Die Letzte Generation ruft zum friedlichen Widerstand auf und schreitet selbst zur Tat. Mitglieder der Gruppe blockierten Straßen und sogar die Hamburger Köhlbrandbrücke, womit sie Teile des größten deutschen Hafens lahmlegten. Der Aktion war ein Ultimatum vorausgegangen: Die Bundesregierung müsse die großen Supermärkte dazu verpflichten, noch genießbare Nahrungsmittel zu spenden, um den Welthunger zu begrenzen und den CO2-Ausstoß zu vermindern. Da die Regierung der Aufforderung nicht nachkam, griff die Gruppe störend in den Hafenbetrieb ein.
Was ist davon zu halten? Die Bundesregierung ist aus fairen Wahlen hervorgegangen und sie will den Klimawandel bekämpfen, wenn auch weniger konsequent, als die Aktivisten dies erwarten. Ihr geht es dabei auch um demokratische Legitimität: Gerade weil wir um eine große Transformation nicht herumkämen, die allen Veränderungen abverlange, dürfe die Politik die Polarisierung nicht noch fördern. Die Aktivisten argumentieren dagegen, dass wir wertvolle Zeit verlören: Ohne radikale Veränderungen jetzt drohten Fluten, Dürren, Essensknappheit: „Es ist unsere Pflicht, gegen eine todbringende Politik Widerstand zu leisten“. Tadzio Müller, ein Mitbegründer der radikalen Klimagruppe Ende Gelände, sagt sogar: „Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF. Oder Klimapartisanen. Oder Sabotage for Future. Wie auch immer sie sich dann nennen.“
Lassen sich demokratische Legitimität und gezielte Regelverletzungen miteinander vereinbaren? Eine schon klassische Antwort auf diese Frage bildet der Zivile Ungehorsam. Er gilt als Grenzfall eines Protests, der die politischen Spielregeln einer Demokratie strapaziert, ohne sie aber zu missachten. Eventuell trägt er selbst dazu bei, demokratische Legitimität zu erhöhen. Die politische Ordnung stellt dann nicht nur legale Kanäle für gewöhnlichen Widerstreit bereit. Sie ist auch offen für einen irregulären Protest, mit dem Akteure auf großes Unrecht oder außergewöhnliche Gefahren zu reagieren glauben. Die demokratische Legitimität des zivilen Ungehorsams scheint allerdings davon abzuhängen, dass er nicht zuletzt eine kommunikative Strategie ist, die auf die Überzeugung Andersdenkender zielt. Weder will er direkt, unvermittelt über eine Öffentlichkeit, Veränderungen durchsetzen, noch spricht er die Sprache der Ultimaten. Die Handlungen und Rechtfertigungen der Gruppe Letzte Generation oder auch von Ende Gelände scheinen aber zu dieser Konzeption eines wesentlich symbolischen Protests nicht durchweg zu passen. Könnten sie dennoch gerechtfertigt sein?
Um diese normative Frage zu beantworten, ist genaue Begriffsbildung hilfreich. Ich werde daher zunächst mehr über mein Verständnis von zivilem Ungehorsam sagen, um ihn von (anderen) Formen widerständigen Handelns abzugrenzen. Zwar können und sollen Definitionen die Antworten auf normative Fragen nicht vorgeben. Sie können aber ein möglichst trennscharfes Verständnis der Rechtfertigungspflichten vermitteln, die mit verschiedenen Formen der Regelverletzung einhergehen. Auf die Rechtfertigungsfrage werde ich im zweiten Teil des Textes eingehen.
