Eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.“ Diese Worte hält der Philosoph und Mitbegründer der Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno, in einem von mehreren Rundfunkgesprächen in den 1960igern fest. Nachzulesen ist dieses und die folgenden Zitate in dem kleinen und empfehlenswerten Band Erziehung zur Mündigkeit.
Introduction
Von Adorno können wir lernen, dass Demokratie nicht hinreichend mit ihren demokratischen Institutionen bestimmt ist, sie weder hergestellt, noch uns ‚sicher‘ ist. Vielmehr verweist Demokratie auf den demos. Sich demokratisch zu zeigen bedeutet im Ausgang von Adorno, formal gesprochen, ein kritisches Selbst- und Gesellschaftsverhältnis einnehmen zu können. Der normative Anspruch an dieses Verhältnis besteht in einer kritischen, reflektierenden und nicht-identifizierenden Auseinandersetzung mit sich und dem Gegenüber. Sich auf diese Weise zu zeigen, heißt letztlich nichts anderes, als sich in diesem Moment als mündig zu erweisen. Doch weil Demokratie noch lange nicht (gänzlich) verwirklicht ist, verweist Adornos Auffassung auf einen umfassenden Bildungsauftrag, nämlich Mündigkeit überall zu fördern.
Die Aktualität und Dringlichkeit der Förderung von Mündigkeit wird meiner Meinung nach unterschätzt. Ein Grund hierfür ist, dass Adorno und viele andere Philosoph*innen sowie Sozialwissenschaftler*innen Mündigkeit nicht konsequent als einen Verhältnisbegriff fassen. Meine These lautet, dass Mündigkeit mit Adorno gegen Adorno immer auch bedeutet, sich in ein bestimmtes Verhältnis zu begeben, nämlich in ein widerständiges, und dass eine Bildung zur Mündigkeit dann vor allem auf die Förderung der Einnahme eines solchen Verhältnisses zielen sollte. Jenes zu fördernde Verhältnis besteht u. a. in einem bestimmten Denken, nämlich in Form eines widerständigen Denkens.
Im Folgenden werde ich Adornos Gesellschaftskritik skizzieren und darlegen, inwiefern Demokratie förderungsbedürftig ist, um anschließend Adornos Mündigkeitsverständnis zu skizzieren. Drittens möchte ich auf die internen Widersprüche in Adornos Mündigkeitsauffassung eingehen, um darauf aufbauend ein erweitertes Konzept von Mündigkeit als widerständiges Denken vorzustellen. Abschließend wird auf die Dringlichkeit einer Förderung von Mündigkeit angesichts der massiven Umweltzerstörung eingegangen.
Adornos Gesellschaftskritik
„Dass Ausschwitz nicht nochmal sei“ ist normativer Orientierungspunkt in Adornos Philosophie. Doch da „die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten“, ist Demokratie in der Nachkriegsgesellschaft überall überhaupt erst zu fördern. Ganz allgemein gesprochen, verfolgt Adorno einen Zweischritt, indem er fragt, inwieweit sich gesellschaftlich gemachte Strukturen totalisieren, das Subjekt dadurch unterdrücken und eine Emanzipation verunmöglichen. Ausgehend von der düsteren Diagnose einer Gesellschaft, die sich selbst zunehmend einer zweckrationalen Logik unterwirft, fragt Adorno nach möglichen Potenzialen für eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern die Möglichkeit gibt, sich ungezwungener entfalten und erfahren zu können. Aber worin begründet sich Adornos Diagnose konkret? Und kann diese auch noch für heute gelten? Warum ist Mündigkeit förderungsbedürftig, obwohl Deutschland als eine institutionelle Demokratie verfasst ist?
Wie Kant sieht Adorno das Ziel der Philosophie in einer Befreiung der Menschen aus ihrer Unmündigkeit. Aber während Kant seine Hoffnung in eine Aufklärung durch die Vernunft legt, vermutet Adorno gerade in der kantisch gedachten Aufklärung eine „Selbstzerstörung der Aufklärung“, weil mit der ausschließlichen Einnahme der individuellen Perspektive die gesellschaftlichen Bedingungen der Aufklärung unterschlagen würden. In Folge dessen werden die Forderungen nach dem vernünftigen Subjekt totalisiert oder allgemeiner gesprochen: Die jeder Aufklärung innewohnende Dialektik wird nicht kritisch eingeholt. So legen Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung dar, dass sich der Mensch im Laufe der Geschichte immer mehr als ein vernünftiges, autonomes und selbstgesetzgebendes Subjekt verstehe.
