Der Aufstieg des Resilienzbegriffs in einer Zeit der multiplen Krisen
Fast alle sozialwissenschaftlich geprägten Beiträge erklären die große Beliebtheit des Resilienzbegriffs damit, dass er gut zu unserer Zeit passt. Wir berufen uns deswegen so gerne auf Resilienz, weil wir in einer Zeit beschleunigter Veränderungsprozesse und sozialer, ökonomischer und ökologischer Umbrüche leben. Und weil wir nicht wollen, dass wir von diesen Prozessen einfach mitgerissen und von ihnen überrollt werden, suchen wir nach Stärke und Widerstandskraft beziehungsweise nach einer Absorptions- beziehungsweise Anpassungsfähigkeit. Weniger anfällig zu sein, von Schocks und disruptiven Ereignissen nicht vollkommen aus der Bahn geworfen zu werden und anpassungs- und wandlungsfähig zu sein – all das sind Aspekte von Resilienz. Der besondere Charme des Resilienzbegriffs liegt dabei darin, dass auf Krisen und radikalen Wandel nicht mit einem Angst- oder Defizitdiskurs geantwortet, sondern nach den Ressourcen gefragt wird, die ein Individuum oder ein System benötigt, um entweder flexibel auf veränderte Bedingungen reagieren (Response-Fähigkeit) oder sich von nicht nachhaltigen „Pfadabhängigkeiten“ befreien zu können.
Das Bemerkenswerte, aber auch Verwirrende am Begriff Resilienz ist, dass er in ganz unterschiedlichen Disziplinen und Kontexten verwendet wird. In immer mehr wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Feldern ist davon die Rede – von den Material- und Ingenieurwissenschaften, der Ökologie und Klima(folgen)forschung, der Psychologie, über die Risiko- und Katastrophenforschung, die Entwicklungszusammenarbeit bis hin zu armuts-, sicherheits- und kultursoziologischen Forschungen.
Wer und was sich als resilient erweist, wird zudem für unterschiedliche Ebenen untersucht: für Staatenbünde wie die Europäische Union, für Nationen, für Regionen, Institutionen und für den Einzelnen. Bisweilen braucht es ein erhebliches Maß an Phantasie, um in den Anwendungen des „Breitbandbegriffs“ Gemeinsamkeiten zu erkennen. Oft wird der gleiche Begriff verwendet, aber in den verschiedenen Kontexten etwas völlig anderes gemeint. Die Differenzen werden übersehen.
Philosophie, Ethik und Theologie beginnen gerade erst, die Resilienzforschung wahrzunehmen und nach einer eigenen Positionierung zu fragen. Ihre Aufgabe könnte sein, begrifflich-analytisch vorzugehen und den Beitrag des Resilienzbegriffs für die Artikulation von lebensweltlichen Erfahrungen in den Vordergrund zu rücken. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als ein erster Schritt in diese Richtung. Ich gehe dabei davon aus, dass es nicht die Resilienz gibt, sondern nur das, was als Resilienzstrategie und Resilienzressource im jeweiligen soziohistorischen Kontext gedeutet und codiert wird.
Spannungsverhältnisse und paradoxe Zusammenhänge
Um zunächst begriffliches Licht in die oft schwammigen Begriffsbestimmungen zu bringen, stelle ich zunächst vier Spannungsverhältnisse vor, von denen in meinen Augen der Resilienzdiskurs geprägt ist: nämlich von einer Spannung zwischen Unverwundbarkeit und Verletzlichkeit, zwischen Geschlossenheit und Offenheit, zwischen Kontrolle (Handlungsmächtigkeit) und Gelassenheit, zwischen Systemerhaltung (Überleben) und Transformation.
- Spannung zwischen Unverwundbarkeit und Verletzlichkeit: Auf den ersten Blick ist der Gegenbegriff zu Resilienz die Verletzlichkeit beziehungsweise Vulnerabilität. Resilienzstrategien haben daher oft zum Ziel, „Fenster der Verwundbarkeit“ zu schließen. Dies ist auch ein Grund, warum Resilienz in der Sicherheitspolitik zu einem Leitbild geworden ist. Resilienz ist demnach eng verknüpft mit dem Bedürfnis nach Schutz, aber auch mit der Emotion der Angst und der Erfahrung von Verletzlichkeit. Angst vor Gefahren zu haben hat zur Voraussetzung, dass man verletzlich beziehungsweise verwundbar ist. Um nicht verwundet zu werden, schützt man sich. In diesem Sinne ist Resilienz ein basales Grundbedürfnis.
