Der Titel unseres philosophisch-theologischen Gesprächs – „Philosophie und Offenbarung“ – verweist auf eine alte Streitfrage: Wie soll die Vernunft mit Wahrheitsansprüchen umgehen, die sich auf Offenbarung berufen? Wie soll sich somit die Disziplin der Philosophie, die allein der Vernunft verpflichtet ist, zur Religion verhalten, die sich auf Offenbarung beruft?
Mein Gesprächsbeitrag gibt – jedenfalls zunächst – keine Antwort auf diese Frage. Stattdessen will er eine unhinterfragte Voraussetzung problematisieren, die in dieser Frage steckt: nämlich die Annahme, dass Philosophie als Vernunftdisziplin ein Unterfangen sei, in dem der Mensch allein aus eigener Kraft zu Erkenntnissen gelangen kann; also ein Unterfangen, welches – in eben diesem Sinne – frei von so etwas wie „Offenbarung“ ist. Diese Annahme ist, wie ich denke, falsch. Dass und warum sie das ist, will ich in den folgenden, an Hegels Denken geschulten Überlegungen zeigen.
Ausgangspunkt: Das Faktum philosophischen Dissenses
Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist ein Faktum, das sich kaum bestreiten lässt: Die Philosophie und ihre Geschichte ist voll von divergierenden, einander widersprechenden und inkompatiblen Überzeugungen. Es wird, denke ich, zu wenig über diesen Befund nachgedacht. Dabei ist ein Nachdenken über diesen Befund aber selbst philosophisches Nachdenken. Denn: Dieser Befund wird zum philosophischen Problem, sobald man einsieht, dass es keine gewöhnliche – etwa psychologische – Erklärung für ihn gibt. Eine solche psychologische Erklärung wäre zum Beispiel, dass der philosophische Dissens in intellektuellen Defiziten von einigen der beteiligten Philosophinnen und Philosophen gründet. Doch das scheint absurd. Kaum jemand wird ernsthaft behaupten wollen, dass beispielsweise Kant ein wenig zu dumm gewesen sei, um selbst Hegel zu werden, also zu Hegels Einsichten zu gelangen; oder dass Aristoteles das geistige Niveau Platons nicht erreicht und nur deshalb die Sinnlichkeit aufgewertet habe.
Wenn man nun nicht diese – nebenbei bemerkt: höchst überhebliche – Einstellung zur Philosophie und Philosophiegeschichte einnimmt, so wird also erklärungsbedürftig, warum es in ihr derartig einander widersprechende Überzeugungen gibt. Eine spätestens seit dem 19. Jahrhundert beliebte Erklärung lautet so: Die Philosophie sei je ein Kind ihrer Zeit; so prägt sich beispielsweise die Selbstverständlichkeit des Gottesglaubens in die Philosophie des Mittelalters ein, und die Selbstverständlichkeit von Freiheit und Autonomie des Menschen in die Philosophie der Moderne. Nun ist gewiss nicht zu leugnen, dass es eine Verflechtung von Philosophie und Geschichte gibt. Doch dass es eine Verflechtung von Philosophie und Geschichte gibt, bedeutet noch nicht, dass diese Verflechtung die folgende Form annehmen muss: Was philosophisch als wahr behauptet wird, gilt nur aufgrund einer bestimmten historischen Konstellation und in einer bestimmten historischen Konstellation. Diese Form der Verflechtungsbehauptung nenne ich die „Historisierung der Philosophie“. Diese Form sollte die Philosophie so gut als möglich von sich weisen; denn sie ist für die Philosophie zerstörerisch, da sie die Philosophie mit den relativen Prozessen der Weltgeschichte gleichmacht. Damit verliert sie ihr genuines Ringen um Wahrheit – und auch ihre kritische Distanz zum Weltgeschehen. Doch diese Historisierung der Philosophie ist auch unplausibel; denn die Philosophie zeichnet sich offenkundig gerade dadurch aus, dass sie in ihrem Ringen um Wahrheit wesentlich auch das Gespräch mit Philosophinnen und Philosophen ganz anderer historischer Epochen sucht. So würde – ganz mir Recht – niemand sagen, die sub specie veritatis geführte Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff Kants gehe ins Leere, weil Kant ein Kind des 18. Jahrhunderts und ein braver Untertan war.