Ziviler Ungehorsam und Widerstand
Unter „zivilem Ungehorsam“ verstehe ich einen mit moralischen Gründen gerechtfertigten Bruch geltenden Rechts zu dem Zweck, eine Öffentlichkeit für politische Veränderungen zu gewinnen. Der Begriffsbestandteil „zivil“ hat dabei zwei aufeinander verweisende Bedeutungen. Die eine ist „nicht-militärisch“, die andere „bürgerlich“ im politischen Sinne. Wer zivilen Ungehorsam übt, will erstens keine Feinde vernichten, sondern Andersdenkende überzeugen. Er wählt deshalb zweitens den Weg der Einwirkung auf den öffentlichen Vernunftgebrauch. Dies unterscheidet zivilen Ungehorsam von einem Widerstand, der seine Ziele direkt durchsetzen will, indem er die Kosten für eine von den Akteuren bekämpfte Politik in die Höhe treibt. Ein Beispiel bildet Sabotage, etwa an Gasleitungen oder an Kohleförderbändern, die die Betreiber wirtschaftlich schädigen soll.
Mit diesem Vorschlag hebe ich das Verhältnis des zivilen Ungehorsams zur Öffentlichkeit hervor; er ist daher zugeschnitten auf Fragen demokratischer Legitimität. Begrifflich nicht entscheidend, wenn auch für Fragen der Rechtfertigung relevant, ist hingegen der „legalistische“ Aspekt der Zustimmung zur Rechtsordnung als solcher. Diesen letzten Aspekt hat John Rawls in seiner nach wie vor vieldiskutierten Definition betont. Ihm zufolge bewegt sich der zivile Ungehorsam „innerhalb der Grenzen der Gesetzestreue“, wenn auch an deren Rand. Er verbinde den Verstoß gegen einzelne Gesetze oder Verordnungen mit einer Loyalität zur Verfassung als Ganzer. Nicht zuletzt aus diesem Grund sei er gewaltlos. Wer dagegen geltendes Recht verletzt, weil er die Grundordnung eben nicht für fast gerecht hält, handelt Rawls zufolge nicht ungehorsam, sondern militant. Die Militante sei zudem davon überzeugt, dass der Gerechtigkeitssinn der Mehrheit in die Irre gehe. Sie versuche deshalb „mit gezielten militanten Stör- und Widerstandsaktionen und ähnlichem, die herrschende Gerechtigkeitsauffassung anzugreifen oder eine Bewegung in die gewünschte Richtung zu lenken“.
Ein militantes Auftreten gehört aber nicht notwendig zu einem Handeln, das die herrschende Ordnung für grundlegend ungerecht hält und das den herrschenden Gerechtigkeitssinn herausfordern will. Wir sollten die Radikalität der Zielsetzung nicht mit der Radikalität der Mittelwahl kurzschließen. Man kann tiefgreifende Veränderungen anstreben und dabei strikt gewaltlos handeln. Umgekehrt ist auch umstritten, ob ziviler Ungehorsam strikt gewaltlos sein müsse. Gewalt ist ein wesentlich umstrittenes Konzept; und viele Akteure, die ungehorsam zu handeln behaupten, schließen zumindest Sachbeschädigung nicht aus.
Vor allem aber ist die definitorische Engführung des zivilen Ungehorsams auf ein im Grunde verfassungsfreundliches Engagement fragwürdig. Sie geht am Selbstverständnis und den Situationsdeutungen allzu vieler ungehorsam Handelnder vorbei. Dies spricht dagegen, die Gesetzestreue in die Definition von zivilem Ungehorsam hineinzunehmen. Die politischen Veränderungen, die dieser anstrebt, können mehr oder weniger tiefgreifend und umfassend sein. Wesentlich ist nur, dass die Überzeugung Andersdenkender einen eigenen Zweck des Rechtsbruchs bildet.
Ziviler Ungehorsam ist gleichsam ein Grenzfall argumentativer Einmischung. Er fordert freie und gleiche Mitbürger dazu auf, zu den Gründen Stellung zu nehmen, die die Handelnden durch ihre Regelverletzung geltend machen. Ziviler Ungehorsam ist daher „fehlerfreundlicher“ als ein Widerstand, der direkt etwas verhindern will.
Auch wer Widerstand leistet, wird sich zumeist des Mittels öffentlicher Aufmerksamkeit und Skandalisierung bedienen, um die Kosten für eine von ihm bekämpfte Politik oder Praxis in die Höhe zu treiben. Das setzt aber gewöhnlich voraus, dass er selbst auf allzu zerstörerische Aktionsformen, die die Öffentlichkeit wohl abstoßen würden, verzichtet, und seine Rechtfertigungsgründe und Ziele überzeugend kommuniziert. Dennoch sind die Meinungen der Mehrheit für die Erfolgsaussichten von Widerstand nur instrumentell bedeutsam; ihre Veränderung bildet kein eigenständiges Ziel der Handelnden.