Und doch ist Resilienz nicht einfach das Gegenteil von Verletzlichkeit. Vielleicht ist der Unverwundbare der Resilientere. Resilient zu werden setzt aber Verwundbarkeit voraus. Nur wer verletzlich ist, ist offen für einen Reifungsprozess. Die Pioniere der psychologischen Resilienzforschung, Emmy Werner und Ruth Smith, nennen deshalb resiliente Menschen „vulnerable, but invincible“. Hiermit wollen sie ausdrücken, dass es sich bei Menschen, die sich durch widrige Umstände, Lebenskrisen und einschneidende Veränderungen nicht unterkriegen lassen, nicht einfach um unverwundbare „superkids“ handelt. Nicht die Abschottung vor Gefahren, Risiken und Veränderungen macht resilient. Abschottung führt langfristig gesehen zu stärkerer Verwundbarkeit – so wie Eltern ihren Kindern mehr schaden als nützen, wenn sie sie überfürsorglich beschützen. Das „psychische Immunsystem“ wird vielmehr durch die komplexen Wechselwirkungen von Gefahren, Veränderungen und Regenerationen gestärkt. Resiliente Menschen sind nicht nur Stehaufmännchen, die sich nach Krisen schnell wieder erholen, sie machen auch die Erfahrung, dass sie durch die durchlebten Krisen an persönlicher Kompetenz und Charakterstärke gewinnen.
Diese psychologische Erkenntnis lässt sich auch auf Staat und Gesellschaft übertragen: Gemeinwesen kommen besser mit Gewalt, Katastrophen und Unsicherheit zurecht, wenn sie Sicherheit nicht zum höchsten Gut erklären, wenn sie sozusagen um ihre Verletzlichkeit wissen und darum, dass sie sich nicht unangreifbar machen können.
- Spannung zwischen Geschlossenheit und Offenheit: Resilienzpraktiken, die „Fenster der Verwundbarkeit“ schließen wollen, münden meist in Strategien der Abschottung. Auch dies hat eine anthropologische Dimension: Um uns vor Gefahren zu schützen, suchen wir Unterschlupf in Höhlen, „umfrieden“ Bereiche, ziehen Grenzen, bauen Häuser und Burgen. Und doch gibt es auch hier „paradoxe Zusammenhänge“: Nur wer Problemen und Herausforderungen nicht ausweicht und offen ist für neue Erfahrungen und Erkenntnisse, wird und ist resilient. Wer aber offen ist, ist auch verletzlich. Genau diese Verletzlichkeit ist die Voraussetzung für Reifungsprozesse. Bestätigt werden diese Zusammenhänge durch die psychologische Persönlichkeitsforschung. Offenheit ist eine der fünf grundlegenden Dimensionen („big five“) der menschlichen Persönlichkeit. Wer offen ist, so eine Erkenntnis, ist mehr am Lernen interessiert als an der eigenen Sicherheit. Offene Menschen haben gelernt, dass sich alles im Leben verändern kann, dass diese Veränderungen aber keine Katastrophen sind, auch wenn sie sich kurzfristig so anfühlen, sondern das Potenzial für Wachstum und Entwicklung in sich bergen.
Für soziale Systeme, Kulturen und Lebensformen gilt ein ähnlicher Zusammenhang: Nicht zu stagnieren und auf den Status quo zu beharren, sich auf Neues ein- und soziale Lernprozesse zulassen zu können, ist eine Bedingung für Zukunftsfähigkeit und Resilienz. Wesentliche Einsichten zu den Voraussetzungen gesellschaftlicher Lernprozesse können ex negativo aus der Analyse des Zusammenbruchs von sozialen Systemen entnommen werden. Ein wesentlicher Faktor ist die Unfähigkeit eines Systems, auf Veränderungen zu reagieren. Eine Ursache dafür ist die fehlende Offenheit: „Abgeschlossene“ Kulturen sind nicht lernfähig, und wenn sie nicht lernfähig sind, drohen sie zu stagnieren und nicht selten auch „unterzugehen“.
