Staat ohne Gott? Erwiderung

As part of the event "State without God?", 10.12.2018

Horst Dreier spricht in seinem Buch den Leser in einprägsamer Sprache und mit scharfsinnigen Analysen an. Er entwickelt eine Begriffsgeschichte der Säkularisierung, bietet einen kurzen Abriss der Verfassungsgeschichte der Religionsfreiheit, charakterisiert das Böckenförde-Diktum als Problemanzeige und deutet die Präambel des Grundgesetzes engagiert. Dieses ist ein Lesevergnügen. Doch wenn das alles dann zu einer sehr kategorischen Neutralitätsthese zusammengebunden und mit dem Titel „Staat ohne Gott“ versehen wird, umfängt einen doch eine gewisse Beklommenheit. Vor unseren Augen entsteht ein Staat, der in den Teilrationalitäten des freien Diskurses, des politischen Wettbewerbs und des Mehrheitsprinzips gänzlich einer Kultur der Werte entblößt zu sein scheint. Doch auch dieser Eindruck von einem nur formalen und funktionalen Staat ist nicht ganz ohne Hoffnung. Denn der Autor deutet in manchen Passagen des Buches an, dass nicht alles so gemeint ist, wie es gesagt wird.

Meine Auseinandersetzung mit dem Werk beginnt mit drei Kernfragen an das kategorische Neutralitätsprinzip, entwickelt dann eine Gegenthese, die aus der rechtlichen Realität unseres Verfassungsstaates gewonnen wird, und schließt mit zusammenfassenden Bemerkungen zur Bedeutung unserer Frage für das Verständnis von Staat und Christentum.

 

Drei Kernfragen

 

  1. Passt dieses Buch in die Moderne? Unser Verfassungsstaat begann – wie es die Bayerische Verfassung 1946 formuliert – mit dem Willen, „angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott“ geführt hat, eine neue rechtsstaatliche und demokratische Verfassung hervorzubringen. Dieses Trümmerfeld ist wiederaufgebaut. Doch leben wir gegenwärtig in einer Orientierungsarmut, die nach Friedensbotschaften, Verantwortlichkeiten des Menschen auch jenseits staatlicher und menschlicher Kontrolle sowie nach einer gewissensbildenden Moral ruft.

Die chinesische Wissenschaft hat Eingriffe in die Keimbahn des Menschen vollzogen und damit ein klassisches wissenschaftliches Tabu gebrochen.

Der Finanzmarkt wettet auf den Niedergang von Staaten und Unternehmen und erzielt dadurch Gewinne.

Die sozialen Medien verführen schon unsere Kinder, in der Anonymität andere Menschen – zunächst ihren Lehrer, dann ihren Richter und Konkurrenten – mutwillig einer Untat zu bezichtigen, ohne dafür in der organisierten Unverantwortlichkeit des Anonymen zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Krieg und Unfrieden bestimmten die Welt und der Mensch hält Waffen zu seiner Selbstvernichtung in Händen.

In dieser Dramatik eines Umbruchs stellt sich die Frage, ob wir uns auf die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ besinnen wollen, um unseren Kindern Frieden, Menschlichkeit und Recht dauernd sichern zu können.

  1. Kann es einen demokratischen Staat ohne Gott geben, wenn das Staatsvolk zu großen Teilen mit Gott lebt?

In einer Demokratie geht alle Staatsgewalt vom Staatsvolk aus. Der Staat repräsentiert das Staatsvolk. In dieser Demokratie verhält sich das Staatsvolk zum Staat wie die Hand zum Handschuh. Der Handschuh liegt leblos auf dem Tisch, wird erst beweglich, wenn die Finger der Hand in ihn hineinfahren. Ebenso ist der demokratische Staat auf die täglichen Impulse seiner Bürger angelegt. Und der Politiker, der das Staatsvolk repräsentiert, nimmt seinen Gott mit in die Politik.

Wenn das Staatsvolk zu großen Teilen nach Gott sucht, mit Gott im Gebet spricht, in der Gemeinschaft der monotheistischen Religionen – insbesondere des Christentums, des Judentums und des Islams – nach dem einen, nach demselben Gott fragt, kann dann der von diesem Volk gebildete Staat ohne Gott sein?