Der prinzipielle Bezug zur Öffentlichkeit unterscheidet zivilen Ungehorsam von Widerstand. Diese Unterscheidung ist idealtypisch: In vielen Gruppen und Bewegungen werden Akteure mit ihrem Handeln divergierende Hintergrundvorstellungen verbinden. Oder sie werden zivilen Ungehorsam und Widerstand als zwei zusammenwirkende Aktionsformen ansehen. Deren begriffliche Unterscheidung ist gleichwohl sinnvoll, weil sie auf unterschiedliche Schwierigkeiten der Rechtfertigung verweist: Ein ziviler Ungehorsam, der auf eine verbesserte kollektive Willensbildung zielt, ist offenbar leichter mit dem Kriterium demokratischer Legitimität zu vereinbaren als ein Widerstand, der seine Ziele auch gegen demokratische Mehrheiten direkt durchzusetzen sucht.
Zweifelhaft kommt mir dagegen nach dieser Maßgabe der begriffliche Mehrwert einer neueren Wortschöpfung vor: des „unzivilen Ungehorsams“ (uncivil disobedience). Die Philosophin Candice Dalmas versteht darunter Handlungen, die verdeckt, ausweichend (evasive), gewaltsam oder beleidigend (offensive) sind. Verdeckt handeln zum Beispiel Whistleblower, die Staatsgeheimnisse enthüllen. Ausweichend verhalten sich Akteure, die sich staatlichen Sanktionen zu entziehen suchen, anstatt aus Gründen der Gesetzestreue zumindest milde Strafen zu akzeptieren. Die Bereitschaft zur Gewalt kann sich in bewaffneten Bürgerwehren manifestieren, in Sabotageakten äußern oder in regelrechten riots entladen. Beleidigend (offensive) könnten Handlungsweisen wie Niederbrüllen sein, aber auch Äußerungen ostentativer Empörung. Ganz offenbar ist dies ein sehr breites Spektrum möglicher Praktiken. Ihr einzig verbindendes Element ist vielleicht die Unvereinbarkeit mit einem besonders engen Verständnis zivilen Ungehorsams.
Mein eigenes Begriffsverständnis schließt zum Beispiel ein klandestines Vorgehen als Teilelement zivilen Ungehorsams nicht aus. Das Kriterium der Öffentlichkeit verlangt nur, dass die Überzeugung Andersdenkender ein eigener Zweck der Regelverletzung ist. Deshalb muss aber nicht ausnahmslos jeder Schritt in einer Handlungssequenz zivilen Ungehorsams unter den Augen einer Öffentlichkeit erfolgen. Für manche Aktionsformen und Absichten wäre eine solche Erwartung sogar sinnwidrig. Das gilt etwa für das Eindringen in Ställe, um das namenlose Elend von Tieren photographisch oder filmisch festzuhalten. Wenn aber die Publikation ein zentraler Zweck solcher Handlungen ist, damit die Allgemeinheit zu ihnen Stellung nehmen kann, so kann auch verdecktes Vorgehen zu zivilem Ungehorsam gehören.
Das Kriterium der Bereitschaft, zumindest maßvolle Strafen auf sich zu nehmen, verweist auf das Verständnis des zivilen Ungehorsams als einer verfassungsfreundlichen Praxis, von dem ich sagte, dass wir es nicht begrifflich voraussetzen sollten. Was beleidigende (offensive) Handlungen angeht, so hängt viel vom Verständnis dieser vagen Sammelkategorie ab. Gewisse Unhöflichkeiten und Unfreundlichkeiten charakterisieren schon die gewöhnliche Politik; und ziviler Ungehorsam wird so gut wie immer auch von negativen Emotionen wie Empörung getragen sein.