- Spannung zwischen Kontrolle (Handlungsmächtigkeit) und Gelassenheit: In der Resilienzforschung spielen die Begriffe „mastery“ (Beherrschbarkeit) und „agency“ (Handlungsfähigkeit) eine wichtige Rolle. Damit ist gemeint, dass Menschen umso resilienter sind, je weniger sie sich in der Rolle von Opfern sehen, je handhabbarer sie die Situation wahrnehmen (je beherrschbarer sie also ist) und je mehr Handlungsspielräume sich eröffnen. Resilient ist, wer von seiner Umwelt, von Veränderungen, Krisen und Schocks nicht einfach überrollt wird, also nicht die Kontrolle verliert und die Situation beherrscht. Das Gefühl der Kontrolle verringert den Eindruck, von bedrohlichen Bedingungen verletzt werden zu können. In der psychologischen Literatur wird in diesem Zusammenhang vielfach auf Selbstwirksamkeitserfahrungen verwiesen.
Die Frage von Beherrschung und Kontrolle spielt auch für die Reaktion auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen eine wichtige Rolle. Menschen fürchten sich vor allem davor, Entwicklungen, Machthabern und dergleichen hilflos ausgeliefert zu sein und keine Kontrolle mehr zu haben. Um die Kontrolldimension zu stärken, bedarf es rechtlicher Garantien und sozialer Sicherungs- beziehungsweise Versicherungsmechanismen. Fehlen jene, öffnet sich Fenster der Verwundbarkeit. Sicherungen und Schutzmaßnahmen stärken die Kontrolle. Zugleich gilt es aber auch hier paradoxe Zusammenhänge zu beachten. Zu viel Kontrolle bewirkt nicht selten einen Kontrollverlust. Ein Kontrollwahn, der alle Unsicherheit ausschalten will, der alles im Griff behalten und überwachen möchte, lähmt.
Um der Ungewissheit resilient begegnen zu können, müssen wir unser Bedürfnis nach Beherrschbarkeit mäßigen. Ohnmacht und Angst müssen ausgehalten werden, ansonsten befällt uns eine unbestimmte, lähmende Angst. Handlungsmächtigkeit ist auch darauf angewiesen, dass man seinen Wunsch nach Beherrschbarkeit relativiert. Die Relativierung der Kontrolldimension ist in besonderer Weise relevant für den Umgang mit nicht vorhersehbaren Herausforderungen und Problemen. Für diese ist das angemessene Reaktionsmuster nicht das Streben nach Kontrolle im Sinne einer vollständigen Situationsbeherrschung nach einem vorausgehenden Plan, sondern eine differenzierte Wahrnehmung und die Fähigkeit, die eigenen Handlungsmuster zu überdenken und gegebenenfalls zu wandeln. Bei komplexen Risiken und unübersichtlichen Situationen ist Handeln trotz Nichtwissen gefordert. Dieses sollte einhergehen mit der Bereitschaft, eingeschlagene Wege wieder zu ändern. Daher mündet die Relativierung des Ideals der Kontrolle in ein Resilienzkonzept, in dem Rahmenbedingungen für individuelle und institutionelle Lernprozesse einen zentralen Stellenwert einnehmen.
- Spannung zwischen Systemerhaltung (Überleben) und Transformation: Welche Resilienzdimension auch hervorgehoben wird, im Endeffekt geht es immer um die Funktionserhaltung von Menschen und Systemen. Diese Zielrichtung ist auf den ersten Blick nicht gerade anspruchsvoll, ja Teil der „natürlichen“ Reaktion auf Bedrohungen und Gefahren. Und doch wäre es ein Fehler darüber hinwegzusehen. So kritisiert zum Beispiel der Philosoph Hans Jonas in seiner Überlebensethik der intergenerationellen Verantwortung den „anthropologischen Irrtum der Utopie“ und postuliert eine Revision des Verhältnisses von Furcht, Hoffnung und Verantwortung. In diesem Sinne kann von den auf Funktions- und Selbsterhaltung zielenden Resilienzkonzepten gelernt werden, nicht auf „utopische“ Ziele zu setzen, sondern auf die „wirklichen“ und vorrangigen Probleme zu schauen und sich auf die Aspekte zu konzentrieren, die das Überleben und den Schutz der Menschen sichern.
