Kirche um der Menschen willen“ lautet die Maßgabe, die in diesem Vortrag für die Therapie der Kirche angelegt wird. Damit ist eine Prämisse gesetzt, die man in ihrer Gültigkeit nicht erst eingehend begründen muss. Im christlichen Glauben berufen wir uns auf einen Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist (Joh 1,14; Phil 2,7). Diese Menschwerdung Gottes geschah, so beten wir im Großen Glaubensbekenntnis, „propter nos homines et propter nostram salutem“, für uns Menschen und zu unserem Heil. Dem entspricht das Postulat, das Jesus für die Gestaltung aller Praktiken und Ausdrucksformen des Glaubens formuliert: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ (Mk 2,27) Wenn die Kirche die Glaubensgemeinschaft sein soll, die von dem Gott Jesu Christi Zeugnis gibt, dann muss dieses Fundamentalprinzip auch für sie selbst gelten: Die Kirche ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Kirche.
Aber stellt diese Prämisse in unseren gängigen kirchlichen Denkmustern und Praktiken wirklich etwas selbstverständlich Bekanntes und Gültiges dar? Maximen und Postulate, die im real existierenden Kirchenbetrieb ständig zu hören und zu lesen sind, lassen etwas anderes vermuten: „zum Leben der Kirche beitragen“; „lebendige Gemeinde“; „der Gemeinde / der Kirche dienen“; „sich für die Kirche engagieren“; „der Kirche Zukunft geben“; „in der Gemeinde mitarbeiten“; „die Kirche lieben“; „der Kirche Glaubwürdigkeit verleihen“. All diese Topoi nehmen die Zweck-Mittel-Zuordnung in umgekehrter Richtung vor: In ihnen firmiert die Kirche an sich als der Zweck kirchlichen Handelns; die Menschen sollen um der Kirche willen etwas sein oder tun. Wenn man sich vor Augen hält, mit welch weiter Verbreitung, mit welcher Emphase und – nicht selten auch – mit welch penetrantem Gewissensdruck solche Maximen bis heute den Menschen als Anforderungen ihres Glaubenslebens aufoktroyiert werden, dann besteht durchaus Grund, sich zu vergewissern, ob man in der Prämisse „Kirche um der Menschen willen“ wirklich übereinstimmt.
Die Mahnung Alfred Delps
Wenige Monate vor seiner Hinrichtung durch die Nationalsozialisten am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee formulierte der Jesuit Alfred Delp eine letzte, eine allerletzte Mahnung an seine Kirche. Ob diese den Weg zu den Menschen findet, hängt nach ihm „entscheidend ab von der Rückkehr der Kirchen in die ‚Diakonie’: in den Dienst der Menschheit. Und zwar in einen Dienst, den die Not der Menschheit bestimmt, nicht unser Geschmack oder das Consuetudinarium einer noch so bewährten kirchlichen Gemeinschaft. ‚Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen’ (Mk 10,45). Man muss nur die verschiedenen Realitäten kirchlicher Existenz einmal unter dieses Gesetz rufen und an dieser Aussage messen und weiß eigentlich genug. Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienste des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonstwie kranken Menschen … Rückkehr in die ‚Diakonie’ habe ich gesagt. Damit meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte oder Sparte auszufüllen. Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben.” (Delp, Alfred: Das Schicksal der Kirchen; in: Delp, Alfred: Gesammelte Schriften. Band IV: Aus dem Gefängnis. Hg. von Roman Bleistein, Frankfurt a. M. 1984, 318–323, 319f.)
Man darf annehmen, dass es Alfred Delp in dieser existentiell bedrängenden Situation nicht um irgendeine augenblickliche Idee ging. Er sah in seiner Mahnung wohl eher ein Erfordernis, auf das es wirklich ankommt, an dessen Erfüllung sich die Existenzberechtigung der Kirche, aber auch die Stellung der Menschen zu dieser Kirche entscheiden.
Allenthalben führt man das Delp-Zitat ins Feld, um auf den Konnex von Kirche und Diakonie aufmerksam zu machen und um die gesellschaftliche Akzeptanz der Diakonie in eine wiederzugewinnende Akzeptanz der Kirche bei den Menschen umzumünzen. Doch Alfred Delp geht es gerade nicht um eine Rückkehr der Menschen zur institutionellen Kirche, sondern um eine Rückkehr der Kirchen in die Diakonie. Die Anforderung der Umkehr gilt der Kirche, genauer: den verantwortlichen Kräften in der Kirche. Sie müssen sich neu ausrichten an dem, was die Bestimmung einer Kirche ist, die sich auf den Gott Jesu Christi beruft.