Eng mit diesem Selbstverständnis hänge zudem die Überzeugung zusammen, dass begründetes und objektives Wissen nur durch eine Abspaltung zur Umwelt stattfinden könne. Der Grund hierfür ist, dass das Subjekt meint, nur durch diese identifizierende Entgegensetzung einen objektiven, einen ‚reinen‘ Blick auf das Gegenüber zu erhalten, um es abschließend betrachten und einordnen zu können. In dem Moment aber, in dem der Mensch sich dem Objekt gegenüberstellt und es eben als ‚dieses‘ oder ‚jenes‘ Objekt identifiziert, macht er das Gegenüber auch zum Objekt seiner Erkenntnis, so Adorno.
Doch das nicht mehr selbstkritisch eingeholte, verdinglichende und identifizierende Vorgehen führt laut Adorno nicht nur zu einer unkritischen Haltung gegenüber der eigenen gesellschaftlichen Verwobenheit, einer Herrschaft über Andere oder über die Natur, sondern auch zu einer Selbstverdinglichung, die letztlich Zeugnis von Unmündigkeit ist. Konkret drückt sich dies in einer Entfremdung der Menschen aus. Statt in die Erfahrung mit dem Gegenüber zu gehen, würden sich die Menschen über die Identifikation und Bewertung über die Objektwelt identifizieren, um sich auf diese Weise als vermeintlich souverän und autonom zu erachten. Zugleich spiegelt sich jene sozialpsychologisch analysierte Entfremdung in entscheidender Weise auf gesellschaftlicher Ebene in Form einer „(ökonomischen) Organisation“ wider. Es zeichnet sich eine zweckrationale Tendenz der zunehmenden Bürokratisierung, Technokratisierung und Kulturindustrie ab, die die heteronom und sich selbst totalisierende Einrichtung oder Verwaltung der Welt verstärkt.
Entgegen dem Versprechen der Aufklärung wird auf diese Weise nicht Mündigkeit, sondern eine Art ‚Scheinmündigkeit‘ etabliert. Eine moderne Massengesellschaft entsteht, die sich über die Herrschaft der Objektwelt identifiziert und alles Begegnende unterschiedslos zu einer instrumentell-objektivierbaren Ware macht. Dieses Strukturprinzip, das die Menschen immer mehr zur Anpassung zwingt und somit ihre einzigartige Individualität übergeht, führt zugleich zu einer Atomisierung der Individuen. Adorno ist sich sicher, dass diese gesellschaftliche Entwicklung u. a. in den totalitären Nationalsozialismus geführt hat, dessen objektive gesellschaftliche Voraussetzungen teilweise fortbestehen.
Die von Adorno gezeichnete Entwicklung kann auch heute an vielen konkreten gesellschaftlichen Phänomenen abgelesen werden. Angefangen von dem immer noch mehr zunehmendem Leistungsdruck an Schulen oder in der Arbeitswelt, aber auch darin, wie wir Freizeit verstehen, bis hin zur fortschreitenden Umweltzerstörung, kann ein verdinglichender und zweckrationaler Zugang zum Selbst, wie zur Gesellschaft bzw. Umwelt abgelesen werden.
Beispielsweise wird an Regelschulen zwar das selbständige und kritische Denken zum theoretischen und vorgeblichen Leitmotiv erhoben, aber in der alltäglichen Praxis gibt es kaum Raum hierfür.
Dies wird deutlich, wenn man sich fragt, was zur leitenden Norm erhoben wird und was davon umgesetzt wird. So sollen die Kinder z. B. laut der Obersten Bildungsziele in Bayern zum selbständigen Nachdenken über existenzielle wie politische Fragen in der Auseinandersetzung mit anderen erzogen werden. Doch die Alltagsschulpraxis bietet kaum Zeit und Raum. An Schulen werden fest vorgegebene Lerninhalte vermittelt, um die daraus resultierende Leistung der Schüler*innen zu bewerten. Die Bewertung erfolgt mit der unterschiedslosen Anwendung des rein quantitativen Maßes der Notenvergabe, das sich der einzigartigen Individualität der Inhalte und Schüler*innen entzieht. Aber um ein kreatives, bezogenes und politisches Denken zu fördern, müssen angstfreie, offene sowie erfahrungsbezogene Räume an Schulen geschaffen werden, in denen auf Begegnung statt auf Bewertung gesetzt wird.