Entscheidend ist nur, dass die Akteure ihre Gegner gleichwohl für fähig halten, aus Einsicht in bessere Gründe anders als bisher zu handeln. Diese grundlegende Anerkennung muss durch ihre Aktionen zum Ausdruck gelangen. Weil es aber ein Missverständnis wäre, den zivilen Ungehorsam deshalb für freundlich zu halten, müssen wir auch nicht alle weniger freundlichen Vorgehensweisen dem „unzivilen“ Ungehorsam zuschlagen.
Was dann als dessen harter Kern übrigbleibt, ist der Rückgriff auch auf gewaltsame Handlungsweisen. Sie sollten jedenfalls in der Form von riots oder von organisiertem Waffengebrauch durch Bürgerwehren beim besten Willen nicht mehr als zivil gelten dürfen. Was aber die Rechtfertigungsproblematik betrifft, scheinen sie eben deshalb in eine Kategorie mit gewaltsamem Widerstand zu fallen. Das trennt sie klarerweise von ungleich weniger gefährlichen und destruktiven Praktiken wie verdeckten Stalleinbrüchen zu Dokumentationszwecken oder von verantwortungsvollen Formen des Whistleblowings. „Unziviler Ungehorsam“ scheint mir darum keine sinnvolle Sammelkategorie zu sein. Für die Rechtfertigungsfrage werde ich mich auf die idealtypische Unterscheidung von zivilem Ungehorsam und Widerstand beschränken.
Zur möglichen Rechtfertigung zivilen Ungehorsams
Was der zivile Ungehorsam mit dem Widerstand gemein hat, ist das Merkmal des Rechtsbruches. Wir sollten dieses Merkmal aus zwei Gründen normativ nicht zu leicht nehmen. Erstens ist der rechtlich gesicherte Friede selbst ein wichtiges Gut, weil er wenigstens eine unerträgliche Erwartungsunsicherheit von den Menschen nimmt. Diese können vorab wissen, was allgemein verbindlich gilt, und sich leidlich darauf verlassen, dass Streitfälle von erkennbaren Autoritäten entschieden und effektiv aufgelöst werden. In einem demokratischen Rechtsstaat geht der allgemeine Rechtsfriede zudem mit geregelten und gesicherten Möglichkeiten einher, für Veränderungen friedlich zu streiten.
Zweitens ist ein solcher Staat das Organ, durch das freie und gleiche Bürger mit- und auch gegeneinander handeln. Sie muten einander in Gestalt staatlicher Rechtsnormen bestimmte Entscheidungen als allgemein bindend zu. Wer nun als Teil einer demokratischen Mehrheit von allen anderen erwartet, die von der Mehrheit gewollten Gesetze zu befolgen, muss prinzipiell auch dazu bereit sein, die Gesetze einer Mehrheit zu befolgen, zu der er selbst nicht gehört. Wer dies grundsätzlich nicht akzeptiert, stellt sich über andere; er nimmt sich Sonderrechte heraus.
Demokratische Gesetze gehen, über mehr oder weniger lange und verzweigte Legitimationsketten, auf eine Gesamtheit freier und gleicher Bürger zurück. Dies verleiht ihnen eine Legitimität, die auch dann nicht leicht zu nehmen ist, wenn ernste Zweifel an ihrer substantiellen Vertretbarkeit bestehen. Nennen wir dies das Argument demokratischer Anerkennungswürdigkeit. Es ergibt dennoch keinen konklusiven Grund gegen ausnahmslos alle Ansprüche, moralisch zu zivilem Ungehorsam berechtigt zu sein. Drei Gegengründe seien genannt.
Erstens ist jede real existierende Demokratie immer nur eine mehr oder weniger gute Verkörperung des Prinzips politischer Autonomie, das sie normativ trägt. Das Prinzip politischer Autonomie verlangt, dass alle Adressaten von Rechtsnormen sich auch als deren freie und gleiche Mitautoren verstehen dürften. Eine Demokratie ist der immer vorläufige Versuch, diesen Grundsatz zu institutionalisieren. Jede solche Institutionalisierung bedeutet aber eine bestreitbare Auslegung, die folgenreich dafür ist, wer im demokratischen Prozess wie erscheint und wer welche Durchsetzungschancen hat. Und oft sind demokratische Verfahren systematisch zu Lasten bestimmter Gruppen und Inhalte verzerrt.