Die Kirche muss sich mit ihren Strukturen, ihren Praktiken, ihren Institutionen, ihren Lehren, ihren Ämtern wieder in den Dienst für die Menschen stellen. In den Dienst für die Menschen – nicht nur für die Christen, nicht nur für die katholischen oder protestantischen Kirchenmitglieder, nicht nur für die Engagierten und Gleichgesinnten, nicht nur für die Genehmen, Begeisterten und einfach Glaubenden – sondern für radikal alle Menschen. Das „für alle Menschen“ ist eine unhintergehbare theologische Norm, wenn zutrifft, dass Gott sich mit seinem Heilswillen allen Menschen zuwendet. Der Versuch, diese Heilszuwendung Gottes, z. B. durch ein „für viele“, auf bestimmte Menschen einzugrenzen, ist letztendlich ein blasphemischer Akt; ein Akt, der das Wesen Gottes als des Unendlichen verletzt. Und: Die Kirche muss sich in einen Dienst für die Menschen nehmen lassen, der wirklich selbstloser Dienst ist, ein Dienst, bei dem nicht nebenbei oder verdeckt irgendein Zweck oder Interesse zugunsten der Kirche angezielt wird – kein missionarischer Effekt der Kirchenbindung, keine Motivation zum gemeindlichen Engagement, keine Plausibilisierung von Glaubenslehren, ja nicht einmal eine Rechtfertigung für den Bestand der Kirche in der Gesellschaft. Die Kirche muss – in den Worten Delps – den Menschen dienen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte oder Sparte für sich auszufüllen. Das ist mit „Rückkehr in die Diakonie“ gemeint.
Seelsorge und Diakonie
Selbstloser Dienst der Kirche für die Menschen ist jedoch nicht nur in der dezidierten Diakonie bzw. Caritas, also im christlich motivierten Hilfehandeln zugunsten Not leidender Menschen, gegeben. Er geschieht auch in dem, was man gemeinhin „Seelsorge“ nennt. Bei „Seelsorge“ handelt es sich um einen der am häufigsten gebrauchten, aber am wenigsten geklärten Begriffe der Pastoraltheologie. Vor allem der schwierige Begriff „Seele“ erweist sich dabei als Stolperstein, weil sich nicht genau bestimmen lässt, was die Seele eigentlich ist. Gerade diese Diffusität des Begriffs „Seelsorge“ ist aber meines Erachtens zu bewahren, weil sie eine wichtige Funktion erfüllt. Wenn wir z. B. mit einer Redewendung sagen „das ist eine Seele von Mensch“ oder „das ist eine treue Seele“, meinen wir mit „Seele“ nicht einen bestimmten Teil dieses Menschen, sondern sein ganzes Wesen, seine Persönlichkeit. „Seele“ dient uns als Hilfsbegriff für etwas nicht genau Bestimmbares: das, was einen Menschen zu dieser je individuellen Person macht; dafür, dass der Mensch nicht einfach die Summe seiner einzelnen bestimmbaren Teile (Körper, Geist, Psyche, Gefühle …), sondern „mehr als seine Teile“, eine je einmalige Person ist.
Eben weil der Begriff „Seele“ nicht genau bestimmbar ist, eignet er sich, um beim Reden über Menschen deren Nicht-Bestimmbarkeit, deren Inkommensurabilität anzuzeigen. Seelsorge, die „Sorge um die Seele“, kann dann als die Sorge um das Menschsein des Menschen verstanden werden, als Sorge darum, dass dieser je konkrete Mensch eine eigenständige, individuelle, nicht verfügbare Persönlichkeit werden und sein kann. Ein wenig abstrakter formuliert meint Seelsorge das am christlichen Glauben orientierte und auf professioneller Kompetenz beruhende Handeln, mit dem man Menschen bei der Bewältigung ihres Lebensweges beisteht. Der Beistand („Sorge“) zielt darauf, dass der Mensch die vielen Anteile seiner Person – Leib, Geist, Gefühle, Beziehungen, Psyche – zu einer stimmigen Persönlichkeit („Seele“) zusammenfügt und als diese Persönlichkeit auf individuell erfüllende und sozial verantwortliche Weise leben kann.
