Am 9. November 1940 erhielt die Mutter des Hilfsarbeiters Andreas H. von der Landesanstalt Hartheim bei Linz einen Brief. Darin teilte ihr der dort verantwortliche Beamte mit, dass ihr Sohn „infolge Typhus mit nachfolgender Herzmuskelschwäche“ gestorben sei. Aufgrund der möglichen Verbreitung von Krankheitserregern habe der Leichnam sofort eingeäschert werden müssen. Die Urne könne ihr kostenfrei überstellt werden, um sie an einem örtlichen Friedhof beizusetzen. Die Mutter war skeptisch ob dieser, ihr mitgeteilten Geschichte und wandte sich an ihren Bischof: Kardinal Michael von Faulhaber. Andreas H. war gerade einmal 40 Jahre alt und stammte aus Obergolding, südwestlich von Landshut. 1937 wurde er in die niederbayerische Heil- und Pflegeanstalt Mainkofen eingewiesen. Bei seiner Aufnahme sei er laut ärztlichem Bericht „ruhig u[nd] geordnet, aber ängstlich“ gewesen – er fürchtete, in der Anstalt umgebracht zu werden. Kurz darauf entschied das Erbgesundheitsgericht Deggendorf, dass er sterilisiert werden sollte.
Der letzte handschriftliche Eintrag in seiner Krankenakte datiert auf den Dezember 1938. Zwei Jahre später findet sich dort nur noch folgender Hinweis: „28.10.40[.] Im Auftrag des Reichsverteidiungskommissars in eine andere Anstalt verlegt.“ Das bedeutete im Fall von Mainkofen die Deportation mit dem Zug in die Tötungsanstalt Hartheim. Andreas H. war dort nicht an Typhus gestorben, sondern durch Giftgas ermordet worden. Die Urne, die seine Mutter erhalten sollte, enthielt auch nicht dessen Asche. Forderten Angehörige eine Urne an, nutzte man dort stets die Asche, die gerade „vorrätig“ war. Faulhaber zeigte sich in diesem Fall besonders gut informiert. Er notierte auf einem kleinen Notizzettel kurzschriftlich die Details von Andreas H’s Deportation. Der Kardinal war auf solche detaillierten Informationen angewiesen, wenn er gegen das Mordprogramm protestieren wollte.
Die Lebensgeschichte von Andreas H. teilten viele Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus. Kranke, behinderte, pflegebedürftige oder auch sozial unerwünschte Menschen hatten seit 1933 in besonderem Maße unter den Nationalsozialisten zu leiden. Sie wurden wie Andreas H. häufig ausgegrenzt, zwangssterilisiert und zuletzt ermordet. Die nationalsozialistischen Medizinverbrechen, unter die hier die Komplexe Zwangssterilisation und „Euthanasie“-Morde summiert werden, stellten auch die katholische Kirche mit ihrem christlichen Verständnis von Krankheit, Leiden und Tod, die eine weit zurückreichende Tradition der karitativen Krankenpflege begründet hatte, vor besondere Herausforderungen. Dabei muss man sich von dem lange Zeit vorherrschenden Bild verabschieden, die katholische Kirche sei ein „Bollwerk“ gegen die „medizinische Tyrannei“ der Nationalsozialisten gewesen, wie sie Michael Schwartz genannt hat. Ein genauer Blick auf Kardinal Faulhabers Verhältnis zur Eugenik und zu vermeintlich erbkranken Menschen lässt nämlich auch sein Agieren im NS-Staat gegen die Sterilisations- und Mordprogramme in einem anderen Licht erscheinen.
Ein schwarzes Gesetz, eine wunderbare Lehre: Faulhaber, die Eugenik und das GzVeN
Die nationalsozialistischen Machthaber machten sich nach dem 30. Januar 1933 unmittelbar an die Verabschiedung eines Sterilisierungsgesetzes. Sie konnten sich dabei an einem Entwurf der preußischen Regierung orientieren, die 1932 bereits kurz davor war, ein solches Gesetz zu verabschieden. Es war der Endpunkt einer langen Diskussion während der Weimarer Republik, wie man vermeintlich erbkranke Menschen von der Fortpflanzung ausschließen könnte, um eine Degeneration des Volkes zu verhindern. Die Idee dahinter, die Eugenik, reichte bis ins 19. Jahrhundert zurück und fand in den 1920er-Jahren nicht nur bei Nationalsozialisten Anklang, sondern auch bei Sozialisten und Katholiken, welche das preußische Sterilisierungsgesetz maßgeblich vorangetrieben hatten. Die Nationalsozialisten verfolgten aber ungleich radikalere Methoden und Ziele: Sterilisationen sollten nun nicht mehr auf Freiwilligkeit basieren, sondern nach einem Urteil der sogenannten Erbgesundheitsgerichte zwangsweise erfolgen.