Wer solche Gruppen unterstützen oder solche Inhalte vorbringen möchte, könnte dann mit der Unfairness der faktischen Verfahren für zivilen Ungehorsam argumentieren. Er müsste dazu allerdings erstens zeigen, dass er eine wichtige und dringliche Sache vertritt. Diese muss wichtig und dringlich genug sein, um auch einen Rechtsbruch zu rechtfertigen. Zweitens müsste ein anderes demokratisches Verfahren verfügbar sein, in dem die verzerrenden Effekte nicht oder nicht so stark aufträten. Drittens wäre zu zeigen, dass der zivile Ungehorsam das mildestmögliche Mittel ist, weil die legalen Formen und Kanäle des Protests zu dem gerechtfertigten Zweck nicht genügten. Diese drei Bedingungen sind am deutlichsten erfüllt, wo benachteiligte Minderheiten in menschen- oder bürgerrechtlich relevanten Fragen auf diskriminierungsbereite Mehrheiten, verstockte Machthaber und verstummte Massenmedien stoßen. Hier liegt die Vermutung nahe, dass Gruppen zu spektakulären Mitteln greifen müssten, um überhaupt öffentlich wahrgenommen zu werden.
Ein zweiter Grund, warum das Argument demokratischer Anerkennungswürdigkeit zivilen Ungehorsam nicht unbedingt ausschließt, ist, dass es eben demokratische Legitimation für einen gegebenen Demos begründet. In einer idealen Demokratie wären die Gesetzgeber und die Gesetzesunterworfenen personalidentisch. Aber eine solche Demokratie gibt es nicht und kann es nicht geben. Immer werden demokratische Entscheidungen auch Dritte nennenswert betreffen, die an ihnen nicht mitwirken (dürfen oder können). Ausländer dürfen auf nationaler Ebene nicht wählen, kleine Kinder, geistig schwer behinderte Menschen oder auch Tiere könnten ein Wahlrecht nicht sinnvoll gebrauchen und zukünftige Menschen sind schon logisch von jeder direkten Mitwirkung ausgeschlossen.
Man kann daher zum einen argumentieren, man streite mit zivilem Ungehorsam für die Rechte von Wesen, die dies beim besten Willen nicht selbst vermögen, wie kleine Kinder, Tiere oder zukünftige Menschen. Man mag zum anderen vorbringen, der Ausschluss mancher Gruppen vom Bürgerstatus und/oder von gleichberechtigter politischer Mitwirkung sei substantiell ungerecht; dies könnte etwa für sogenannte sans-papiers, also Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung gelten. Ein ungehorsames Handeln in deren Namen oder auch mit ihrer Beteiligung verletzt jedenfalls nicht den gebotenen Respekt vor freien und gleichen Mitbürgern, eben weil hier die soziale Grenzfrage der Mitgliedschaftsrechte selbst im Raum steht und die Akteure bestreiten können, dass die schon anerkannten Mitglieder sie majoritär beantworten dürften.
Dies verweist auf den dritten Grund, warum das Argument demokratischer Anerkennungswürdigkeit legitimen Ungehorsam nicht unbedingt ausschließt. Niemand wird von irgendeiner Herrschaftsform sachliche Unfehlbarkeit verlangen dürfen. Auch demokratisch korrekt erzeugte Normen können unerträglich falsch sein und fatale irreversible Folgen zeitigen. Eine prinzipielle Stärke demokratischer Verfahren ist sicher die Reversibilität der Ergebnisse: Einmal erlassene Gesetze können wieder geändert oder abgeschafft werden. Eine neu gewählte Regierung darf die Fehler ihrer Vorgängerregierung korrigieren. Das Wahlverfahren sorgt dafür, dass der Wechsel gewaltfrei geschieht und auch künftig möglich bleibt. Demokratien sind darum konstitutionell korrekturfähiger als andere Formen der Regierung und der Herrschaft.