Ich glaube, es ist im Sinne Alfred Delps, seine Mahnung zu erweitern zum Postulat der „Rückkehr in Seelsorge und Diakonie“. Denn so verstanden ist Seelsorge das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen; das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben.
Die Abkehr der Kirche von Seelsorge und Diakonie
Die Rede von einer „Rückkehr in Seelsorge und Diakonie“ setzt voraus, dass es vorher eine Abkehr der Kirche von Seelsorge und Diakonie gegeben hat. Mit dieser Abkehr meine ich nicht den Prozess, bei dem sich viele Formen des seelsorglichen und diakonischen Hilfehandelns von den konventionellen Gemeinden weg in spezialisierte Professionen und Institutionen wie Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Therapieformen oder Beratungsstellen verlagert haben. Diese Professionalisierung und Institutionalisierung erweist sich über weite Strecken als schlichtweg notwendig, weil nur so die Hilfe für betroffene Menschen in der gebotenen fachlichen Qualität geleistet werden kann.
Was ich hier als „Abkehr von Seelsorge und Diakonie“ moniere, ist die anhaltende Tendenz, dass ein zunehmender Anteil des pastoralen Personals der Kirche durch die Strukturveränderungen in der Kirche zur Herauslösung aus diesen Praxisfeldern gezwungen wird oder sich absichtsvoll von unmittelbaren, konkreten Aufgaben in Seelsorge und Diakonie absentiert.
Die pastoralen Großstrukturen
Seit mehreren Jahrzehnten nimmt die Bildung pastoraler Großstrukturen („Seelsorgeeinheiten“, „Pfarreiengruppen“, „pastorale Räume“ u. ä.) die kirchlichen Ressourcen in Beschlag. Bekanntlich gelten diese neuen pastoralen Strukturen als unumgängliche Reaktion auf den sogenannten „Priestermangel“, der dazu führe, dass nicht mehr annähernd alle bestehenden Gemeinden mit einem Priester besetzt werden können. Ein durchgängiges Element der einschlägigen Konzepte besteht darin, das hauptamtliche pastorale Personal auf der Ebene der größeren Struktureinheit anzusiedeln. Die unmittelbare Zuordnung der Seelsorgerinnen und Seelsorger zu einer Gemeinde entfällt. Letzteres bildet wohl die Maßnahme, mit der sich die neuen pastoralen Strukturen am deutlichsten als Abkehr von Seelsorge und Diakonie erweisen. Denn damit geht der pastoralen Praxis ihre entscheidende, unabdingbare Grundlage verloren, nämlich ihre Lebensweltnähe, der Bezug der Seelsorgerinnen zur alltäglichen Lebenswirklichkeit der Menschen.
Mit Verweis auf die Überlastung des pastoralen Personals sehen viele Verantwortliche den „Königsweg“ darin, in den Gemeinden möglichst viele Gläubige als Ehrenamtliche zu gewinnen, damit diese in möglichst großem Umfang selber pastorale Aufgaben übernehmen. Die professionellen Seelsorger sollten im Gegenzug ihre Aufgabe darin sehen, auf der Metaebene für die Anwerbung, Befähigung und Begleitung der Ehrenamtlichen zu sorgen. In dieser Gemengelage verfestigt sich ein Erklärungsmuster zur scheinbar alternativlosen Maßgabe: Die Seelsorgerinnen und Seelsorger hätten immer weniger Zeit für seelsorglich-diakonische Aufgaben; an den Gläubigen sei es, zu akzeptieren, dass seelsorgliche und diakonische Praxisformen – z. B. Trauergespräche, Hausbesuche, Sterbebegleitung, Krankenbesuche, caritative Hilfen, feste Sprechzeiten – deutlich reduziert oder gleich gar nicht mehr angeboten werden.
So dekretierte in einem pastoralen Raum der Erzdiözese Paderborn der leitende Pfarrer eines Tages im apodiktischen Ton: „Ab jetzt gibt es bei Sterbefällen keine Requien mehr.“ Unter der Hand verschiebt sich dabei die empirische Diagnose des Priestermangels zu einem konzeptionellen Prinzip des pastoralen Personals. Es schleicht sich ein Grundton der pastoralen Larmoyanz ein. Viele Angehörige der pastoralen Berufe erwecken den Eindruck, sie seien es, die unter dieser Situation am meisten zu leiden hätten. Der Gestus, dass man keine Zeit habe, gerät zum kennzeichnenden Habitus vieler Seelsorger.