Der narzisstische und strukturkonservative Fokus auf Selbsterhaltung ist aber nur eine Dimension von Resilienz. Im Kontext systemisch-ökologischer Ansätze wird vielmehr vorgeschlagen, zwischen Persistenz, Adaptation und Transformation zu differenzieren. Bei der Persistenz von Strukturen und Systemen zielen die Maßnahmen auf Gefahrenabwehr und Risikominimierung. Bei der Anpassung liegt der Schwerpunkt auf der Fähigkeit, sich an ein schnell wandelndes Umfeld anzupassen. Dabei kann man passive Anpassung von aktiver, die auch innere Wandlungsprozesse einschließt, unterscheiden.
Der Fokus ist bei der Anpassung – wie auch bei der Persistenz – auf die Selbsterhaltung gerichtet, ohne weitergehende strukturelle Ursachen in den Blick zu nehmen oder einen bestimmten Entwicklungspfad in Frage zu stellen. Letzteres steht bei der Transformation im Mittelpunkt. Diese zielt auf die Fähigkeit, neue Strukturen und Systeme zu schaffen, weil die vorhandenen nicht mehr tragfähig sind. Es geht hier um den Übergang von einem bestehenden zu einem neuen beziehungsweise nachhaltigeren Zustand. Eine Voraussetzung dafür ist ein sozio-kultureller Wandel, der mit einem Umdenken in den Leitwerten und -zielen einhergeht, ein Wandel, wie ihn zum Beispiel das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Umweltfragen unter dem Label „Große Transformation“ anmahnt.
Die in der systemischen Resilienzforschung diskutierte Differenzierung zwischen Persistenz, Anpassung und Transformation findet sich auch in psychologischen Resilienzkonzepten. Dort wird Resilienz zum einen als Stressresistenz verstanden. Hier ist die Perspektive auf die Robustheit gerichtet. Zweitens kann Resilienz schnelle Regeneration bedeuten. Der Anpassungsprozess beruht auf der selbstregulativen Fähigkeit, nach einer Belastung in einen stabilen Zustand zurückzukehren (bounce back). Ein drittes Konzept konzentriert sich auf die Fähigkeit zur Rekonfiguration. Personen sind nach einem traumatischen Ereignis in der Lage, Handlungsweisen oder zentrale Kognitionen zu verändern. Dies wird in der Fachliteratur als „Posttraumatische Reifung“ beschrieben. Reifung beziehungsweise Wachstum deshalb, weil traumatische Erfahrungen zu einem Motor der Transformation werden können.
Vielleicht liegt die für den Resilienzbegriff eigentümliche Spannung zwischen Funktionserhaltung und Transformation im Begriff der Veränderung selbst, insofern jede Beschreibung von Veränderung etwas, das mit sich identisch bleibt, voraussetzt. Aber oft fehlen klare Kriterien, um zu beurteilen, ob etwas, das sich transformiert, noch „es selbst“ oder „etwas anderes“ ist. Auch die Unterscheidung zwischen dem, was noch Anpassung ist, und dem, was schon als Transformation bezeichnet werden kann, fällt nicht immer leicht. Man kommt also aus dem paradoxen Verhältnis von Wandel und Bewahrung nicht hinaus. Im Grunde liegt dem Streit um konservative oder progressive Deutungen des Resilienzkonzeptes ein philosophisch nicht auflösbares Spannungsverhältnis zugrunde. Irgendetwas bleibt konstant, anderes muss sich verändern. Bisweilen kann gerade die Fähigkeit, sich zu wandeln, das besonders Erhaltenswerte sein. Nur wenn sich Teile und einzelne Eigenschaften des Systems ändern, bleibt dieses als Ganzes erhalten.
Einfache und reflexive Resilienz
Die von mir dargestellten Spannungsverhältnisse und paradoxen Zusammenhänge, die den Resilienzdiskurs begleiten, können mit einer Differenzierung plausibilisiert werden, die der Soziologe Wolfgang Bonß eingeführt hat: die Differenzierung zwischen einer einfachen und reflexiven Resilienz. Bei der einfachen Resilienz steht die Stärkung der Schutzfaktoren im Mittelpunkt, also der Faktoren, die dazu beitragen, vor Verwundbarkeit zu schützen. „Einfach“ ist dieses Verständnis von Resilienz, weil das Schutzbedürfnis quasi angeboren ist. Auf dieser Ebene ist Resilienz eine Reaktion auf das Gefühl der Angst. So wie die Angst ein „urtümliches“ Gefühl ist, das auf Gefahren und mögliche Verletzungen hinweist, so ist das Bedürfnis nach Schutz eine elementare Form der Weltbeziehung, um Risiken zu minimieren und Gefahren abzuwehren.