Aber auch ihre Korrekturfähigkeit hat Grenzen. Manche Fehler sind jedenfalls nicht restlos revidierbar; nicht alle Folgen ökologischer Verheerung oder lügenhaft begründeter Kriege könnten wiedergutgemacht werden. Was also soll man tun, wenn man unter dem Eindruck einer drohenden Fehlentscheidung steht, die sehr schwer wiegt und deren Folgen teilweise irreversibel sein würden? Das Argument der prinzipiellen Fähigkeiten von Demokratien zur Selbstkorrektur verfehlt dann die evidente Dringlichkeit des konkreten Falles. Auf diese Weise kann man wiederum substantiell für ein moralisches Recht auf Rechtsbrüche argumentieren. Zwei Qualifizierungen sind aber angebracht.
Erstens kann nicht gemeint sein, dass man unbedingt im Recht sein müsse. Wir können uns auch irren, wenn wir hochherzig gestimmt oder tief besorgt sind, oder vielleicht gerade dann und deshalb. Folglich brauchen wir ein Fehlbarkeitsbewusstsein hinsichtlich des eigenen Handelns. Wer politisch motiviert gegen geltendes Recht verstößt, dessen Überzeugung muss so gut gerechtfertigt sein, wie es eben geht. Gute Gründe sind zu verlangen, Unfehlbarkeit allerdings nicht.
Entscheidend für die Rechtfertigung sind die Art der Überzeugung und die Qualität der Überzeugungsbildung. Die Überzeugung muss von der Art sein, dass gültige Gründe der Moral für sie sprechen können. Für die Überzeugungsbildung muss gelten, dass man folgerichtig überlegt und dabei alle wichtigen Evidenzen und Einwände zu berücksichtigen sucht.
Damit hängt zweitens zusammen, dass die rechtswidrig Handelnden sich nicht gänzlich gegen Andersdenkende abschirmen. Auch eine noch so inklusive Öffentlichkeit verbürgt keine Fehlerfreiheit, aber sie gibt Akteuren die Chance, ihr Handeln aus möglichst vielen Perspektiven zu prüfen. Eine grundsätzliche ‚Offenheit für die Öffentlichkeit‘ ist darum ein Kriterium für die Ernsthaftigkeit, mit der politisch motivierte Rechtsbrecher ihr Handeln reflektieren und rechtfertigen. Aus diesem Grund lässt sich ziviler Ungehorsam eher rechtfertigen als ein Widerstand, der vor allem Fakten schaffen will und sich der Öffentlichkeit allenfalls instrumentell bedient.
Zur möglichen Rechtfertigung von Widerstand
Wie und inwieweit könnte man dennoch auch regelrechten Widerstand in einer rechtsstaatlichen Demokratie rechtfertigen? Meine Überlegungen dazu sind tentativ. Regelrechter Widerstand könnte gerechtfertigt sein, wenn fünf notwendige Bedingungen erfüllt sind, immer nach Maßgabe dessen, was die Akteure nach ernsthaftem Überlegen vermuten dürfen.
Der Widerstand muss sich erstens gegen eine Politik oder gegen Verhältnisse richten, die als solche oder durch ihre Folgen gravierende Übel oder schweres Unrecht bedeuten. Er muss zweitens das mildestmögliche Mittel gegen das Übel oder Unrecht sein. Dies heißt zunächst, dass legale Mittel nicht ausreichen würden, weil etwa die Zeit drängt und irreversible Folgen drohen. Aber auch ziviler Ungehorsam wäre prima facie ein milderes Mittel. Auch er muss darum ganz offenbar aussichtslos sein, weil die Argumente der Akteure einer breiteren Öffentlichkeit auch durch demonstrativen Regelbruch wohl nicht nahezubringen wären. Allerdings sollten die Akteure die Zustimmung einer verständigeren Öffentlichkeit zumindest gedanklich vorwegnehmen dürfen.