Das Problem der Abkehr von Seelsorge und Diakonie besteht also nicht eigentlich darin, inwiefern das pastorale Personal objektiv überlastet ist. Es besteht vielmehr darin, dass sich in der Kirche das subjektive, aber kollektiv leitende Bewusstsein ausbreitet, dass die konkrete Seelsorge- und Diakonietätigkeit in der unmittelbaren Begegnung mit Menschen nicht mehr selbstverständliche Aufgabe der pastoralen Berufsgruppen sei.
Der Unwille zu Seelsorge und Diakonie
Seit 42 Jahren bewege ich mich in der wissenschaftlichen Theologie und habe ich mit Theologiestudierenden zu tun. Die gesamte Zeit über beobachte ich speziell bei den angehenden Priestern den Trend, dass viele von ihnen diesen Beruf anstreben, aber dezidiert nicht seelsorgliche und schon gar nicht diakonische Tätigkeiten ausüben wollen. Sie träumen sich in eine von vornherein klerikalistisch deformierte Priesterphantasie hinein und sehen in diesem Beruf vorrangig eine Möglichkeit, diese ihre Priesterphantasie an sich selber auszukosten. Sie erachten es als mit ihrer sakralen Würde unvereinbar, sich mit weltlichen Belangen wie alltäglichen Lebensproblemen und sozialen Nöten zu beschäftigen.
Leider zeigt sich der Hang zum dezidierten Unwillen zu Seelsorge und Diakonie bei Angehörigen aller pastoralen Berufsgruppen, tendenziell aber häufiger bei jüngeren. Es handelt sich um ein Phänomen, das bislang weitgehend tabuisiert wird. Aber es muss einmal (auch auf die Gefahr hin, Empörung auszulösen) benannt werden – aus Verantwortung gegenüber den Menschen, die mit diesen seelsorge- und diakonieunwilligen „Seelsorgerinnen“ und „Seelsorgern“ zu tun bekommen, von ihnen enttäuscht werden oder auch unter ihnen leiden.
Gewiss nicht alle, aber doch ein beträchtlicher Teil der Seelsorgerinnen und Seelsorger passt sich sehr bereitwillig in die Mechanismen der neuen pastoralen Strukturen ein. Dass diese ihre unmittelbare Zuordnung zu einer Gemeinde auflösen, bietet ihnen die Möglichkeit, sich aus den unmittelbaren Seelsorgefeldern vor Ort herauszulösen und sich von der eigenen konkreten Seelsorge- und Diakonietätigkeit zu entbinden.
So manche gefallen sich in diesem Gestus, da sie hoffen, mit vermeintlich wichtigeren Aufgaben auf den höheren Strukturebenen zu arrivieren. Die unmittelbare Arbeit in Seelsorge und Diakonie gilt ihnen als wenig reizvoll, als zu niedrig, als zu geringwertig, als zu wenig prestigeträchtig. Sie eignet sich nicht, um sich öffentlich in Szene zu setzen und zu profilieren; Seelsorge und Diakonie erfordern nämlich Diskretion und über seelsorgliche Gespräche kann man keine Erfolgsmeldungen in Medien platzieren. Seelsorge und Diakonie eignen sich nicht, um in den etablierten Kreisen von Gesellschaft oder Kirche zu reüssieren und sich dort für höhere Ämter zu empfehlen; man muss sich dabei nämlich „schmutzig“ machen, sich in die Unreinheiten, Brüche und Schatten der alltäglichen Lebenswirklichkeiten hineinbegeben. Seelsorge und Diakonie eignen sich nicht für eine schnelle Befriedigung des eigenen Erfolgsbedürfnisses; sie sind nämlich kräfteraubend, oft auch frustrierend, in ihrer Wirkung nicht einfach berechenbar. Und schließlich ist die Arbeit in Seelsorge und Diakonie einfach anstrengend; sie nimmt die Person des Seelsorgers oft über Gebühr in Anspruch; sie setzt hohe fachliche wie persönliche Kompetenzen voraus. Manche Seelsorgerinnen und Seelsorger spüren – meist instinktiv und uneingestanden –, dass sie den Anforderungen dieses Berufs nicht wirklich gewachsen sind, und streben nach unverfänglichen Möglichkeiten, sich ihrer zu entledigen.