Reflexiv(er) werden Resilienzstrategien, wenn sie vom einfachen Reagieren zum aktiven Handeln und Lernen übergehen und Störungen oder Wandlungsprozesse nicht einfach nur abwehren. Zu der für Resilienz so wichtigen Response-Fähigkeit zählt auch die Kompetenz, auf ein sich ständig änderndes Umfeld und auf Probleme zweiter Ordnung, also auf zuvor nicht bekannte Probleme, antworten zu können. Die Antwort beschränkt sich dann nicht (nur) auf eine kurzfristige Gefahrenabwehr oder auf ein „bounce back“, sondern auf das Lernen, mit den veränderten Umständen langfristig leben zu können. Dies ist dann eine Response, in dem das Antworten eine dialogische Form annimmt. Zum einen werden die Herausforderungen in ihren Tiefendimensionen und Wechselwirkungen in den Blick genommen, zum anderen werden Konsequenzen für das eigene System gezogen.
Theologischer Ausblick
Die bisherigen Überlegungen zeigten, dass Resilienz zum einen ein gehaltvoller Begriff, zum anderen aber in ethischer Hinsicht ambivalent oder zumindest klärungsbedürftig ist. Meine weiterführende These ist nun, dass die rekonstruierten Spannungsverhältnisse zwischen Unverwundbarkeit und Verletzlichkeit, zwischen Geschlossenheit und Offenheit, zwischen Kontrolle (Handlungsmächtigkeit) und Gelassenheit sowie zwischen Systemerhaltung (Überleben) und Transformation nicht nur begriffliche Differenzierungen sind, um den Resilienzdiskurs zu strukturieren, sondern auf Grundhaltungen verweisen. Anders ausgedrückt: Je nach Interesse oder Grundhaltung wird in unterschiedlicher Perspektive und Form auf Herausforderungen, Krisen und Störungen reagiert. Dies ist auch ein Grund für die unterschiedlichen Resilienzdimensionen.
Genau an diesem Punkt lohnt es sich, auf die Rolle von Religion und Glaube zu sprechen zu kommen. Ich bin dabei davon überzeugt, dass die Bedeutung religiöser Traditionen und theologischer Reflexionen nicht primär in unmittelbaren Problemlösungen, sondern auf einer Metaebene liegt: Sie helfen, die mentalen Infrastrukturen, grundlegenden Einstellungen und Sinnmuster zu bestimmen, derer es bedarf, um mit der richtigen Perspektive nach Lösungen zu suchen. Ich werde dies im Folgenden am Beispiel der drei klassischen theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe darzustellen versuchen.
- Machtvoller Glaube: Seit den Anfängen der Resilienzforschung findet die unterstützende Auswirkung des religiösen Glaubens Beachtung. So hebt Emmy Werner in ihrer Pionierstudie zur Resilienz bei Kindern auf der hawaiitischen Insel Kauai die positive Wirkung des Glaubens und der Mitgliedschaft in einer Gemeinde hervor. Auch andere empirische Untersuchungen bestätigen, dass ein aktiv gelebter Glaube eine Ressource für Resilienz ist.
Fragt man, worin genau die resilienzfördernde Kraft des Glaubens besteht, dann scheint das Phänomen des Vertrauens von zentraler Bedeutung zu sein. Dies gilt auch für die biblischen Zeugnisse: Wer auf Gott vertraut und in diesem Sinne an ihn glaubt, wird nicht zu Schaden kommen. Gottvertrauen wird als Schlüssel für Krisenbewältigung verstanden und als Kraft erfahren, Schweres durchzustehen. Auch ein Blick in die neuere Geschichte lehrt uns, dass es viele Wege und Weisen gibt, unter widrigsten Umständen Kraft aus dem Glauben zu schöpfen. Beispiele hierfür sind Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Tiziano Terzani, Judith Levine, Pedro Arrupe.