Auf katholischer Seite stieß das auf breite Ablehnung. Papst Pius XI. hatte 1930 in seiner Enzyklika Casti connubii nämlich eugenische Maßnahmen verworfen, die einem Eheverbot gleichkamen oder die in die körperliche Integrität des Menschen eingriffen. Gleichwohl übte er keine grundsätzliche Kritik am Ziel der Eugenik und sah es als erlaubt an, Paaren von der Ehe zu „widerraten“, wenn sie „minderwertige[r] Nachkommenschaft das Leben geben“ könnten. Diese Position teilte auch Faulhaber, der auf katholischer Seite zu einem der stärksten Befürworter eugenischer Maßnahmen in der Weimarer Republik gehörte.
Bevor man zum Mittel der Sterilisation greife, müssten jedoch alle anderen, milderen Alternativen ausgeschöpft seien, so der Kardinal. Ihm schwebten aber keine „weichen“ eugenischen Maßnahmen wie die Eheberatung vor. Faulhaber verfolgte eine repressive Linie gegenüber den „Erbkranken“, die er im Idealfall interniert sehen wollte. In einem Brief an Kardinal Bertram vom Dezember 1933 ließ er diesen wissen, dass der Staat, nachdem er „für die Schutzhäftlinge eigene Lager errichtet hat“ dies „ebenso gut für diese Schädlinge der Volksgemeinschaft, die er durch Sterilisierung unschädlich machen will“ tun könne.
Nicht nur der Vergleich mit den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, in denen schon 1933 Menschen gequält und ermordet wurden, macht diese Aussage eines christlichen Bischofs so irritierend, sondern auch, dass er körperlich und geistig kranke Menschen als „Schädlinge der Volksgemeinschaft“ herabwürdigt. Faulhaber sah die „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ allerdings als eine humane Tat an. Eugeniker wollten nur „aus einer großen Liebe heraus ihr Volk in vorbeugender Weise vor einer Überzahl von minderwertigen Geschöpfen bewahren und alle Kinder als ‚Wohlgeborene‘ in die menschliche Gesellschaft eintreten lassen“. Die Sterilisierung sei hierfür aber der falsche Weg, auch wenn katholische Theologen und Eugeniker wie Joseph Mayer und Hermann Muckermann trotz der päpstlichen Enzyklika weiter dafür warben.
Die deutschen Bischöfe mussten indes bald erkennen, dass Hoffnungen, die Zwangsklausel des sogenannten Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses – kurz GzVeN – durch Verhandlungen vor dessen Inkrafttreten im Januar 1934 streichen zu können, vergebens waren. Faulhaber gingen die Bemühungen des Episkopats daher nicht weit genug. Schon am 31. Oktober 1933 hatte er in einem Schreiben an seine bayerischen Kollegen seine Position deutlich gemacht. „Zu dem Sterilisierungsgesetz […] wird der Episkopat nicht schweigen können“, mahnte Faulhaber und warb für „ein autoritatives Wort“.
Faulhaber suchte den offenen Konflikt. Sollten die wiederaufgenommenen Verhandlungen scheitern, „darf uns keine Rücksicht abhalten, das Schwarze schwarz zu nennen“, so der Bischof. Ein gemeinsames Vorgehen war hingegen schon 1933 illusionär. Nachdem es zunächst Pläne für ein reichsweites Hirtenwort gegen das Gesetz gegeben hatte, sollte nun eine Kanzelabkündigung die Gläubigen über den kirchlichen Standpunkt informieren. Ein offener Protest war das nicht. Faulhaber ging die Abkündigung nicht weit genug und bezeichnete im Fastenhirtenbrief von 1934 die Sterilisierung daher als Missachtung des Sittengesetzes. Ausgerichtet hat dieser punktuelle Protest ebenso wenig die Kanzelabkündigung. Deshalb war das Vorgehen gegen das GzVeN auch keineswegs eine „höchst beachtliche Haltung“ der Bischöfe, wie etwa Walter Ziegler meinte.