Auch kann das von verschiedenen Wissenschaftsler*innen ausgerufene Zeitalter des Anthropozäns als ein Ausdruck der skizzierten Entwicklung interpretiert werden. Das Anthropozän (von anthropos für Mensch und kainos für neu) stellt einen neuen geologischen Zeitabschnitt dar, der auf das Holozän folgt und unsere Gegenwart umfasst. Die wohlhabenden Gesellschaften gelten als größte Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde. Mittels vielfältiger technischer Anwendungen wurde er zur planetarischen Kraft, deren radikale Veränderungswirkung auf das System Erde mit der letzten Eiszeit vergleichbar ist. Beispiele für den Einfluss des Menschen auf die Umwelt sind u. a. die Erschaffung neuer Stoffe, die Ausbreitung von Krankheiten, das Artensterben, die Umgestaltung von Landflächen oder der Klimawandel.
Im Ausgang von Adorno kann der menschengemachte Klimawandel auch als Ausdruck der zweckrationalen Haltung des Menschen gegenüber der Umwelt gedeutet werden. Die Natur sowie die Umwelt (der oftmals weniger privilegierten Menschen) wird als Reservat und Ressource für die vielfältigen (vermeintlichen) Bedürfnisse der zumeist wohlhabenderen Menschen erachtet. Es werden fossile Energieträger unter Inkaufnahme massiver Umweltschäden abgebaut, um den hohen Güter- und Energieverbrauch der Industrienationen zu decken und Kulturlandschaften werden geschaffen, um Freizeitaktivitäten und Erholung zu ermöglichen.
Bar aller Unterschiede können die Beispiele als exemplarisch betrachtet werden. Sie zeugen von einem Selbstverhältnis, das (vermeintlich) über die Anderen, das Andere bzw. sich selbst herrschen will. Das Subjekt begreift sich als eines, das autonom-autark souverän agiert und agieren sollte, anstatt sich darin auch zu hinterfragen und die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber oder der Umwelt zu suchen.
Adornos Mündigkeitsverständnis
Ganz im Zeichen von Kants Aufklärungsansatz steht Adornos Mündigkeitsverständnis, insofern er festhält, dass eine Erziehung zur Mündigkeit eine zur Autonomie bedeutet. Mittels kritischer Reflexion entfaltet der Mensch sukzessive Autonomie, die Widerspruch und Widerstand ermöglicht. Mündigkeit ist demnach „dynamische[r] Kategorie“, weil sie sich prozesshaft entwickelt. Jene individuelle Entwicklung ist die Voraussetzung für eine verwirklichte Demokratie: „Die einzige wirkliche Konkretisierung der Mündigkeit besteht darin, daß die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, daß die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.“
Widerstand bedeutet aber mehr als handelnder Widerstand, wie etwa demonstrierende Personen. Widerstand beginnt bereits mit der Differenzierung von Erkenntnis und Konvention und der Entscheidung für Ersteres, wie Adorno in dem Aufsatz Kritik festhält: „Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet […]. Das erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen […]. Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt.“
Ein Subjekt erweist sich als mündig, wenn es selbständig und differenziert denkt. Voraussetzung hierfür ist, dass sich das Subjekt zu sich und zu Anderen bzw. Anderem ins kritische Verhältnis setzen kann. Kritik kann nur geübt werden, wenn differenziert wird, wie etwa zwischen Sein und Sollen.
Ein Beispiel ist die obligatorische Notenvergabe von der es oft heißt, dass ohne sie das Schulsystem nicht ‚funktionieren‘ könne. Doch daraus lässt sich nicht schließen, dass ein anderes Schulsystem nicht denkbar und umsetzbar wäre.
Ein anderes Beispiel macht die Corona-Pandemie deutlich: Vor der Pandemie erschien es einigen (privilegierteren) Berufsgruppen notwendig, umweltschädigende Reisen mit dem Flugzeug zu unternehmen, um ihre Arbeitskontakte zu pflegen. Jetzt, mitten in der Pandemie, zeigt sich, dass diese vermeintliche Notwendigkeit keine ist: Viele Reisen lassen sich gut durch Online-Meetings ersetzen.
Es gilt, solche Funktionsparadigmen oder vermeintlich natürliche und normale Gegebenheiten, Normen und Regeln zu hinterfragen. Kritik beruht auf Differenzierung, und Differenzierung bedeutet auch Verhältniswägung. Dies ist notwendige Voraussetzung für Kritik oder handelnden Widerstand. Diese Überlegungen lassen den Schluss zu, dass Adorno Widerstand notwendigerweise nicht nur als Widerstandshandlung begreift. Vielmehr versteht er unter Widerstand bereits den kognitiven Akt der Kritik. Es geht mir darum, dieses Element der Kritikauffassung hervorzuheben und weiterzudenken.