Mit der Formulierung „sub specie veritatis“ habe ich nun ein Dilemma angezeigt: Entweder, man nimmt die eben kritisierte Historisierung der Philosophie vor; dann aber muss man Philosophie als Ausdruck einer historischen Konstellation, nicht aber als ernsthaftes Ringen um Wahrheit verstehen. Oder man nimmt sie nicht vor, weil man sie als dieses ernsthafte Ringen um Wahrheit verstehen will – dann aber ist die aufgeworfene Frage weiter ungelöst: Wie ist es zu erklären, dass es in der Philosophie einander widersprechende – fundamental widersprechende – Überzeugungen gibt? Ich will nun eine Antwort auf diese Frage zu geben versuchen, indem ich Folgendes zeige: Zwei verschiedene philosophische Überzeugungen sind notwendig so, dass eine Vertreterin der einen not durch ein Argument von der Wahrheit der anderen überzeugt werden kann. Diese Erkenntnis wird uns zum Begriff der Offenbarung führen und zeigen, dass philosophische Erkenntnis selbst offenbarungsförmig ist.
Zur logischen Form philosophischer Überzeugungen
Um diese Erkenntnis gewinnen zu können, muss zunächst bestimmt werden, welche logische Form eine philosophische Überzeugung hat: Eine philosophische Überzeugung ist immer auch eine Überzeugung über die wahre (oder gültige) Bedeutung von Begriffen; sie besteht not einfach in für wahr gehaltenen Überzeugungen, dass dieses oder jenes der Fall ist, wobei die Bedeutung von Begriffen unkritisch vorausgesetzt werden kann. Ich will dies durch ein Beispiel erläutern: Wenn wir im Alltag beispielsweise die Überzeugung äußern, dass der Gipfel Zugspitze am 1. Mai 2022 schneebedeckt sein wird, so kann diese Überzeugung wahr oder falsch sein. Doch ob sie wahr oder falsch ist, betrifft nicht die Bedeutung der enthaltenen Begriffe oder Wörter. Das Wort „Zugspitze“ und der Begriff des „schneebedeckt-Seins“ bedeuten ja gerade dasselbe, wenn der Satz wahr ist, wie dann, wenn er falsch ist. Andernfalls ließe sich ja gar nicht sinnvoll über die Frage streiten, ob der Gipfel der Zugspitze nun am 1. Mai 2022 schneebedeckt sein wird oder nicht. Denn dann wäre der Sinn des Satzes in beiden Fällen verschieden; es wäre gar nicht vom selben die Rede.
Anders verhält es sich nun bei philosophischen Überzeugungen: Wenn ich vertrete, der Mensch ist ein geistiges Wesen von unbedingter Würde, so gebe ich damit eine Wesensbestimmung des Menschen. Wenn mir jemand entgegnet, der Mensch sei ein Naturobjekt ohne jede Würde, so sagt er nicht bloß etwas anderes über den Menschen als ich; sondern er spricht auch von einem anderen Menschen als ich. Genauer: Er behauptet, dass ein von uns beiden zwar identifizierbares „etwas“ – auf das wir exemplarisch mit dem Finger zeigen können – ein anderes Wesen sei als ich meine. Dieses Beispiel ist nun alles andere als aus der Luft gegriffen: Es ist die kondensierte Form des inner- wie außerphilosophischen Streits zwischen einem geistigen und einem naturalistischen Verständnis des Menschen. Wir alle wissen, dass dieser Streit andauert – und ein gutes Beispiel für die einander fundamental widersprechenden philosophischen Überzeugungen ist, von denen eingangs die Rede war.