Dieser tabuisierte, aber unübersehbare Unwille zur konkreten Seelsorge- und Diakoniearbeit bei vielen Angehörigen der pastoralen Berufe ist nach meinem Dafürhalten einer der Gründe dafür, dass in vielen deutschen Diözesen in unverantwortbarem Ausmaß ein Metaapparat aus Planungsreferaten, Projekten, Projektmitarbeitern, Koordinierungsstellen, Gremien, Organisationsberatern und dergleichen wuchern konnte – weil sich eben viele lieber in diesen Funktionen der Konzeptionsarbeit ergehen, als sich unmittelbaren Begegnungen mit hilfebedürftigen Menschen auszusetzen.
Vor einigen Jahren erklärte ein damals junger Pfarrer im Brustton unbeirrbarer Selbstgewissheit: „Von der Kirche wird immer noch erwartet, dass der Pfarrer am Ort ist. Aber der Pfarrer ist nicht am Ort und er kommt auch nicht mehr zurück“ (Krems, Sebastian zitiert nach: Muss die Kirche zurück ins Dorf? (https://www.katholisch.de/aktuelles/
aktuelle-artikel/muss-die-kirche-zuruck-ins-dorf – abgerufen am 31. 07. 2015). Und ein anderer Kirchenakteur sekundierte ihm: „Auf dem Markt [sc. der Seelsorge – H. H.] sind zahlreiche Konkurrenten tätig: Sie bieten ‚freie Taufen‘ an, sie trauen und beerdigen, sie beraten und begleiten, sie trösten und heilen – und das oft sogar besser (sprich nach heutigen Kriterien: individueller) als kirchliche Seelsorger.“ (Leven, Benjamin: gd Editorial, in: Gottesdienst 49 (2015) Heft 12, 1.) Sind sich diejenigen, die solches sagen, bewusst, was sie da von sich geben? Wenn Funktionsträger der Kirche die Präsenz von Seelsorgern vor Ort kategorisch für beendet erklären und wenn sie die Ausübung von Seelsorge und Diakonie durch das pastorale Personal der Kirche als nicht mehr notwendig erachten, weil das die außerkirchlichen „Konkurrenten“ ohnehin „besser“ machen, dann ist das ein erschütternder Bankrott.
Die Notwendigkeit der Rückkehr in Seelsorge und Diakonie
Am 22. Juli 2016 tötete ein 18-jähriger Deutsch-Iraner bei einem Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum in München neun Menschen. In einem Bericht der Süddeutschen Zeitung darüber hieß es lapidar: „Und Seelsorger wurden gebraucht.“ Dies sollte uns in der Kirche aus mehreren Gründen zu denken geben. Selbst einer großen profanen Tageszeitung – einem jener Medien also, die von traditionalistischen Kräften der Kirche notorisch als säkularisiert und kirchenfeindlich diffamiert werden – ist der Begriff „Seelsorge“ bzw. „Seelsorger“ so vertraut, dass sie ihn selbstverständlich, ohne nähere Erläuterung verwendet. Der Begriff ist der Allgemeinheit der Gesellschaft verständlich. Das gleiche gilt für die Rede von Diakonie oder Caritas. Zudem gebrauchte die Autorin oder der Autor des Berichts die Bezeichnung „Seelsorger“ offensichtlich in einem betont positiven Sinn. Die Zeitung und die Gesellschaft betrachten es demnach als gut und sie sind froh darüber, dass es Seelsorgerinnen und Seelsorger gibt, die in einer solchen Situation Hilfe leisten.
Zwar sind normale Situationen von Seelsorge und Diakonie nicht so aufsehenerregend. Aber dass das Hilfehandeln von Seelsorgerinnen und Seelsorgern gerade auch in einer solchen Extremsituation als notwendig und hilfreich erfahren wird, lässt vermuten, dass es beim weitaus größten Teil der Gesellschaft auch in normalen Situationen des Lebens allgemein anerkannt und, wo nötig, auch gewünscht wird. Die Rückkehr zu Seelsorge und Diakonie gebietet sich also schon deshalb, weil sie in der Gesellschaft gebraucht werden, weil sie notwendig sind. Dabei erscheinen mir drei Überlegungen wichtig.