Mündigkeit interpretiert als widerständiges Denken
Das Denken kann insofern als widerständig bezeichnet werden, als es sich erstens von konventionellen, hegemonialen, vorurteilsbehafteten und d. h. wesentlich allgemeinen Aussagen (von Personen oder Institutionen) absetzt – worin zugleich der normative Anspruch besteht. Zweitens ist der Mündigkeitsvollzug selbst ein ‚wider-ständiger‘: Er beschreibt ein relationales Geschehen, das sich dadurch auszeichnet, dass es sich mit dem Gegenüber auseinandersetzt, sich eben ‚wider’ gegenüber etwas setzt. Kognitiven Widerstand als Ausdruck von Mündigkeit, näher als widerständiges Denken zu fassen, erscheint mir konstruktiv für den derzeitigen philosophischen wie öffentlichen Widerstandsdiskurs. Denn auffällig ist, dass Widerstand zumeist als Aufbegehren gedeutet wird und widerständiges Denken zumeist einfach mit Widerstand in Form eines Handelns gleichgesetzt wird.
Doch das so verstandene Mündigkeitskonzept von Adorno, interpretiert als ein widerständiges Denken, zeigt, dass Widerstand nicht mit der Handlung in Bezug auf ein Außen, sondern bereits mit der inneren gedanklichen Auseinandersetzung, eben einer kritischen Verhältniswägung und -setzung beginnt. Das widerständig denkende Subjekt richtet sich nicht nur gegen ein Außen, sondern auch gegen die eigene innere Vereinnahmung. Der Prozess der Mündigkeit oder demokratischen Bewusstmachung wird somit als der Vorgang gedeutet, sich selbst als ein politisches Subjekt zu begreifen. Das Politische besteht in dem jeweils situativen Ausdruck von Mündigkeit: in einer gedanklichen oder handelnden – aber immer in einer widerständigen – Auseinandersetzung des Subjekts mit den gesellschaftlichen Entwicklungen.
Doch Adorno wendet seine eigene These vom gesellschaftlich bedingten Subjekt und der einhergehenden relationalen Verfassung des Subjekts nicht konsequent an und verfällt immer wieder der kantischen Annahme, der Mensch könne sich in einem autonomen Akt selbst bestimmen und aufklären. In ähnlicher Weise spiegelt sich diese Annahme nach wie vor im heutigen sozialphilosophischen Diskurs sowie in unserer Alltagsauffassung wider, wenn die Emanzipation der Menschen mit einer Überwindung von oder Befreiung aus sozialen Fehlentwicklungen und Pathologien gleichgesetzt wird.
Mit dem Sprechen von einer Befreiung oder Überwindung wird angedeutet, dass das Subjekt sich autonom und selbstbestimmt aus den gesellschaftlichen Verhältnissen befreien könne. Mehr noch, indem die Befreiung von etwas angezielt wird, wird nahelegt, dass das Subjekt und die Gesellschaft sich als quasi ‚an-sich-seiende‘ Instanzen gegenüberstehen.
Jedoch können wir keine absolute, objektive Metaebene einnehmen, um von dort „unsere“ Welt zu betrachten und zu bewerten, wie Adorno an anderer Stelle immer wieder betont. Denn wir sind immer schon Teil dieser Welt. Das Ziel einer so verstandenen Philosophie besteht nicht in der Überwindung der Verhältnisse, sondern in der Anerkennung dieser Bedingtheit durch eine Bewusstmachung derselben. Dieser Prozess ist bereits Ausdruck eines widerständigen Denkens und kann in den handelnden Widerstand führen. Nur durch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Bedingtheit kann sich der Mensch die eigene Machtlosigkeit angesichts „der überwältigenden Kraft des Bestehenden“ aneignen, um die Möglichkeit zum verändernden Denken und Handeln zu erhalten.
Outlook
Aber inwiefern bieten diese Überlegungen im Ausgang von Adorno konkrete Anknüpfungspunkte, um auf aktuelle gesellschaftliche Probleme zu reagieren? Wie bereits angedeutet, können Adornos Überlegungen herangezogen werden um nachzuvollziehen, wie es dazu kommen konnte, dass der Mensch zu der planetarischen Kraft geworden ist. Nehmen wir Adornos Verständnis von Mündigkeit als kritisch-widerständiges Denken ernst, so gilt es zum Beispiel, den Diskurs rund um die Ausrufung des Zeitalters des Anthropozäns und den menschengemachten Klimawandel näher zu betrachten. Es gilt innezuhalten und zu ‚re-flektieren‘ – und zwar nicht nur über das, was uns an expliziten Inhalten präsentiert wird, sondern auch über das, was an dem Konzept unausgesprochen bleibt oder implizit mitschwingt: D.h. kritisch zu hinterfragen, was vermeintlich ist.