Wir erwarten nun in der Philosophie (und von der Philosophie) ganz selbstverständlich, dass Vertreter:innen beider Überzeugungen Argumente für ihre jeweilige Überzeugung geben können und geben. Doch aus dem Gesagten sehen wir nun klar das Problem: Wenn der Streit über die Bedeutung von Begriffen geht – hier die Bedeutung des Begriffs des Menschen –, so ist er nicht mit Argumenten zu entscheiden. Denn Argumente müssten als ihre Prämissen Sätze enthalten, die ihrerseits wieder Begriffe enthalten, über deren Bedeutung ebensowenig Einigkeit besteht wie über die Bedeutung des in Frage stehenden Begriffs. Ich will dies am gegebenen Beispiel illustrieren: So kann die Vertreterin des geistigen Verständnisses des Menschen beispielsweise argumentieren, im naturalistischen Verständnis sei nicht erklärbar, warum der Mensch eine Form des Genusses kennt, die selbstzwecklich und ohne Nutzen ist und sich in der Erfahrung kategorial von bloß sinnlicher Lust unterscheidet: nämlich den ästhetischen Genuss. Doch dies wird die Vertreterin der naturalistischen Auffassung nicht überzeugen: Sie mag entgegnen, dass der ästhetische Genuss eben not selbstzwecklich und ohne Nutzen sei, sondern zum Zwecke der biologischen Erholung und damit Gesundheit verfolgt werde, und dass ästhetischer Genuss nichts kategorial anderes als der Genuss von Schokolade oder sexueller Lust sei, nur eben anders und vielleicht bisweilen graduell intensiver.
Das also zeigt: Die einander widersprechenden Überzeugungen über die Begriffsbedeutungen pflanzen sich in die Prämissen etwaiger Argumente für solche Überzeugungen fort. Das ist – genauer besehen – nicht überraschend. Denn wenn eine Prämisse eine Überzeugung stützen kann, dann muss in ihr ja schon derselbe Geist wehen wie in dem, was sie stützen soll. Deshalb aber gilt: Argumente vermögen es prinzipiell nicht, ein Gegenüber von einer widerstreitenden philosophischen Überzeugung zu überzeugen. Das bedeutet freilich nicht, dass Argumente in der Philosophie nicht wichtig wären. Sie sind sogar unverzichtbar, denn sie vermögen etwas für die Philosophie Wesentliches: Durch sie können wir den Nachweis erbringen, dass eine philosophische Auffassung kohärent ist; d. h. dass sie logisch widerspruchsfrei und begrifflich artikuliert – und damit erst aussagekräftig ist.
Philosophische Wahrheit? Philosophie als Offenbarung
Was aber folgt nun aus der Erkenntnis, dass Argumente es prinzipiell – also aus logischen, nicht aus psycho-logischen Gründen – nicht vermögen, ein Gegenüber von einer widerstreitenden philosophischen Überzeugung zu überzeugen? Nun, es gibt zwei mögliche Folgerungen, die äußerst ernüchternd und – wie ich glaube – letztlich sogar menschen-unwürdig sind: (i) Die eine besagt, dass es so etwas wie philosophische Erkenntnis eben gar nicht gibt. In Wahrheit ist Philosophie nicht mehr als das Nebeneinanderherbestehen von unverbindlichen Meinungen, die sich in voneinander isolierten Blasen artikulieren und ausbilden. Philosophischer Streit ist – wenn er an Wahrheit und Verbindlichkeit geeicht sein soll – schlicht Unsinn; wo er Sinn hat, da einen ganz anderen: Er ist in Wahrheit etwa ein Streit um Power, um Meinungsvormacht und Einfluss. Diese Option hatte ich eingangs, mit einem emphatischen Festhalten am „sub specie veritatis“, schon zurückgewiesen. Ich kann hier zwar nicht beanspruchen, bewiesen zu haben, dass sie falsch ist. Sehr wohl aber kann ich beanspruchen, zu beweisen, dass diese Option dann falsch ist, wenn sie behauptet, sie sei die einzig mögliche und schon daher zwingende Folgerung aus unserer Erkenntnis, dass Argumente es prinzipiell nicht vermögen, ein Gegenüber von einer widerstreitenden philosophischen Überzeugung zu überzeugen. (ii) Die andere, aus meiner Sicht ebenfalls fürchterliche Folgerung daraus wäre diese: Es gibt zwar philosophische Wahrheit; aber die ist für diejenigen, die nicht schon immer in ihr stehen – also gleichsam glücklicherweise in der richtigen Blase geboren wurden –, ein für allemal verloren. Dadurch, dass wir solche Verlorenen nicht durch Argumente zur Erkenntnis der Wahrheit führen können, bleiben sie notwendig die Verlorenen.