Faulhaber wurde nun als Seelsorger mit dem Sterilisationsprogramm konfrontiert. Mehrere Menschen wandten sich an ihren Bischof aus Sorge um sich oder ihre Angehörigen. Während Faulhaber einen Familienvater noch 1933 beruhigte, dass die „Furcht“, sein Sohn würde „nach dem Inkrafttreten des Sterilisierungsgesetzes zwangsweise diesem operativen Eingriff unterworfen werde“, unbegründet sei, musste er diese Meinung sehr bald revidieren. Immer mehr Post erreichten den Bischof mit der Bitte, sich für den Absender einzusetzen. Faulhaber antwortete nun nicht mehr selbst, sondern ließ mitteilen, dass die Kirche keinen Einfluss auf die Verfahren habe.
Schließlich musste Faulhaber den Vorwurf der Untätigkeit ertragen. „Warum die Kirche so schweigsam sei, alles sich gefallen lasse“ – etwa bei der „Sterilisation“, fragte der bekannte US-Journalist Max Jordan 1934 den Kardinal. Dieser antwortete: „Das Große im Auge behalten, tatsächlich gegen Bolschewismus, die öffentliche Sittlichkeit ist besser, besonders Concordat, die katholische Schule verbürgt.“ Im Allgemeinen sah Faulhaber also das erste Jahr unter dem Regime im Großen und Ganzen als Verbesserung, als eine Rückkehr zur Ordnung an. Der Antikommunismus und der Kampf gegen die Unsittlichkeit überwogen dabei negative Erscheinungen.
Diese Schnittmengen, zu denen auch die Eugenik gehörte, ließen ihn mitunter von einer grundsätzlichen Verurteilung des Nationalsozialismus absehen. In diesen Fragen zeigte sich mehr Nähe als Distanz zum Nationalsozialismus. Faulhabers Vorstellungen darüber, wie sich der Staat gegen die „Schädlinge“ zur Wehr setzen könnte – so Faulhaber im Gespräch mit Hitler 1936 – waren in der NS-Zeit sogar noch radikaler geworden. Kurz vor seinem Besuch auf dem Obersalzberg unterhielt er sich mit einer Frau über das Sterilisierungsgesetz, das diese verteidigte. Faulhaber entgegnete darauf laut Tagebuch: „Ich sage, es hätte ein anderes Mittel gegeben, das gleiche zu erreichen, nämlich Concentrationslager.“
Fraglich ist daher, wie groß seine Sorge um die seiner Meinung nach „Erbkranken“ war. In einem Gespräch mit Funktionärinnen des Frauenbundes sagte Faulhaber: „Die Auswirkung des Sterilisationsgesetzes für die Erbgesunden wird furchtbar sein […].“ Faulhaber trieben weniger die konkreten Auswirkungen der Sterilisation um als die grundsätzliche Übertretung des Sittengesetzes. Sollten die Bischöfe das hinnehmen, würden sie die „Gesetzesmacher zu weiteren Vorstößen mit Gesetzen über Euthanasie und Feuerbestattung ermuntern“.
Die Warnung vor der „Euthanasie“ war dabei mehr als der Versuch, die Sterilisationspolitik des NS-Regimes zu diskreditieren. Es führte zwar kein gerader Weg von der Eugenik zur späteren „Euthanasie“ – Eugeniker plädierten nur in den seltensten Fällen für die Ermordung von Menschen, ging es ihnen doch um eine Auslese vor der Geburt. Gleichwohl hatte Faulhaber wie auch andere Bischöfe ein besonderes Sensorium für die zutage tretende Radikalisierung. Vor allem die Omnipräsenz von abwertenden Begriffen, mit denen Menschen als „minderwertig“ und „Volksschädlinge“ bezeichnet wurden, ließ in der Praxis die Hemmschwelle dafür sinken, kranke und behinderte Menschen zu ermorden.
Wohl gab es unter Medizinern und Juristen in der Weimarer Republik Bestrebungen, die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ freizugeben, wie der Titel einer berühmt-berüchtigten Schrift lautete – konsensfähig waren sie aber nie. Bei führenden Nationalsozialisten hatte es jedoch Andeutungen gegeben, die „Euthanasie“ gesetzlich zu regeln. Die NS-Propaganda betonte vor allem den ökonomischen Hintergrund ihrer Politik gegen kranke und behinderte Menschen.