Identität der pastoralen Berufe
Den Menschen mit Seelsorge und diakonischer Hilfe beizustehen, bildet die wesentliche Aufgabe von Seelsorgerinnen und Seelsorgern – und zwar die konkrete Seelsorge- und Diakoniearbeit in der unmittelbaren Begegnung mit Menschen. Darin besteht schlicht und ergreifend die Identität der pastoralen Berufe, gerade auch des Priesterberufs. Zu diesem Beruf (zu nichts anderem) haben sich Seelsorgerinnen und Seelsorger entschieden; für diese Tätigkeit (für nichts anderes) sind sie von der Kirche angestellt; mit diesen Aufgaben (mit nichts anderem) lässt sich die Akzeptanz der Kirche in der Gesellschaft begründen und ihr privilegierter Status in der Gesellschaft rechtfertigen. Damit ist nicht verneint, dass z. B. auch Liturgie, Sakramente oder Verkündigung zu den wesentlichen Vollzügen der Kirche gehören. Aber die Ausübung dieser Tätigkeiten verliert immer dort ihre theologische Stimmigkeit, wo zu ihren Gunsten die Verpflichtung auf Seelsorge und Diakonie verneint wird.
Die pastoralen Berufe dürfen den Rückzug von Seelsorge und Diakonie bzw. deren Delegation an die Gläubigen nicht zur Maxime ihres Selbstverständnisses machen. Sie würden damit – in einer fiktiven Analogie – Bäckern gleichen, die erklären: Wir Bäcker müssen unseren Berufsstand umstrukturieren; aufgrund der Arbeitsbelastung in der Organisation unserer Betriebe haben wir keine Zeit mehr für die unmittelbare Bäckerarbeit; die Kunden müssen nun selber in ehrenamtlicher Arbeit Brot backen und damit zum Leben der Bäckereien beitragen. Der Vergleich mag absurd klingen. Aber es ist die gleiche Absurdität, die die Menschen empfinden, wenn Angehörige der pastoralen Berufe nicht mehr zur unmittelbaren Seelsorge und Diakonie bereit sind und diese auf ehrenamtliche Gläubige abschieben. Kein Berufsstand der Welt kann sich eine derartige Selbstliquidation seiner Professionalität leisten.
Es braucht eine pastorale Kultur, in der z. B. ein Priester selbstverständlich in der offenen Jugendarbeit tätig ist, ohne auch nur die Frage danach zu stellen, ob das eine priesterliche Aufgabe ist; in der z. B. eine Pastoralreferentin selbstverständlich alte Menschen besucht, ohne sich rechtfertigen zu müssen, warum sie das nicht Ehrenamtlichen überlässt.
Verantwortung gegenüber den betroffenen Menschen
Die Rückkehr der pastoralen Berufe in die konkrete Seelsorge- und Diakonietätigkeit gebietet sich aus Verantwortung gegenüber den betroffenen Menschen. Diese können mit allem Recht der Welt von der Kirche eine fachlich gute Begleitung und Hilfeleistung erwarten. Das gilt umso mehr, als es sich bei Seelsorge und Diakonie tatsächlich um fachlich höchst anspruchs- und verantwortungsvolle Tätigkeiten handelt. Trauergespräche, Lebensberatung, rituelle Feiern, Sterbebegleitung, Krankenbesuche, Deutung von Alltagserfahrungen, Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, Bearbeitung von Konflikten, soziale Hilfen, Unterstützung behinderter Menschen, Interventionen in Familien, Partnerschaftsberatung, Hilfe in akuten Krisensituationen, Zuwendung zu Pflegebedürftigen – bei all diesen Aufgaben wird professionelle Kompetenz abverlangt, sind oft schwierige Herausforderungen zu bewältigen und kann fachliches Fehlverhalten gravierenden Schaden bei den betroffenen Menschen anrichten. Umgekehrt – auch das wird in Theologie und Kirche oft übersehen – verlangen seelsorgliche bzw. diakonische Beziehungen den betroffenen Menschen ein denkbar hohes Maß an Vertrauen ab. Sie selbst – nicht die Seelsorgerinnen und Seelsorger – sind es ja, die dabei (pointiert formuliert) „die Hosen herunter lassen“ müssen; das heißt: die sich mit ihren persönlichsten, oft genug auch belastenden oder beschämenden Anteilen ihres Lebens zeigen sollen und die sich deshalb darauf verlassen können müssen, dass damit diskret, sorgsam und in bestmöglicher Fachkompetenz umgegangen wird.