Dem widerspricht nun eine andere Folgerung, welche ich vertrete: Es ist ja denkbar, dass in einer der widerstreitenden Überzeugungen tatsächlich die Wahrheit liegt; und zwar eine Wahrheit, die selbst die Kraft hat, sich gegen andere Überzeugungen geltend zu machen. Dann wäre zu sagen: Wir können uns zwar nicht aus eigener Kraft – mittels verfügbarer Argumente – von der Wahrheit überzeugen, aber die Wahrheit kann es aus ihrer Kraft; sie can uns from sich überzeugen.
Das klingt zunächst wie ein Mythos. Wie soll die Wahrheit etwas tun können, wie soll sie uns von sich überzeugen können? Dieser Anschein verschwindet, wie ich denke, schnell, wenn wir an das vorhin gegebene Beispiel anknüpfen: Wenn wir davon überzeugt sind, dass ästhetischer Genuss von kategorial anderer Art ist als der Genuss von Schokolade – nämlich geistiger Art –, dann ruht diese Überzeugung auf Erfahrung auf (– die uns in einem tiefen Sinne des Wortes „bildet“). Wir haben den ästhetischen Genuss kategorial anders erfahren als den Genuss von Schokolade. Nun ist es denkbar, dass eine Vertreterin der gegensätzlichen Überzeugung diese Erfahrung ebenfalls macht. Sie mag eines Tages die Missa Solemnis Beethovens in einer Weise hören, die sie davon überzeugt, dass ästhetische Erfahrung geistig ist – und die sie daher zwingt, ihr naturalistisches Menschenbild im Ganzen kohärenterweise zu verwerfen. Dann aber hat sie erfahren, dass letztlich nicht sie, sondern der Geist in ihrer Kunsterfahrung am Werk war. Dieses Beispiel erinnert uns an etwas, das uns durchaus vertraut ist: Ästhetische Erfahrungen sind unverfügbar. Wir können sie nicht erzwingen. Das gilt dann aber auch für die Art, like wir sie erfahren – und dafür, als was wir sie erfahren. Wenn ich nicht erzwingen kann, dass jemand Beethovens Musik überhaupt als schön und tief hört, so kann ich auch nicht erzwingen, dass sie oder er sich darin als geistig erfährt.
Für Philosophie gilt nun dasselbe – was der Grund ist, warum Hegel sie zusammen mit Kunst und Religion als Gestalt des „absoluten Geistes“ auffasst: Auch das Gelingen von Philosophie ist unverfügbar. Ich kann zwar aus eigener Kraft Denkanstrengungen unternehmen; aber ich kann nicht aus eigener Kraft erzwingen, dass ich klar and gut denke; dass mir im Denken etwas aufgeht. Genau darum aber geht es in der Philosophie letztlich, gleich wie in der Kunst: Dass mir etwas aufgeht; dass mir etwas tätig gegenübertritt, entgegentritt. Mit Recht sagen wir daher über philosophische Werke, die uns fremd bleiben: „Das bleibt mir verschlossen, das leuchtet mir nicht ein!“ Oder: „Das sagt mir nichts!“, „Das spricht mich nicht an!“. Wir können dieses „Ansprechen“, „Aufgehen“ oder „Einleuchten“ nun – sinnvollerweise – auch „Offenbaren“ nennen. Philosophie ist dann wesentlich Offenbarung: Denn die Wahrheit muss sich mir offenbaren, sie muss sich selbst geltend machen, wenn ich mich von ihr nicht aus eigener Kraft – d. h. mittels verfügbarer Argumente – überzeugen kann.
Das heißt nun gerade not, dass die Wahrheit der- oder demjenigen verschlossen bleiben muss, die bzw. der (noch) anderer Überzeugung ist. Es bedeutet nur, dass es uns verschlossen ist, ihr or ihm die Wahrheit aufzwingen zu können; also erzwingen zu können, dass sie oder er von der Wahrheit überzeugt wird. Auch bedeutet es, dass wir nicht wissen, wann – ja nicht einmal: ob jemals – die Wahrheit sich ihr oder ihm erschließen wird. Aber wir wissen: Es ist jederzeit möglich. Und wir wissen, falls wir selbst von der Wahrheit überzeugt sind, dass es bei uns geschehen sein muss. Das kann Grund zur Hoffnung sein darauf, dass es auch anderen zuteil werden wird.
