eine Reflexion über das Verhältnis von Mythos und Wahrheit enthält. Der Dichter lässt den Fürsten der Finsternis darüber reflektieren, nachdem ein Bauer, die Personifikation des „Vergnügens“, zum Spaß die Geschichte von Orpheus und Eurydike erzählt hat. Der Neid, die Gefährtin des Fürsten der Finsternis, fragt: „Nun, was stehst du da und staunest?“, und erhält die Antwort: „Weil der dumme Bauer wähnte Mit der Wahrheit mich zu täuschen.“ Auf die Gegenfrage „Wär‘ das Wahrheit denn gewesen?“ antwortet der Fürst der Finsternis mit einem längeren Monolog:

„Höre, Neid! Das Heidenthum

Hat in seines Wahn‘s Verblendung

Doch entfernte Ahnung auch

Von der Wahrheit. …

Stimmen oft nicht die Poeten

Ueberein mit den Propheten?

Schimmert nicht der Wahrheit Wesen

Oft aus dunkler Schatten Hülle?“

Es wird also doch eine Abgrenzung vorgenommen: zwischen Heidentum und Christentum. Diese Grenze ist aber insofern durchlässig, als es im Heidentum eine schattenhafte Ahnung der Wahrheit geben kann. Deshalb können die antiken Mythen durchaus im Dienste christlicher Verkündigung verwendet werden, wenn sie aus ihrem Kontext, dem falschen heidnischen Kult, befreit worden sind.

Calderons Umgang mit den antiken Mythen ist in der Forschung manchmal mit dem Begriff der „Unterwerfung“ beschrieben worden. Diese Begrifflichkeit könnte irreführend sein, wenn sie einseitig die kritische Einstellung des Dichters gegenüber dem Heidentum betont. Zweifellos ist das (katholische) Christentum aus der Sicht Calderons die ganze Wahrheit, zu der es keine gleichwertige, alternative Offenbarung gibt. Doch hat er die Grenze eben nicht zwischen den antiken Mythen und den biblischen Geschichten gezogen, sondern nur zwischen den religiösen Bezugssystemen, Polytheismus und (christlicher) Monotheismus, die sich in ihrem Kult unterscheiden. Im Unterschied zu Klemens von Alexandrien würde Calderon eben nicht von Orpheus als einem Betrüger und von Christus als dem wahren Sänger sprechen. Den Irrtum sieht er vielmehr darin, dass die Geschichte wörtlich genommen und Orpheus als ein wirklicher Mensch betrachtet wurde, der Mythos also nicht als solcher erkannt wurde: als eine schattenhafte Ahnung der Wahrheit. Damit hat Calderon sich die Möglichkeit einer Aneignung der Mythen erhalten, ganz im Sinne des mittelalterlichen Theologen Alanus, der die Prediger dazu ermuntern wollte, Motive aus der heidnischen Literatur im Dienste der christlichen Verkündigung zu verwenden.

 

III.

 

Dasselbe gilt, bei aller Verschiedenheit in der speziellen theologischen Konzeption, für ein protestantisches Orpheus-Libretto aus der gleichen Zeit, dem 17. Jahrhundert. Der Wittenberger Professor für Rhetorik und Poetik, August Buchner, verfasste das Libretto „Orpheus und Eurydike“, und der bekannte Komponist Heinrich Schütz schrieb die Musik, die allerdings verloren ist. So ist es in der Forschung umstritten, ob der Text ganz durchkomponiert war. Als Bezeichnung scheint der Begriff „Ballett-Oper“ weithin akzeptiert zu sein. Anlass für die Aufführung war die Hochzeit des sächsischen Kronprinzen in Dresden im Jahre 1638. Das Werk gliedert sich in fünf Akte, denen jeweils eine Einleitung vorangestellt ist, die den Inhalt des folgenden Aktes zusammenfasst. So wird zu Beginn angekündigt, was beim Tanz, den Eurydike anführt, geschehen wird:

„Unnd eh manns innen wird der Neid sich unterschliert,

Wirfft eine Schlang in weg, Euridice verlezt

Bald auß dem reyen fellt, wird Lust und Lichts entsezt,

Da reißet alles auß. …“

Bleibt der Dichter hier nahe am Mythos, wie er ihn vielleicht aus den italienischen Orpheus-Opern kennt, so hat er ihn im zweiten Akt innovativ abgewandelt: in einem langen Entscheidungs-Monolog ringt Orpheus sich dazu durch, den Gang in die Unterwelt zu wagen – dabei erinnert er sich auch an Herakles, der diesen Gang bereits erfolgreich unternommen hatte. Diese Entscheidung wird in der Einleitung angekündigt und zugleich mit einer positiven Wertung versehen:

„Ein großes Helden Herz schlegt aus gemeinen weg,

Und wo gefahr und furcht, sucht Tugend ihren steg.“

Im dritten Akt folgt der Dichter nur teilweise dem Mythos: Orpheus bringt in der Unterwelt seine Bitte vor, die von dem Herrscher und den Richtern in der Unterwelt sowie von Proserpina positiv beschieden wird – ohne dass eine Bedingung genannt wird. Auch dieser Ausgang des Unternehmens wird in der Einleitung angekündigt und wiederum positiv bewertet:

„Wo tugend mit der Kunst gemachet einen bandt

Mag nichts für ihnen stehn, Sie haben ober handt.“

Der vierte Akt bringt dann besonders deutlich jene „Verschränkung antiker und christlicher Traditionen“, von der die Herausgeberinnen des Librettos sprechen: das Ballett der Bäume, Felsen und Tiere nimmt ein Motiv aus den antiken Dichtungen auf, und zugleich besingt Orpheus den Gott – nicht die Götter -, der die Welt geschaffen hat und wunderbar erhält, so dass ein christliches Publikum an den Psalm 104 erinnert werden könnte. Olga Artsibacheva hat sogar die These vertreten, dass der Dichter in einer Formulierung bewusst auf die Selbstvorstellung Gottes im Alten Testament (2.Mose 3,14) anspielt, wenn er Orpheus sagen lässt „ich binn doch wer ich binn“. Das würde bedeuten, dass Orpheus hier mit Christus als zweiter Person der Trinität, also mit Gott selbst, identifiziert würde. Diese Selbstvorstellung des Orpheus erfolgt nach dem Angriff der thrakischen Frauen – das ist das aus der antiken Literatur bekannte Motiv vom gewaltsamen Tod des Orpheus, nur dass es hier insofern abgewandelt ist, als der Angriff fehlschlägt. Darauf wird wohl in der einleitenden Zusammenfassung Bezug genommen, und zwar wieder mit einer moralisierenden Bewertung:

„Wo tugend, da ist feind: wo Kunst, da find sich neid,

Und sie behelt doch platz, Gott wendet ihre Zeit.“

Der Aufruf zur Tugend erfolgt dann in der Einleitung zum fünften Akt, wenn angekündigt wird, dass Orpheus und Eurydike in den Himmel aufgenommen werden sollen:

„Ihr großen Helden hofft! Die Tugend nicht verfält:

Sie steiget Himmel an, und läuchtet durch die weldt.“

Der Unterschied im Vergleich zu der Version Calderons liegt auf der Hand – so zeigt sich schon im Anlass, für wen die Stücke geschrieben wurden und wer jeweils am Ende der Libretti thematisiert wird: das Fronleichnamsfest bzw. die Fürstenhochzeit. Von den Sakramenten der Kirche ist in Buchners Version nicht die Rede – solch ein permanenter Schutz gegen den Rückfall in die Sünde erscheint ihm wohl nicht notwendig. Anders als Calderon hat Buchner auch keine Notwendigkeit gesehen, das Verhältnis zwischen Christentum und Heidentum zu thematisieren und eine Abgrenzung anzudeuten. Es zeigt sich hier die gleiche Freiheit im Umgang mit den antiken Mythen wie im Werk von Petrus Berchorius. Im Hinblick auf die Rede vom Zeitalter der Konfessionalisierung ist es aber von Interesse festzustellen, dass es doch eine grundlegende Gemeinsamkeit gibt, über die Grenze der Konfessionen hinweg: Zur gleichen Zeit und ganz unabhängig voneinander haben Calderon in Madrid und Buchner in Wittenberg das Orpheus-Motiv aufgegriffen und ihr Verständnis des Christentums in der Sprache eines antiken Mythos dargestellt – mit dem Ziel, ihr Publikum zu unterhalten und im Glauben zu stärken. Offensichtlich erschien ihnen das zentrale Thema dieses Mythos – die Macht der Musik – zu diesem Zweck besonders geeignet.