Die Kirche zählt Seelsorge und Diakonie zu ihren Praxisfeldern und tritt in der Gesellschaft mit dem Selbstanspruch auf, diese anspruchsvollen Aufgaben professionell, qualitativ gut und vertrauenswürdig leisten zu können. Damit begibt sie sich in Beziehung zu all jenen Menschen, die diese ihre Hilfeleistungen in Anspruch nehmen. Sobald aber die Kirche eine solche Beziehung initiiert, übernimmt sie Verantwortung gegenüber den betreffenden Menschen. Sobald kirchliches Personal Menschen gegenüber in der Rolle des Seelsorgers oder des Helfenden auftritt und handelt, verbietet sich jeder Dilettantismus, jede Beliebigkeit, jedes bequeme Delegieren an Personen, die diese Tätigkeit nicht mit Gewissheit auf fachlich gutem Niveau ausüben können.
Wenn z. B. eine ehrenamtlich tätige Person den Besuchsdienst im Altenheim fachlich kompetent machen kann, dann ist das gut so. Aber es ist gut, weil es für die alten Menschen gut ist – und nicht deshalb, weil der Besuchsdienst ehrenamtlich geleistet wird. Dies zu beherzigen verlangt die Verantwortung gegenüber den betroffenen Menschen. Denn die Arbeit in Seelsorge und Diakonie muss diesen Menschen dienen – nicht den Ehrenamtlichen oder deren hauptamtlichen Mentoren. Gegen die hypertrophe Propagierung von Ehrenamtlichkeit in der Kirche und gegen die durchaus fragwürdigen, weil Sand in die Augen streuenden Lobhudeleien auf das Ehrenamt muss einmal klipp und klar festgehalten werden: Auch das Ehrenamt ist kein Selbstzweck. Auch eine ehrenamtliche Tätigkeit hat der Verantwortung gegenüber den betroffenen Menschen gerecht zu werden. Und wenn sie das nicht tut, ist sie abzustellen.
Verpflichtung der Kirche gegenüber der Gesellschaft
Die Rückkehr in Seelsorge und Diakonie ist schließlich eine Pflicht der Kirche gegenüber der Gesellschaft insgesamt. Zumindest hier in Deutschland hat sich die Kirche auf ein sehr spezifisches, enges Arrangement mit dem Staat eingelassen: Der Staat stützt die Kirche in finanzieller, struktureller und rechtlicher Hinsicht, weil er deren professionelle Leistungen als für die Gesellschaft insgesamt bedeutsam und notwendig erachtet; die Kirche verpflichtet sich im Gegenzug zum Erbringen dieser Leistungen. Gerade in Bezug auf die soziale Arbeit und die Seelsorgetätigkeit der Kirche wird dieser Bedingungszusammenhang immer wieder zur Rechtfertigung der staatlichen Stützung wie auch der gesellschaftlichen Präsenz der Kirche angeführt.
Es gibt ein ungeschriebenes Übereinkommen: Der weitaus größte Teil der Gesellschaft findet es gut, dass es in bestimmten Situationen des Lebens seelsorgliche Begleitung und soziale Hilfen durch die Kirche gibt. Im Umkehrschluss erscheint es gerechtfertigt, dass der Kirche – weit über die dezidierte Kirchensteuer hinaus – finanzielle und sonstige Mittel aus den allgemeinen staatlichen Ressourcen zufließen. Sie dienen unter anderem der theologischen bzw. pastoralen Ausbildung, dem Unterhalt der vielen kirchlichen Einrichtungen, der Subventionierung von Praxisfeldern oder auch zu einem gewissen Teil der Entlohnung des kirchlichen Personals. Für die Bewerkstelligung von Seelsorge und Diakonie werden also Mittel aufgewendet, die von der Gesamtheit der Gesellschaft erwirtschaftet und zur Verfügung gestellt werden.
Verantwortungsträger der Kirche legitimieren diese gesamtgesellschaftliche Stützung der Kirche selber immer wieder mit dem Verweis auf die hohen professionellen Anforderungen der seelsorglichen bzw. diakonischen Aufgaben und auf die hohe fachliche Qualität, mit der die Kirche diese zum Nutzen der Gesamtgesellschaft erfüllt. Über eine solche Verknüpfung zwischen Kirche und Staat bzw. Gesellschaft kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber wenn die Kirche sich darauf einlässt, hat sie das dabei getroffene Übereinkommen auch tunlichst einzuhalten.