Daran wird nun noch etwas deutlich: Der Begriff von Offenbarung mag zunächst den Anschein einer autoritären, unaufklärerischen Rede haben. Doch mir scheint, dass das Gegenteil der Fall ist. Menschenunwürdig und gegen die Vernunft sind diejenigen Reden, die ich oben bereits diskutiert habe: Die uns entweder die philosophische Wahrheit überhaupt absprechen wollen, oder die schließen müssen, dass es zwar philosophische Wahrheit gibt, aber ein für allemal nicht für diejenigen, die jetzt außerhalb ihrer stehen.
Ich denke, man kann und sollte sogar noch einen weiteren kritischen Schritt gehen. Dieser scheint mir in unserer Gegenwart sogar von besonderer Bedeutung zu sein: Die sich als aufklärerisch und „nachmetaphysisch“ bezeichnende Rede vom „zwanglosen Zwang“ des Arguments ist von der Warte der hier skizzierten Auffassung gefährlich. Denn entweder redet sie nur von einem Diskurs, der tatsächlich vollständig durch Argumente zu führen ist – und damit aber nicht mehr von einem philosophischen. Oder sie redet also vom philosophischen Diskurs, dann aber ist sie aus meiner Sicht nicht nur schlicht falsch, sondern sogar Ausdruck einer Selbstüberhöhung des Menschen: Denn sie zeichnet ein Bild des philosophischen Streits, demgemäß dort, wo die Wahrheit uns in Wahrheit unverfügbar ist, schlicht eine Verfügbarkeit behauptet wird. Damit überhöht sich der Mensch über die Wahrheit – und denkt sich so, dass er sich anderer Menschen durch Argumente bemächtigen kann. Sieht man so auf die Sache, ist nicht meine Rede von der Offenbarung die einer autoritären Bemächtigung, sondern vielmehr die scheinbar unschuldige Rede vom „zwanglosen Zwang“ des Arguments, sofern sie nicht präzisiert oder eingeschränkt wird.
Ein Fehlschluss wäre es übrigens auch zu denken, dass aus meinem Begriff von Philosophie als Offenbarung folgt, dass wir als Menschen eigentlich nichts mehr zu tun hätten, sondern bloß abzuwarten hätten, bis die Wahrheit von selbst alles tut. Das ist absurd. Ich hatte ja schon gesagt, dass ich erst einmal denken muss, damit mir im Denken etwas aufgehen kann. Das ist genauso trivial – und zugleich genauso schwierig – wie dass ich erst einmal die Ohren aufsperren und aufmerksam hinhören muss, damit ich beim Hören von Beethoven möglicherweise eine ästhetische Erfahrung machen can. Wenn ich aufmerksam hinhöre, kann ich dadurch nicht erzwingen, eine zu machen; aber ich kann es ausschließen, eine zu machen, wenn ich gar nicht erst hinhöre. Und genauso wenig, wie die Unverfügbarkeit der ästhetischen Erfahrung beim Hören von Beethoven unsere Orchester dazu verleitet, Beethoven nicht mehr aufzuführen – genauso wenig sollten wir das philosophische Streiten unterlassen, weil die philosophische Wahrheit unverfügbar ist. Wie jedes Konzert, so kann auch jede philosophische Äußerung ein Ort der Offenbarung werden. Dass sie es ist – davon kann ich nur überzeugt werden, wenn ich es erfahre; aber erfahren kann ich es nur, wenn ich mich erst einmal auf den Vollzug des Denkens einlasse, mich zu ihm ent-schließe; das heißt: wenn ich nicht nur über das Denken rede, sondern selbst denke. Das – so scheint mir – tun wir alle viel zu selten. Das relativiert im Übrigen auch einen Text wie diesen: Er soll eine Einladung zum eigenen Denken sein – nicht eine Belehrung, deren Annahme einem das je eigene Denken ersparen könnte.
Philosophie als Offenbarung ist Philosophie des Geistes
Ich komme nun zum letzten Gedankenschritt. Es könnte scheinen, als hätten wir durch den skizzierten Begriff von Philosophie als Offenbarung eine Pattsituation zwischen den einander widersprechenden philosophischen Überzeugungen hergestellt: Jede dieser Überzeugungen kann, so scheint es, zunächst mit gleichem Recht sagen, dass sie die Wahrheit artikuliert, die sich den anderen erst noch zu erschließen hat.