So hieß es auf einem Bild in der Zeitschrift Neues Volk aus dem Jahr 1938: „60 000 RM kostet dieser Erbkranke die Volksgemeinschaft auf Lebenszeit. Volksgenosse[,] das ist auch Dein Geld!“ Es blieb dem Betrachter selbst überlassen, das Bild zu interpretieren. In erster Linie sollte es für das Sterilisationsgesetz werben, andererseits konnte es die Bereitschaft der Bevölkerung zur „Euthanasie“ erhöhen. Eindringlich warnte Faulhaber in seinem Fastenhirtenbrief vom Februar 1934 vor den Folgen des propagierten völkischen Utilitarismus: Sittlich war für Faulhaber nur, „was dem Willen und den Geboten Gottes entspricht“ – und nicht alles, „was dem Wohle des Volkes dient“. Die Folgen einer solchen Moralphilosophie hatte er klar vor Augen: „Es könnte ein Arzt auf den Gedanken kommen, die schmerzlose Tötung der sicher unheilbar Kranken, auch der unheilbar Geisteskranken, die sogenannte Euthanasie, erspare dem Staat große Fürsorgelasten und diene deshalb dem Wohle des Volkes.“
Zwangsläufig drängt sich nach diesen Zeilen die Frage auf, weshalb Faulhaber einerseits klar die möglichen Folgen des utilitaristischen Kalküls der Nationalsozialisten benannte, sich andererseits aber an der eugenischen Diskussion über kranke und behinderte Menschen beteiligte, sie in sozialdarwinistischer Manier als „Schädlinge der Volksgemeinschaft“ bezeichnete und in Konzentrationslagern internieren wollte. Die oft betonte Ambivalenz Faulhabers zeigt sich hier einmal mehr. Ob er sich damit von der gesellschaftlichen Mehrheitsposition abhob, ist eine andere Frage.
Morde vor der eigenen Haustür: Faulhaber und die „Euthanasie“
Im Sommer 1939 begann auf Anordnung Hitlers das, was Faulhaber stets befürchtet hatte: die Ermordung von kranken und behinderten Menschen. Patienten in Heil- und Pflegeanstalten wurden fortan in Meldebögen erfasst, anhand deren spezielle Gutachter über Leben und Tod der Männer und Frauen entschieden. Die Ökonomie des Krieges führte zu einer Ökonomie des Mordens, die in eigens eingerichteten Tötungsanstalten vollzogen wurde. Reichsweit ging aus der Münchner Anstalt Eglfing-Haar am 18. Januar 1940 der erste aller Transporte ab – bis zum Stopp der „Aktion T4“ sollten 2.025 Menschen von dort aus deportiert werden.
Faulhaber dürfte einer der Ersten außerhalb der Heil- und Pflegeanstalten gewesen sein, der wusste, was mit den angeblich nur „verlegten“ Patienten geschah. Die katholische Kirche gehörte nämlich zu den bedeutendsten Institutionen des deutschen Gesundheitswesens. 1939 waren 1/3 aller zivilen Krankenhausbetten und 1/6 aller Plätze der Heil- und Pflegeanstalten in Besitz der katholischen Kirche. Die katholischen Krankenschwestern stellten fast die Hälfte der etwa 200.000 Pflegerinnen. Ihnen konnte auf Dauer nicht verborgen bleiben, was man vor ihnen zu verheimlichen versuchte.
In der Erzdiözese München und Freising gab es insgesamt drei Pflegeeinrichtungen in Trägerschaft der katholischen Kirche: die Stiftung Ecksberg in Mühldorf, die Stiftung Attl bei Wasserburg am Inn und die Associationsanstalt Schönbrunn. Sie alle wurden ab September 1940 in die „Aktion T4“ miteinbezogen. Die dort tätigen Superioren und Anstaltsgeistlichen waren in ein eng verzweigtes Netz der Erzdiözese eingebunden, welches Faulhaber eine rasche Informationsgewinnung ermöglichte.