  1. Der moderne Staat lässt um des Friedens und der Freiheit willen die Frage nach der religiösen Wahrheit offen. Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Weltanschauung sollen in Deutschland in Friedlichkeit nebeneinander leben. Deshalb bleibt der säkulare Staat in Glaubensfragen, bei der Sinndeutung des menschlichen Lebens, bei der Erklärung der Welt neutral. Er nimmt nicht Partei für eine Religion und nicht eine Weltanschauung.

Das aber täte er, wenn er der These vom Staat ohne Gott und damit einem Säkularismus folgte, also für eine Weltanschauung Partei nähme, die für eine stetig fortschreitende Entkirchlichung kämpft. Neutralität heißt nicht, dass Gott aus dem Staat vertrieben werden müsste. Vielmehr bietet gerade die Neutralität dem Gottesglauben eine Plattform zur Entfaltung des Religiösen. Der Verfassungsstaat definiert nicht Gott, überwacht und bevormundet nicht die Religion, ist aber offen für Gott und legitimiert sich aus einer Gesellschaft, die in der Freiheit zur Religion lebt.

 

Gegenthese

 

Ich möchte dem Buch von Herrn Dreier die Gegenthese eines weltanschaulich neutralen, aber für Gott offenen Staates aus der Realität unseres Verfassungsstaates darlegen und begründen.

  1. Das überwiegend von Christen – 50 von 77 Mitgliedern des Parlaments erklären sich ausdrücklich als Christen – beschlossene Grundgesetz beginnt an der prominenten Stelle der Präambel: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Diese Anrufung Gottes konzipiert den Gegenentwurf zum Nationalsozialismus, der ohne Gott war und die Kirchen verfolgt hat. Sie fordert Nächstenliebe und Barmherzigkeit für die Menschen, auch für den Staat als Teil dieser Welt.

Die Anrufung Gottes weist auf die Begrenztheit staatlicher Gewalt, widerspricht jedem Absolutheitsanspruch totalitärer Staatsmodelle und jeder Staatsrechtfertigung aus einem Gottgnadentum, macht die Endlichkeit, Zeitlichkeit, Fehlerhaftigkeit des Menschen bewusst, erteilt jeder Staatsreligion und jedem staatlichen Atheismus eine Absage.

Mit der Anrufung Gottes nimmt das verfassunggebende Staatsvolk sich selbst vor dem Größeren, dem Erhabenen zurück, gibt sich ein Maß gegen Selbstzufriedenheit und Überheblichkeit. Der Verfassungsstaat ist in Verantwortung vor Gott entstanden und lebt in dieser Verantwortung.

  1. Das Grundgesetz unterbreitet das Angebot der Religionsfreiheit und erwartet – wie bei allen Freiheitsrechten –, dass der Grundrechtsberechtigte dieses Angebot annimmt. Die Berufsfreiheit berechtigt den Menschen auch, sich am Berufsleben nicht zu beteiligen und unter der Brücke zu schlafen. Der Finanz- und Sozialstaat würde jedoch an dieser Freiheitlichkeit zugrunde gehen, wenn die Menschen nicht von sich aus am Erwerbsleben teilnähmen. Das Angebot der Familienfreiheit zwingt niemanden, ein Kind zu haben. Bliebe aber die Mehrzahl der Menschen kinderlos, hätte diese Demokratie mangels Staatsvolks keine Zukunft mehr. Und stellen wir uns vor, am nächsten Sonntag seien Wahlen, und keiner ginge hin. Dann hat niemand das Recht verletzt, weil es in Deutschland keine Wahlpflicht gibt. Die Demokratie verlöre aber ihre kontinuierliche Legitimationsquelle durch Wahlen.

In ähnlicher Weise erwartet der religiös neutrale Staat, dass der Bürger sich mit Gott auseinandersetzt, religionsmündig wird, deswegen verantwortlich entscheiden kann, ob und inwieweit Religion und Weltanschauung für ihn erheblich sind. Das Grundgesetz sorgt sogar ausdrücklich dafür, dass die Menschen religionsmündig werden. Er organisiert den Religionsunterricht, in dem die Kinder in den Raum des Religiösen hineintreten und dort die Erfahrungen und Kenntnisse sammeln, um dann religionsmündig über die eigene Zukunft zu entscheiden.