Wenn der Glaube an Gott im Sinne von Vertrauen verstanden wird, dann heißt dies auch: Der Glaube an Gott ist ein Beziehungsgeschehen. Man kann nur vertrauen, wenn man sich für den Anderen öffnet und „angesichts des Anderen“ zu denken, urteilen und handeln lernt. Dies ist auch der Grund, warum der Glaube auf die Liebe zielt. Wer gelernt hat zu vertrauen, schottet sich nicht ab.
Wer an Gott glaubt, lernt zudem die Dinge der Welt zu relativieren. Dadurch kann eine vertrauensvolle Einbettung des eigenen Lebens in einen größeren Horizont erfolgen. Damit verknüpft ist die für gläubige Menschen charakteristische Erfahrung, seine Identität nicht eigener Leistung zu verdanken, sondern sie als Geschenk Gottes wahrzunehmen.
Die mit dem Glauben verbundene Relativierung des eigenen Selbst und der eigenen Probleme impliziert eine gewisse Gelassenheit. Das Paradoxe dabei ist: Eine im Glauben gründende Gelassenheit führt nicht in eine passive Haltung, sondern ermöglicht im Gegenteil eine Handlungsbereitschaft, die sich nicht in kurzatmigem Aktivismus erschöpft, sondern im Vertrauen auf eine von Gott verbürgte Sinnhaftigkeit Durststrecken scheinbarer Erfolglosigkeit zu überwinden hilft. Zudem bewahrt Gelassenheit vor einem Kontrollwahn. Wer alles unter Kontrolle haben möchte, kann etwas nicht laufen lassen und kann nicht loslassen. Daher ist nicht die Gelassenheit, sondern die fehlende Gelassenheit der Grund für eine blockierte Handlungsmächtigkeit. Ein Kontrollwahn, der alle Unsicherheit ausschalten will, der alles im Griff behalten und überwachen möchte, lähmt. Das Vertrauen und Gelassenheit bewahren davor. Handlungsmächtigkeit ist auf Vertrauen angewiesen. Nur wer der Tragfähigkeit des Bodens vertraut, kann auch aufbrechen und gehen.
- Durchkreuzte Hoffnung: Das in die Zukunft gerichtete Vertrauen nennen wir Hoffnung. So wie der Glaube die Basisstation ist, so die Hoffnung der Bewegungsvektor. Die vom Glauben grundgelegte Daseinsakzeptanz wird von der Hoffnung geweitet. So wie der Glaube in die Tiefe geht, so die Hoffnung in die Weite. Ein resilienzfördernder Faktor ist die Hoffnung, weil sie zu einer Zuversicht motiviert, die sich nicht vorschnell von vermeintlich unveränderlichen Tatsachen lähmen lässt. Wer hoffen kann, fühlt sich Herausforderungen und Umbrüchen nicht ohnmächtig ausgeliefert und wird nicht von Ängsten überwältigt. Wer Hoffnung hat, sieht Handlungsperspektiven und Räume für Selbstwirksamkeit.