Otto Stauß, der als Pfarrvikar in Eglfing-Haar tätig war, hatte nach eigenen Angaben Faulhaber unmittelbar nach der Erstellung der ersten Meldebögen und erneut nach den ersten Abtransporten über die Geschehnisse informiert. Kurz darauf durchsuchte die Gestapo seine Wohnung, verhaftete ihn und verhörte ihn vier Tage lang in München. Einen Monat später enthob ihn der Anstaltsdirektor Hermann Pfannmüller, der selbst als „T4-Gutachter“ tätig war, seines Amtes. Faulhaber erreichten nun immer mehr Briefe von Angehörigen ermordeter Patienten.
Als erster Oberhirte protestierte der württembergische evangelische Landesbischof Theophil Wurm am 19. Juli 1940 bei Innenminister Frick gegen die Morde. Erzbischof Conrad Gröber tat es ihm gleich und formulierte am 1. August zusammen mit dem Rottenburger Generalvikar ein ähnliches Schreiben. Faulhaber musste sich nun mit der Frage auseinandersetzen, ob er persönlich eine Eingabe abfassen sollte. Zunächst sahen die meisten Bischöfe den Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz Bertram in der Pflicht, im Namen aller zu protestieren. Dieser konnte sich wiederum zu keinem offenen Protest durchringen und sprach am 11. August in einer Eingabe lediglich von „Gerüchten“, die das Volk beunruhigten. Kurz darauf gab es die ersten Verlegungen aus katholischen Einrichtungen des Münchener Erzbistums, unter deren Eindruck Faulhaber wohl zum ersten Mal die „Euthanasie“ in seinen Tagebüchern am 29. September 1940 erwähnte.
Der Kardinal war sich unsicher, wie er reagieren sollte. Gegenüber dem Jesuitenpater Josef Grisar gab er am 29. Oktober zu bedenken, dass er keine „eigene Eingabe machen“ könne, damit es kein „Nebenherarbeiten“ gebe. Faulhaber sah zwar nach wie vor Bertram in der Pflicht und wollte nicht parallel intervenieren, doch fühlte er sich immer stärker zu eigenem Handeln gedrängt. Einen Tag später suchte ihn der Apostolische Nuntius Cesare Orsenigo auf, der ihn nun vermutlich endgültig umstimmte. Er teilte Faulhaber mit, dass „die Verlegung der Geisteskranken“ zwar „nicht Sache des Heiligen Vaters“ sei, dieser aber die Bischöfe ermahne, „in solchen Grundfragen“ resoluter aufzutreten.
Das nahm sich Faulhaber zu Herzen. Er formulierte ein sechsseitiges Protestschreiben an Reichsjustizminister Gürtner, das einer völlig anderen Taktik folgte als das von Bertram. Faulhaber machte deutlich, dass er bestens Bescheid wusste. Er hatte eigens Domkapitular Martin Grassl damit beauftragt, Nachforschungen vor Ort anzustellen und einen Bericht zu verfassen. Infolgedessen sprach er nun nicht von Gerüchten, sondern von einem „öffentliche[n] Geheimnis“, einer „Tatsache“. Er nannte nicht nur drei der fünf Tötungsanstalten beim Namen, sondern ebenso, was die Behörden zu verschleiern suchten: die „amtliche Beseitigung von kranken Volksgenossen“. Er machte gegenüber Gürtner klar, dass auch das „kranke und leidende Menschenleben“ ein Recht auf Leben habe.
Faulhaber verteilte Abschriften seines Briefes an zahlreiche Besucher. Selbst im Ausland tauchten Kopien davon auf. Entgegen seinen Erwartungen erhielt auch er keine Antwort. Die eingeübte Praxis der Eingabepolitik war endgültig an ihr Ende gelangt, was Faulhaber nicht wahrhaben wollte. Er setzte weiter auf Protest im Arkanum und einer Mischung aus Kooperation mit wohldosierter öffentlicher Kritik, die nie grundsätzlich wurde. Sein Einsatz beschränkte sich nun auf sein persönliches Umfeld: Dem Leiter der Münchner Privatklinik Josephinum riet er Ende November 1940, „die Alten“ heimzuschicken, um sie nicht in Gefahr zu bringen.