Wie ein Kind, das kein Musikinstrument gelernt hat, keine reale Freiheit zum Musizieren gewinnt, wie ein Kind, das nicht lesen gelernt hat, von der Literatur, von der Wahl, oft auch vom Vertragsschluss ausgeschossen ist, so wird ein Kind, das Religion nicht erlebt und kirchliche Botschaften nicht empfangen hat, nicht mündig über seine Religionsfreiheit entscheiden können. Gleiches gilt für die Eltern, wenn sie anstelle des Kindes dessen Religionsfreiheit wahrnehmen. Für religiöses Verständnis können auch die Universitäten sorgen, insbesondere, wenn sie theologische Fakultäten haben und dort das Religiöse in Lehre und Forschung wirkt.

Der Staat überlässt die Wahrnehmung der Freiheit dem Freien, bemüht sich aber durch eine Wirtschaftspolitik, eine Familienpolitik und eine Religionspolitik, die tatsächlichen Voraussetzungen der Freiheit zu erhalten, zu schaffen und zu verbessern. Der freiheitliche Staat pflegt die Voraussetzungen, von denen er lebt. Er erntet nicht nur die Früchte des Baumes, sondern sorgt für den Erhalt des Baumes. Die Neutralitätsthese darf für den Staat nicht zur Selbstzerstörungsthese werden.

  1. Das Grundgesetz schützt die Sonn- und Feiertage als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. Der Verfassungsstaat unterbricht den Arbeitsrhythmus der Menschen als „Angebot“, um Feiertage, die in christlich-abendländischen Traditionen wurzeln und sich am Kirchenjahr orientieren, als stille Tage zu begehen. Dabei erfüllt der Gesetzgeber einen verfassungsrechtlichen „Schutzauftrag“, wenn er einen Tag der besonderen Stille mit Wirkung gegen alle und damit auch den nicht religiösen Teil der Bevölkerung rechtlich abschirmt und auch dem ökonomischen Nutzendenken eine Grenze setzt. So sagt es das Bundesverfassungsgericht in der Karfreitags-Entscheidung, aber auch schon in der Entscheidung zu den Berliner Ladenöffnungszeiten. Der Staat schafft den äußeren, für alle geltenden Rechtsrahmen für religiöse Ruhe und Stille, füllt ihn aber nicht mit religiösem und weltanschaulichem Gehalt.
  2. Der Verfassungsstaat bietet den Religionsgemeinschaften den Sonderstatus einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs. 5 WRV). Damit dürfen die Religionsgemeinschaften Steuern erheben, werden zu Dienstherren, gewinnen Organisations- und Rechtsetzungsgewalt gegenüber ihren Mitgliedern, können öffentlich-rechtliche Sachen bestimmten Zwecken widmen, gewinnen das Parochialrecht. Diese Körperschaften – so sagt das Bundesverfassungsgericht – schaffen die Voraussetzungen und den Rahmen, in dem die Religionsgemeinschaft „das Ihre“ zu den Grundlagen von Staat und Gesellschaft beitragen können. Dabei rücken Staat und religiöse Körperschaft in guter Nachbarschaft eng zusammen. Die Kirchensteuer z. B. wird vom staatlichen Gesetzgeber – dem Landesgesetzgeber – geregelt, schließt sich dann fast vorbehaltlos dem staatlichen Einkommensteuerrecht an, das in § 51a das staatliche Recht ausdrücklich für kirchliche Anliegen modifiziert. Sodann wird die Kirchensteuer von den staatlichen Finanzbehörden erhoben.

Diese Ausstattung der Religionsgemeinschaften mit öffentlich-rechtlichen Befugnissen zur Entfaltung ihre Religionsfreiheit hat allerdings Voraussetzungen. Trotz der Unbedingtheit der Glaubenssätze für Religionsgemeinschaften müssen diese die Gewähr der Rechtstreue bieten, eine Grundsatzbereitschaft erkennen lassen, Recht und Gesetz zu achten und fundamentale Verfassungsprinzipien (Art. 79 Abs. 3 GG) nicht zu gefährden.