Die dritte Bedingung lautet, dass Widerstand ein erfolgversprechendes Mittel zum gerechtfertigten Zweck ist. Viertens muss das Mittel in einem vertretbaren Verhältnis zur Schwere des Übels oder Unrechts stehen, das geschieht oder zu geschehen droht. Es muss zu ihm proportional sein. Fünftens darf der Widerstand keine schlechthin verwerflichen Handlungsweisen einschließen; diese könnten allenfalls unter extremen Bedingungen entschuldigt, aber niemals gerechtfertigt sein.
Schlechthin verwerflich wäre vor allem regelrechter Terrorismus. Ich verstehe darunter ein Handeln, das Angriffe auf die leibliche oder seelische Unversehrtheit anderer Menschen als Mittel benutzt, um Angst und Schrecken zu verbreiten und dadurch politische Veränderungen her-
beizuführen. Heute greifen Terroristen immer wieder wahllos Menschen an, um durch einen möglichst hohen Blutzoll eine möglichst große Schreckenswirkung zu erzielen. Das ist eine extreme Weise, andere Menschen für noch so hehre Zwecke zu instrumentalisieren. Terror ist ein malum in se; wahlloses Morden ist niemals zu rechtfertigen.
Ich denke, dass in jeder halbwegs funktionierenden rechtsstaatlichen Demokratie das Kriterium noch strenger sein muss. Gewalt gegen Menschen ist immer schlecht und darum prima facie verwerflich, und in einer Demokratie verfügen Akteure fast ausnahmslos über Alternativen. Schon das Kriterium des mildestmöglichen Mittels schließt darum menschenverletzende Gewalt so gut wie immer aus. Und selbst wo sie tatsächlich das einzig effektive Mittel sein sollte, können Akteure dies nicht sicher voraussehen. Daher scheint mir die Verallgemeinerung gerechtfertigt, dass nur ein Widerstand, der Gewalt gegen andere Menschen komplett ausschließt, in einer rechtsstaatlichen Demokratie moralisch erlaubt sein könnte.
Wenn Widerstand erlaubt sein könnte, wann ist er es dann tatsächlich? Dazu schweigen die Kriterien, die Beantwortung dieser Frage erfordert immer auch Urteilskraft. Die politische Philosophie kann nur zeigen, dass auch ein funktionierender demokratischer Rechtstaat den politisch motivierten Rechtsbruch moralisch nicht absolut ausschließt. Demokratien sind nicht vollkommen, und das Argument ihrer allgemeinen Anerkennungswürdigkeit erfasst auch nicht alle möglichen moralisch erheblichen Fälle. Manchmal ist demonstrativer Rechtsbruch nötig und geeignet, um öffentliches Nachdenken anzustoßen, wo schwerwiegende Fehler oder regelrechte Verbrechen drohen. Und bisweilen würden selbst in einer Demokratie öffentliche Auseinandersetzungen zu spät oder gar nicht in Gang kommen, so dass Handelnde nach ernsthaftem Überlegen den gewaltfreien Widerstand wählen.
Das Argument, dass uns die Zeit ausgehe, spielt eine zentrale Rolle bei den radikalen Klimaschützern, die ich eingangs zitiert habe. Umso wichtiger ist allerdings, dass sie die generelle Vorzugswürdigkeit offener Gesellschaften und der sie ermöglichenden demokratischen Rechtsstaaten nicht ignorieren. Ohne den Resonanzboden einer für Argumente offenen Öffentlichkeit könnten auch direkte Aktionen uns der fälligen Transformation nicht näherbringen. Aus dem Faktum, dass demokratische Entscheidungen zu spät kommen können, folgt nicht, dass Demokratien generell zu langsam seien.
Wohlbegründete Ungeduld rechtfertigt keinen Flirt mit autoritären Allmachtsphantasien. Bereits die autoritäre Symbolsprache der Ultimaten, gerichtet gegen gewählte Regierungen, sollten wir uns deshalb versagen und verbitten. Andersdenkende wird sie ohnehin nicht umstimmen können, und Regierende werden ihr nicht einmal nachgeben dürfen, ohne fundamentale Zweifel an ihrer demokratischen Legitimität zu wecken.