Mit der beschriebenen Abkehr von Seelsorge und Diakonie verletzt sie es hingegen mit befremdlicher Unbekümmertheit. Man stelle sich vor, Ärzte ließen sich mit dem Bescheid vernehmen, die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen hätten sich für sie ungünstig entwickelt, so dass sie sich veranlasst sähen, ärztliche Behandlungen durch Ehrenamtliche vornehmen zu lassen; die Krankenversicherungen sollten aber weiter bestehen bleiben und die Honorierung der Ärzte gewährleisten. Das wäre geradezu grotesk. Aber genau das machen diejenigen kirchlichen Funktionsträger, die es gerne annehmen, dass Seelsorge und Diakonie über weite Strecken durch die gesamtgesellschaftliche Kommunität finanziert werden, die aber im selben Augenblick erklären, dass sie diese Aufgaben nicht mehr selber leisten könnten und den Gläubigen vor Ort übertragen müssten.
Eine Geschichte zum Abschluss: die Rettungsstation
An einer gefährlichen Küste befand sich vor Zeiten eine kleine, armselige Rettungsstation. Das Gebäude war nicht mehr als eine Hütte; aber die Leute des Rettungsdienstes versahen unentwegt ihren Wachdienst und wagten sich tags wie nachts unermüdlich und ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben hinaus, um Schiffbrüchige zu bergen. Viele der Erretteten und andere Leute aus der Umgebung waren gern bereit, Zeit, Geld und Energie zu opfern, um die Station zu unterstützen. Man kaufte neue Boote und schulte neue Mannschaften. Die kleine Station wuchs und gedieh.
Denen, die für die Rettungsstation verantwortlich waren, gefiel das ärmliche und schlecht ausgerüstete Gebäude nicht mehr. Die Geretteten benötigten doch einen etwas komfortableren Ort als erste Zuflucht. Deshalb wurden die Lagerstätten durch richtige Betten ersetzt und das Gebäude mit besserem Mobiliar ausgestattet. Doch damit erfreute sich die Rettungsstation bei den Männern zunehmender Beliebtheit als Aufenthaltsort; sie richteten sich noch gemütlicher ein, da sie ihnen als eine Art Clubhaus diente. Immer weniger Angehörige des Rettungsdienstes waren bereit, mit auf Bergungsfahrt zu gehen. Also heuerte man für die Rettungsboote eine eigene Besatzung an. Immerhin schmückte das Wappen des Seenotdienstes noch überall die Räume, und von der Decke des Zimmers, in dem gewöhnlich der Einstand eines neuen Clubmitglieds gefeiert wurde, hing das Modell eines großen Rettungsbootes.
Etwa zu dieser Zeit scheiterte vor der Küste ein großes Schiff, und die angeheuerten Seeleute kehrten mit ganzen Bootsladungen frierender, durchnässter und halbertrunkener Menschen zurück. In dem schönen Clubhaus herrschte das Chaos. Das Verwaltungskomitee ließ deshalb gleich danach Duschkabinen im Freien errichten, damit man die Schiffbrüchigen vor Betreten des Clubhauses gründlich säubern könne.
Bei der nächsten Versammlung gab es eine Auseinandersetzung unter den Mitgliedern. Die meisten wollten den Rettungsdienst einstellen, da er unangenehm und dem normalen Clubbetrieb hinderlich sei. Einige jedoch vertraten den Standpunkt, dass Lebensrettung die vorrangige Aufgabe sei und dass man sich ja schließlich auch noch als „Lebensrettungsstation“ bezeichne. Sie wurden schnell überstimmt. Man ließ sie wissen, dass sie ja woanders ihre eigene Rettungsstation aufmachen könnten. Das taten sie dann auch.
Die Jahre gingen dahin, und die neue Station wandelte sich genauso wie die erste. Sie wurde zu einem Clubhaus, und so kam es zur Gründung einer dritten Rettungsstation. Doch auch hier wiederholte sich die Geschichte. Wenn man heute diese Küste besucht, findet man eine beträchtliche Reihe exklusiver Clubs. Immer noch wird sie vielen Schiffen zum Verhängnis; nur die meisten Schiffbrüchigen ertrinken. (Wedel, Theodore Otto: Evangelism – the Mission of the Church to Those Outside Her Life, in: The Ecumenical Review, Vol. 6 (1), October 1953, 19–25. – Deutsche Übersetzung nach: Peter Bleeser (Hg.): Geschichten für Sinndeuter, Düsseldorf 1981, 23–25.)