Hoffnung sollte aber nicht mit blindem Optimismus verwechselt werden. So ist in der christlichen Tradition die Hoffnung eine Gewissheit, die durch die Erfahrung des Kreuzes, des Leides und Scheiterns hindurchgeht. Theologisch-ethisch ist dabei entscheidend, dass Leid und Scheitern nicht verklärt werden, sondern dass eine „gereifte“ und „durchkreuzte“ Hoffnung zum Ausdruck kommt. Diese weiß um die Gefährdungen des Menschlichen und vertraut zugleich auf die Möglichkeit neuer Anfänge, die Gott, der auch am Kreuz noch Gott geblieben ist und so über Scheitern, Leid und Katastrophen hinausweist, zu schenken vermag. Die Würzburger Synode hat diesen Zusammenhang im Schlussdokument „Unsere Hoffnung“ wunderbar zum Ausdruck gebracht: „Die Hoffnung auf die Auferweckung der Toten, der Glaube an die Durchbrechung der Schranke des Todes macht uns frei zu einem Leben gegen die reine Selbstbehauptung, deren Wahrheit der Tod ist. Diese Hoffnung stiftet uns dazu an, für andere da zu sein, das Leben anderer durch solidarisches und stellvertretendes Leiden zu verwandeln. Darin machen wir unsere Hoffnung anschaulich und lebendig, darin erfahren wir uns und teilen uns mit als österliche Menschen.“
- Verwandelnde Liebe: Das bereits angesprochene Wechselverhältnis von Verwundbarkeit und Reifung basiert darauf, dass die Grenzen des eigenen Ich porös und durchlässig werden – durchlässig für den Anderen, für sein Leid, seine Hoffnungen und seine Sorgen. Wer verwundbar ist, lässt sich anrühren von der Not des anderen. In der christlichen Tradition wird diese Tugend Barmherzigkeit genannt. Wer barmherzig ist, hat ein offenes Herz für die Nöte und Sorgen des Anderen. Papst Franziskus spricht von einer „Umkehr des Herzens“, von einer Umkehr, die dazu befähigt, sich den anderen mit echter Solidarität zu öffnen. Dem offenen Herzen stellt er die Gleichgültigkeit gegenüber. Die „Haltung der Gleichgültigkeit“ ist kennzeichnend für den, „der sein Herz verschließt, um die anderen nicht in Betracht zu ziehen, der die Augen schließt, um nicht zu sehen, was ihn umgibt, oder ausweicht, um nicht von den Problemen anderer berührt zu werden“. Gleichgültigkeit, so Papst Franziskus, verursacht „vor allem Verschlossenheit und Teilnahmslosigkeit“.
Auch die Liebe steht der Gleichgültigkeit diametral gegenüber. Durch die Liebe büßen Dinge und Menschen ihre Gleichgültigkeit ein. Wer liebt, der sorgt und kümmert sich um etwas, wer liebt, dem liegt etwas am Herzen. Dieses sich Kümmern ist verschränkt mit einer Entgrenzung des Ich. Wer liebt, öffnet sich, wer liebt, kreist nicht mehr nur um sich selbst, wer liebt weitet die Grenzen des Selbst und geht eine Beziehung mit dem Anderen ein. Eine Liebesbeziehung lässt einen nicht kalt, durch eine Liebesbeziehung werde ich selbst verwandelt.
Dies ist meiner Ansicht nach auch der springende Punkt, warum und in welcher Hinsicht die Liebe ein resilienzfördernder Faktor ist. Sie geht über das reaktive Streben nach Sicherheit, Kontrolle und Schutz vor Verwundungen hinaus und drängt auf eine Befreiung von Angst. Sie kann dazu beitragen, sich aus blockierten Weltbeziehungen zu befreien. Während Ängste die menschliche Fähigkeit, sich die Welt „anzuverwandeln“ und in wechselseitige Beziehungen zu treten, hemmen, drängt Liebe dazu, offen auf andere zuzugehen. Liebe konstituiert ein dialogisches, von Responsivität und Resonanz geprägtes Weltverhältnis. Insofern die Liebe aus der Angst um sich selbst befreit, macht sie offen für Andere und Anderes, sie erhöht die Neugierde und weitet die Perspektiven. Auf Letzteres verweisen auch der Glaube und die Hoffnung. Beide Tugenden bedürfen als weiterführende Kraft der Liebe. Die Liebe gibt dem Glauben und der Hoffnung eine Richtung, eine auf den Nächsten ausgerichtete Zuwendung, die befreit und verwandelt.
Diese wenigen Anmerkung zu den theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe zeigen bereits: Religiöse Einstellungen und Praktiken, die von narzisstischer Angst befreien, verweisen auf ein Resilienzverständnis, das mehr verspricht als den Schutz der eigenen Identität. Konstitutiv dafür ist ein relational-dialogisches Weltverhältnis. Herausforderungen und Umbrüche werden in dieser Perspektive nicht nur abgewehrt, sondern angenommen, „anverwandelt“ und als unverzichtbares Moment für Lernprozesse angesehen.
Zudem kann die Theologie in Antithese zu einer auf funktionale Ertüchtigung und Selbstoptimierung ausgerichteten Resilienzpsychologie sich für ein „Lob der Verletzlichkeit“ (Ariadne von Schirach) aussprechen und auf diesem Weg ein analytisches Handwerkszeug liefern, um die auf den ersten Blick paradoxen Zusammenhänge zwischen Wunden, Verwundbarkeiten und Resilienz verstehbar zu machen.