So ist es interessant, dass sich das souveräne Selbstverständnis und die instrumentell-aneignende Haltung paradigmatisch auch darin zeigt, wie versucht wird, den Klimawandel einzugrenzen. Das Sprechen vom Anthropozän trägt nicht nur den Hinweis auf die bisherigen Umweltveränderung durch den Menschen in sich, sondern auch die Hoffnung, dass der Mensch die Umwelt so umgestalten kann, auf dass sie an den Klimawandel bestmöglich angepasst werde. Das Begriffskonzept Anthropozän wird nämlich als Problemdiagnose mit umgekehrtem Vorzeichen als Problemlösung präsentiert.
Die Anthropozäniker*innen benennen ein neues Zeitalter aufgrund der massiven Umwelteingriffe des Menschen. In den Mitteln dieser Umwelteingriffe, also in dem Wissen und der Technik, sehen die Forscher*innen zugleich eine Möglichkeit, um die Menschheit vor den negativen Folgen ihres eigenen Tuns zu schützen. Hier zeigt sich noch eine dritte Perspektive auf das Anthropozän an: In dem Gestus und der angewendeten Benennung des neuen erdgeschichtlichen Zeitalters wird zugleich erneut das von Adorno kritisierte Selbstverständnis des Menschen als ein souveränes Subjekt, das über der Welt stehen kann und sich zugleich zum Zentrum der Erkenntnis macht, offenbar: Der Mensch benennt unser jetziges Zeitalter nach sich selbst. Wichtig an dieser Stelle ist noch zu erwähnen, dass das Begriffskonzept wie das damit bezeichnete und einhergehende Selbstverständnis die Perspektive von weniger privilegierten und ausgebeuteten Menschen, wie aus dem globalen Süden, kaum oder gar nicht berücksichtigt.
Angesichts dieser Überlegungen stellt sich die Frage, ob das Konzept des Anthropozäns wirklich ein emanzipierendes und kritisches Potenzial impliziert. Trägt das Konzept ein aktivierendes, aber vor allem ein kritisches Moment in sich? Oder verweist das viele Sprechen von der „großen Selbsttransformation der Gesellschaft“ mittels „vernünftig angewendeter Technik“ nicht wieder selbst auf eine unkritische und – ich polemisiere freilich ein wenig – technik-sakralisierende Gesellschaft, die (immer noch) versucht, sich selbst und ihre Umwelt in den Griff zu bekommen?
Ich bin unschlüssig. Fest steht aber, dass Fragen, die unser eigenes gesellschaftliches Selbstverständnis betreffen, viel häufiger und offen gestellt werden sollten.
An dieser Stelle komme ich nochmals auf die eingangs gestellte Frage zurück: Inwieweit muss nicht überall erst Mündigkeit als kritisch-widerständige Reflexionspraxis, als getätigter Widerstand und Widerspruch gefördert werden? Angesichts der drängenden gesellschaftlichen Probleme ist es dringend an der Zeit, die Förderung von Mündigkeit als einen umfassenden Bildungsauftrag wahrzunehmen und Menschen dazu zu ermutigen, sich selbst und ihr Verhältnis zu Anderen und Anderem zu hinterfragen und zu wägen. Dies impliziert zugleich die normative Forderung, sich nicht-identifizierend, sondern offen fragend mit dem Gegenüber als ein Gegenüber auseinander-zu-setzen, um sich in der Folge dazu zu verhalten. Diese Form der interessierten Auseinandersetzung braucht Mut.
Zugleich zeigt sich hierin vielleicht die einzige tatsächliche sowie moralisch wünschenswerte Form von autonomer Subjektivität; einer, die sich kritisch zu ihrer eigenen Stellung verhält, also weder gänzlich in der Anpassung, noch in der Herrschaft über andere aufgeht. In diesem Sinne hält Adorno in dem Aufsatz Anmerkungen zum philosophischen Denken fest: „Emphatisches Denken fordert Zivilcourage. Der einzelne Denkende muß es riskieren, darf nichts unbesehen eintauschen oder abkaufen; das ist der Erfahrungskern der Lehre von Autonomie.“