Doch dieser Schein trügt – aus folgendem Grund: Es kann sich nur diejenige Wahrheit offenbaren, deren Inhalt Raum für den Begriff der Offenbarung hat. Genauer: Nur eine solche Wahrheit, mit der der Gedanke ihrer Offenbarung in Einklang gebracht, also kohärent zusammengedacht werden kann; eine Wahrheit, als deren Teil man unser Überzeugtwerden von dieser Wahrheit denken kann. Wieder an unserem Beispiel illustriert: Ein Naturalismus, der sich darauf verpflichtet, dass es so etwas wie einen geistigen Akt der Offenbarung gar nicht geben can, kann eo ipso keine sich-offenbarende Wahrheit sein. Denn wäre er ein solcher, dürfte es ihn, seinem Inhalt gemäß, überhaupt nicht geben. Wäre der Naturalismus wahr, könnte er – wenn meine Argumentation soweit richtig ist – niemanden von sich überzeugen, der nicht schon von ihm überzeugt ist. Will er daraus nicht den Schluss ziehen, dass es sich deshalb gar nicht um eine wahrheitsfähige Position handelt, müsste er Philosophen wie mich als ewig Verlorene charakterisieren – wohl als Opfer der Natur.
Daraus folgt nun also: Eine Philosophie, die am Begriff der Wahrheit festhalten will und sich deshalb als Offenbarung versteht, ist dadurch nicht nur formal bestimmt. Sondern: Sie ist inhaltlich soweit bestimmt, dass der Gedanke der Offenbarung wesentlich zu ihrem Inhalt gehören muss. Deshalb ist – wie bei Hegel auch der Fall – Philosophie als Offenbarung notwendig Philosophie des Geistes. Denn: Offenbarung ist, was auch immer sie im Detail ist oder impliziert, jedenfalls ein geistiger Akt.
Offenbarung gehört somit selbst wesentlich zur philosophischen Wahrheit. Dem entspricht, dass sie genauso wenig bloß äußerliche Hülle oder Kanal der philosophischen Wahrheit ist, wie der geistig erhebende Klang Beethovens bloß äußerliche Hülle oder Kanal seiner Musik ist. Diese Einsicht eröffnet nun eine bedeutende Perspektive, die ich noch kurz andeuten will.
Wenn Offenbarung ein geistiger Akt ist, der wesentlich zur philosophischen Wahrheit gehört, so bedeutet dies, dass diese sich-offenbarende Wahrheit selbst „Gott“ ist – wenn man unter „Gott“ etwas Wirkliches versteht, das uns Menschen unbedingt vorausgesetzt ist und uns Menschen zeigt, wer oder was es selbst in Wahrheit ist, und wer oder was wir selbst in Wahrheit sind. Genau dies gilt von der philosophischen Wahrheit, welche wesentlich ihre eigene Offenbarung ist: Diese Wahrheit, die als solche unbedingt gilt und die Wahrheit über uns Menschen enthält, ist uns Menschen unverfügbar; der Mensch kann sich von ihr nicht überzeugen, sondern nur sie selbst kann ihn von sich überzeugen. Sie ist aber etwas Wirkliches deshalb, weil sie sich, wenn sie den Menschen von sich überzeugt, eben in seine Denkakte einmischt, und daher ebenso wirklich sein muss wie diese. Der Gedanke einer sich offenbarenden philosophischen Wahrheit ist also der Gedanke Gottes.
Doch hier ergibt sich eine Komplikation: Wenn Offenbarung wesentlich zur philosophischen Wahrheit gehört, so könnte es nun scheinen, dass diese philosophische Wahrheit eben doch abhängig von geschichtlich sich wandelnden individuellen Menschen oder Kollektiven ist. Denn: Offenbarung ist ja nur Offenbarung, wenn es auch einen Addressees der Offenbarung gibt. Wenn ein solcher Adressat, der Mensch, der Offenbarung wesentlich wäre, so könnte die philosophische Wahrheit, für die wiederum diese Offenbarungsförmigkeit wesentlich ist, eben nichts an und für sich schon Geltendes, dem Menschen Vorausgesetztes sein. Von ihr gälte dann: Sie ist nicht, sondern sie wird erst – durch den Menschen und seine Geschichte. Dieser Verdacht ist eine Variante der historisierenden Hegel-Rezeption: Was als eine Offenbarungsgeschichte Gottes und seiner Wahrheit erscheint, ist in Wahrheit ein laufender Selbstverständigungsprozess der Menschheit, in der alle Wahrheit relativ wird.