 

IV.

 

Auch in der Theologie der Gegenwart ist dieses Thema entdeckt worden: In den „Kirchenvisionen“ des bekannten Theologen Paul Zulehner findet sich ein Kapitel „Orpheus und Christus“. Hier wird zunächst einmal der „griechische Orpheus“ vorgestellt, indem der Mythos in seiner klassischen Form nacherzählt wird. So lautet der erste Kommentar Zulehners, des Theologen: „Welch tragische Botschaft, die der Mythos bringt: Am Ende siegt nicht die Liebe über den Tod, sondern der Tod über die Liebe.“ Diesem „griechischen Orpheus“ stellt er dann den „Christus-Orpheus“ gegenüber, in Anknüpfung an den Kirchenvater Klemens von Alexandrien. Implizit wird dabei auch die allegorische Deutung der Eurydike als „die menschliche Natur“ übernommen, wie sie z.B. von Petrus Berchorius und Calderon de la Barca bekannt ist: „Der Spielmann Gottes, Christus, liebt Eurydike, die dem Tod verfallene Menschheit. Auch ihn treibt die Liebe, wie der griechische Orpheus hinabzusteigen in die Unterwelt: …“. Zulehner erinnert mit Recht daran, dass „die Hadesfahrt Christi“ für die ostkirchliche Tradition „ein zentrales Ereignis von Ostern ist“ und dass früher auch in der römischen Liturgie, im Apostolischen Glaubensbekenntnis gesprochen wurde: „Hinabgestiegen in die Hölle“. Es sei „exakt derselbe Vorgang, von dem im griechischen Mythos berichtet wird“. Die Gemeinsamkeit gilt aus der Sicht Zulehners aber nur für den ersten Teil des Mythos, den Abstieg in die Unterwelt. Der Blick auf den zweiten Teil eröffnet ihm die Möglichkeit, einen „tiefliegenden“ Unterschied festzustellen: „Der Christus-Orpheus schaut sich nicht um.“ Mit Verweis auf Lukas 9,62 fährt er fort: „Der Christus-Orpheus geht seinen Weg „rück-sichts-los“: ohne auf sich selbst zu achten, einzig dem Auftrag seines Gottes gehorsam. So kann er, anders als der gescheiterte griechische Orpheus, seine geliebte Eurydike-Menschheit zurücksingen in das Land des Lachens, der Hoffnung und der Auferstehung, so in Anlehnung an den Kirchenvater Clemens aus Alexandreia.“

Diese Anwendung des Orpheus-Mythos in der modernen Theologie steht tatsächlich in der Tradition des Kirchenvaters Klemens: Das Bild des Sängers wird auf Christus übertragen, um dem Publikum einen Verständnishorizont zu erschließen; doch dann wird eine Abgrenzung vorgenommen, indem das Scheitern des griechischen Orpheus dem Erfolg des christlichen Orpheus gegenübergestellt wird. Die Abgrenzung ist allerdings nicht so scharf durchgeführt wie im Werk des Kirchenvaters, der Orpheus als einen „Betrüger“ bezeichnet hatte. Mit der Formel „Christus-Orpheus“ ist jedenfalls nicht eine Gleichsetzung der beiden Gestalten angedeutet, sondern ein Verhältnis der Über- und Unterordnung. Es ist vielleicht bezeichnend, dass Petrus Berchorius in seiner freien allegorischen Auslegung die Namen anders angeordnet und von „Orpheus-Christus“ gesprochen hatte (in der oben zitierten Übersetzung ist die Reihenfolge umgekehrt). Diese Formel könnte so verstanden werden, dass sie einen Aspekt des Christus-Bildes, den des Friedensbringers, betonen soll: durch den Hinweis auf Orpheus, der nur das Opfer von Gewalt wurde, selbst aber nie Gewalt angewendet hat.

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