Die Verfassung bietet den Religionsgemeinschaften damit einen besonderen Status der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit an. Die Religionsgemeinschaften sollen religiös auf Staat und Gesellschaft einwirken können, allerdings in einer Treue zum Recht im Sinne der Bereitschaft, den Verfassungsstaat in seiner Struktur zu achten.

  1. Wenn wir das Verständnis vom Staat nochmals ins Grundsätzliche wenden, beobachten wir, dass der Staat Grundsatzfragen nach Gott, Liebe, Glück und Tod offenlässt, sich aber durchaus dafür einsetzt, dass diese Lebensinhalte im Leben der Menschen einen angemessenen Platz finden können.

Er schützt mit seinem Strafrecht, seinem Polizeirecht, seinem Gesundheitsrecht und seinem Straßenverkehrsrecht vor dem Tod, pflegt auch eine Kultur der Bestattung und des Begräbnisses. Er erzieht in den Schulen zur Fähigkeit zur Liebe, zur Nächstenliebe, zur Mutterliebe. Schule, Theater und Opern vermitteln insbesondere in den Liebesdramen die urmenschliche Sehnsucht nach Liebe. Der Staat schafft und fördert die Rahmenbedingungen für Liebe in Ehe und Familie, in Kind und Kirche, in Literatur und Staatstheatern. Er garantiert jedem Menschen das Recht, sein Glück zu suchen, befähigt zu dieser Glücksuche durch Bildung und Ausbildung, Verfassungskultur und auch durch Stabilitätspolitik.

Gleiches gilt für die Religionen: Nur der Mensch hat seinen Gott. Der Staat aber schafft Voraussetzungen, damit der Mensch seinen Gott und seine Weltanschauung finden und mit seiner Religion und Weltanschauung leben kann.

 

Summary

 

  1. Das Neutralitätsgebot ist ein Friedenskonzept, darf nicht in ein Kampfkonzept umgedeutet werden, das jeden Anklang an Gott aus der Staatlichkeit vertreiben würde.
  2. Das Neutralitätsgebot steht nicht im Text des Grundgesetzes geschrieben, sondern ist aus subjektiven Rechten – der Religionsfreiheit, des Benachteiligungsverbotes wegen der Religion, der gleichen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, des gleichen Zugangs zu öffentlichen Ämtern und des Staatskirchenrechts – entwickelt worden. Deshalb ist das Neutralitätsprinzip kein alles andere überwindendes Oberprinzip, sondern ein Abwägungsprinzip, das der gesetzlichen Ausgestaltung zugänglich ist.
  3. Unser Staatsverständnis ist das des am Bürgerleben mit seinen Tugenden und Freuden teilhabenden Staates, der die Bürger in ihrer Freiheit fördert und unterstützt, damit zugleich die freiheitlichen und demokratischen Grundlagen seiner eigenen Existenz pflegt.
  4. Wenn der Staat dabei auf die Ressourcen der Religionskultur zurückgreift, findet er im Christentum zentrale Impulse, denen er seine Entstehung verdankt und die seine Zukunft prägen werden. Dies mögen zwei Zitate belegen:

Heinrich Böll sagt 1957, er würde, „selbst die allerschlechteste christliche Welt“ der besten aller anderen Welten vorziehen, „weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab es für sie: Liebe für die, die in einer gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen“.

Eugen Biser stellt 2007 fest: „Das Christentum hat sich in aller Welt ausbreiten können, weil es die Wärme der Barmherzigkeit in die Kältehölle der Antike hineingetragen hat.“

Der Mensch von heute denkt an andere Kälten, braucht aber dieselbe Wärme. Entscheidend ist, dass Staat und Bürger dem Christentum mit Hoffnung und nicht mit Argwohn begegnen und dass die Christen diese Hoffnung rechtfertigen und die Botschaft von Frieden und Nächstenliebe in die Welt bringen. Dann dürfen wir auch dem Staat weniger in Abwehr und mehr mit Vertrauen begegnen.

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