Er ließ sich auch versichern, dass das Altersheim, in dem die Schwester seines 1917 verstorbenen Amtsvorgängers Bettinger lebte, nicht in die „Aktion T4“ miteinbezogen würde. Und nicht zuletzt sorgte er sich um seinen eigenen, ein Jahr älteren Bruder Ignaz, der aufgrund einer psychischen Erkrankung seit 1930 in der Heil- und Pflegeanstalt Lohr am Main untergebracht war. Kurz nach seinem Protestschreiben an Gürtner sorgte der Kardinal dafür, dass sein Bruder zunächst in die Pflegeanstalt der Barmherzigen Brüder nach Straubing und später in die Anstalt Römershag bei Bad Brückenau verlegt wurde. Dort starb er in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli 1943 – nach aktuellem Kenntnisstand – eines natürlichen Todes.
Obwohl Faulhaber um das Leben seines Bruders fürchten musste, konnten sich weder er noch ein anderer Bischof zu einem weiteren Protest, gar einem öffentlichen durchringen. Einzig auf einen gemeinsamen Hirtenbrief konnte sich die Fuldaer Bischofskonferenz einigen, der wie so häufig dermaßen verklausuliert formuliert war, dass ihn nur wenige Katholiken verstanden haben dürften. Das Morden ging weiter, mittlerweile dauerte es eineinhalb Jahre an. In Bayern war die „Aktion T4“ inzwischen weit fortgeschritten – im Gegensatz zu Westfalen, wo erst im Sommer 1941 die Deportationen in vollem Umfang begannen.
Der dortige Bischof, Clemens August Graf von Galen, wollte das nicht widerstandslos hinnehmen. Angesichts des drohenden Hinmordens seiner eigenen Diözesanen sah er als episcopus den Zeitpunkt gekommen, sein Wort in der Öffentlichkeit zu erheben. Schon zuvor hatte er zusammen mit Bischof Preysing aus Berlin Bertrams Kurs im Umgang mit dem Vernichtungsprogramm kritisiert. Preysing warf Bertram vor, dieser habe immerfort zum „Paktieren“ geneigt, also Kompromisse mit dem NS-Staat gesucht, um in erster Linie die Kirche zu beschützen.
Ähnliches gilt für Faulhaber, der mit seiner Suche nach dem „modus vivendi“ zugespitzt die Belange der eigenen Kirche stets höher gewichtete als den selbstlosen Einsatz für Verfolgte. Im Gegensatz zu Bertram wollte Faulhaber aber in jedem Fall verhindern, dass es zu einer Vereinbarung mit dem NS-Regime kam, durch welche die „Euthanasie“ gegen Erleichterungen bei der Durchführung faktisch akzeptiert würde. Zu solchen Zugeständnissen waren etwa Teile der evangelischen Kirche bereit.
Eine fast konträre Position zu Faulhaber und Bertram nahm Galen ein. Er forderte bereits 1936 einen „Wechsel in der Kampftaktik“ und schrieb im Mai 1941, dass im Angesicht der Patientenmorde nun der „Zeitpunkt des pflichtmäßigen öffentlichen Protests“ gekommen sei, der einschließe „gegebenenfalls die eigene Freiheit und das Leben zum Opfer zu bringen“. Galen nahm also das Martyrium in Kauf, als er am 3. August 1941 in Sankt Lamberti in Münster – der letzten von insgesamt drei kritischen Predigten – die Machthaber frontal angriff und ganz offen über die Vernichtung angeblich „lebensunwerten Lebens“ sprach. Er mahnte dabei die Kirchenbesucher: „Wenn einmal zugegeben wird, daß Menschen das Recht haben, ‚unproduktive‘ Mitmenschen zu töten […], dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben.“
Die Worte des Bischofs verbreiteten sich rasend schnell im ganzen Reich. Auch Faulhaber verteilte sie an viele seiner Besucher, wie die Tagebücher zeigen. Er hielt die Predigt aber wohl für einen Fehler. Laut Protokoll der Ordinariats-Sitzung vom 28. November 1941 sprach Faulhabers Generalvikar Buchwieser vom „falsche[n] Aufruf des Bischofs von Münster“ – beide lehnten öffentliche Proteste ab, weil sie glaubten, damit mehr Schaden als Nutzen zu generieren. Das Gegenteil war vorerst der Fall. Hitler entschied, dass das Mordprogramm gestoppt werden sollte. Am 24. August 1941 stellten die Tötungsanstalten im Reich ihren Betrieb ein.