Doch dieser Verdacht ist nicht zwingend. Aus dem – in der Tat zwingenden – Gedanken, dass die Offenbarung eines Adressaten bedarf, kann man auch etwas anderes folgern: Dass es einen ewigen Adressaten geben muss. Dieser ewige Adressat wäre ein ewiges Gegenüber Gottes, das als Gegenüber von ihm zu unterscheiden ist und doch intern zu seinem eigenen Wesen hinzugehört, also ein ihm innerlicher Adressat der Offenbarung ist. Das aber wäre der Gedanke des „ewigen Sohnes“, der „zweiten Person“ der Trinität. Erst mit ihm kann Gott die eine sich-offenbarende Wahrheit sein, die als Ganze, in ihrer für uns qua Offenbarung zugänglichen Einheit, Geist ist.
Dies bedürfte freilich einer näheren Ausbuchstabierung in einer philosophischen Theologie, die ich hier nicht mehr darstellen kann. Es sollte aber deutlich geworden sein, warum das zunächst religiöse Wort der „Offenbarung“ für die philosophische Wahrheit passend gewählt ist. Denn diese impliziert, konsequent zu Ende gedacht, sogar die philosophische Überzeugung von der Wirklichkeit Gottes – ja sogar eines trinitarischen Gottes. So hat uns der Gedankengang also doch auf die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Religion zurückgeführt.
Ausblick: Ein neues Gespräch zwischen Philosophie und Theologie
Auf dieser Basis aber ist ein neues Gespräch mit der Religion und ihrer Theologie möglich, sinnvoll und geboten (– wie wir es mit unserem hiesigen Gespräch passend beginnen: als Gespräch zwischen einer katholischen Theologin und einem Philosophen). Meine philosophische Auffassung widerspricht dem naturalistischen Mainstream unserer Zeit wie ihrer Philosophie in sehr grundlegender Weise – allerdings auch der Religion und Theologie, sofern diese den eingangs genannten, grundfalschen Gegensatz zwischen Philosophie und Vernunft auf der einen, und Religion und Offenbarung auf der anderen Seite beschwören.
In einem solchen Gespräch sollte aber eines nicht vergessen werden. Ich habe „only“ eine Hypothese gezeigt: Wenn es eine philosophische Wahrheit gibt und diese prinzipiell aller Menschen eingesehene Überzeugung werden kann, dann muss Philosophie Offenbarung sein. Dass es aber philosophische Wahrheit gibt und dass sie aller Menschen Überzeugung werden kann – das ist, eben wenn und weil Philosophie Wahrheit ist, nicht von mir zu zeigen, sondern muss – wenn es wahr ist – selbst offenbar werden. In nicht-hypothetischer Weise vernünftig affirmieren kann die Offenbarung also nur die- oder derjenige, die bzw. der auch von sich behauptet, dass sie ihr bzw. ihm zuteil geworden ist.
Das klingt selbstbewusst – und ist es auch. Aber es ist nicht bemächtigend: Denn gerade dann, wenn dies wahr ist, versteht sich die philosophische Rede davon konsequenterweise not missionarisch, sondern hoffend, ausstrahlend und erwartend. Philosophieren ist meinem Verständnis nach ein Beziehungsgeschehen zu Gott, dessen Erfüllung im gelingenden Vollzug des Philosophierens selbst liegt und nicht bloß in dessen „resultierenden“ Erkenntnissen; und einem Beziehungsgeschehen ist es wesentlich, offen sein zu können – in jedem Fall aber hoffnungs-voll, aus-strahlend und er-wartend.
Philosophische Rede des Menschen muss also wissen und deutlich machen, dass sie nicht die Philosophie selbst ist, sondern die Philosophie nur bezeugt. Philosophie kann nur für sich selbst sprechen. Und ihr letztes Wort ist noch nicht gesprochen: Aber ich bin überzeugt, dass es jederzeit zu jeder und jedem von uns gesprochen werden can, so wir nur ernsthaft über uns selbst nachzudenken bereit sind.