Die Predigt traf die Machthaber in einer äußerst prekären Situation. An der Ostfront ließ der Sieg auf sich warten, was das NS-Regime in eine „Legitimationskrise“ stürzte. Eine innenpolitische Krise sollte deshalb unter allen Umständen abgewandt werden. Dennoch darf der Protest gegen die „Aktion T4“ nicht als reine Erfolgsgeschichte gewertet werden. Zum einen waren die Gründe für den Aufruhr stark durch die Befürchtung geprägt, früher oder später selbst in die Mordaktion miteinbezogen zu werden, weshalb der Protest gegen die Judenverfolgung, die sich ja gegen „die anderen“ richtete, deutlich zurückhaltender ausfiel.
Zum anderen stoppte dieser Protest die „Euthanasie“ auch nicht vollständig, da die „Kindereuthanasie“ sowie die Ermordung von alten und kranken KZ-Häftlingen ungebremst fortgesetzt wurde. Nicht zuletzt wurde zwar die „Aktion T4“ gestoppt, die Tötung von Patienten und Pfleglingen ging aber weiter – verändert wurde allein das Wie und Wo des Mordens.
So berichtete der Superior der Anstalt Ursberg Faulhaber am 17. November 1941, dass bei ihnen die „Abtransporte aufgehört“ hätten. Zwei Tage zuvor hatte Faulhaber aber bereits der Vikar von Eglfing-Haar besucht, der ihm mitteilte: „Es wird nicht mehr abtransportiert, sondern im Hause selber gemacht.“ Bei Pflegerinnen der Anstalt führte das zu schweren Gewissenskonflikten, wie der Vikar schilderte: „Wenn sie direkt fragen, darf ich das Pulver geben oder die Spritze?“ Bis jetzt war die Forschung davon ausgegangen, dass in Eglfing-Haar „nur“ Kinder mit Medikamenten ermordet wurden – bei Erwachsenen gab es lediglich Verdachtsmomente.
Die Aufzeichnungen Faulhabers scheinen aus diesem Verdacht Gewissheit werden zu lassen. Doch waren es nicht nur Medikamente, mit denen Menschen ermordet wurden. Seit Ende 1942 ließ man Patienten infolge des sogenannten bayerischen Hungerkosterlasses gezielt verhungern. „Wir halten sie fett- und eiweißlos, dann gehen sie von selber“, kommentierte Direktor Pfannmüller das Vorhaben. Mit Andauern des Kriegs und infolge der desaströsen Versorgungslage litt nun beinahe jeder Patient in Heil- und Pflegeanstalten Hunger. Unzählige Menschen starben infolge der grauenhaften Lebensumstände in den Anstalten. Sie überstiegen die durch die bei der „Aktion T4“ ermordeten Patienten bei Weitem: Während 70.000 Menschen in den Tötungsanstalten vergast wurden, dürften über 100.000 Männer, Frauen und Kinder im Deutschen Reich infolge der „dezentralen Euthanasie“ den Tod gefunden haben. Hinzu kommen die in Deutschland oft vergessenen zigtausenden Patienten aus den osteuropäischen Anstalten, die SS und Wehrmacht im Krieg erschossen.
Ab 1942 findet sich in den Tagebüchern kein Hinweis mehr darauf, was in den Anstalten vor sich ging. Nach der Predigt Galens wagte der Episkopat zwar mehr öffentliche Kritik – es folgten zwei Hirtenbriefe, in denen die Bischöfe den Film „Ich klage an“ kritisierten und vergleichsweise offen gegen die „Euthanasie“ protestierten. Faulhaber verlas als einziger deutscher Bischof ein Hirtenwort, das ähnlich scharf die „Euthanasie“-Morde verurteile wie die Predigt Galens. An der Situation in den Anstalten änderten all diese Worte nichts mehr.
Das dürfte auch daran gelegen haben, dass der Episkopat vor allem eine Wiederaufnahme der „Aktion T4“ verhindern wollte. Obwohl Faulhaber etwa durch den Vikar wusste, was in den Anstalten vor sich ging, erhob er sein Wort gegen die „dezentrale Euthanasie“ nicht. Doch wieso? Akzeptierte er wie viele andere, dass die Not der Kriegszeit Maßnahmen bedinge, die sich besonders stark auf die Schwächsten der Gesellschaft auswirkten? Schließt sich hier der Kreis zu sozialdarwinistischen Vorstellungen des Kardinals, die bei der Eugenik ihren Ausgangspunkt genommen hatten? Diese Frage wird die weitere Forschung beschäftigen.