I.
Die biblische Schöpfungsgenese der Welt liegt als Grundgedanke auch der modernen Theorie des Urknalls in der Physik zugrunde. Bekanntlich geht die Urknallhypothese von einem Universum aus, welches am Anfang aus einem immens heißen Feuerblitz entstanden ist, sich dann innerhalb von ungefähr 14 Milliarden Jahren wie ein Luftballon auf seine heutige Größe aufgeblasen hat und sich dabei fast auf den absoluten Temperaturnullpunkt abgekühlt hat. Dabei wird angenommen, dass unser Universum einzigartig ist, das heißt, es gibt nur ein einziges Universum, indem die Naturgesetze der Physik an jeden Punkt und zu jeder Zeit gleichermaßen Gültigkeit besitzen. Es ist sehr bemerkenswert, dass wir heutzutage in der Physik im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie Gleichungen und Formeln zur Verfügung haben, mit denen wir in großer Übereinstimmung mit den Beobachtungen die Prozesse im Universum kurz nach dem Urknall berechnen können. Ebenso liefern uns dieselben Gleichungen eindeutige Vorhersagen über das Schicksal des Universums in der fernen Zukunft, viele Milliarden Jahre entfernt von uns. Man spricht hier also von einer Theorie, die ein hohes Maß an Vorhersagekraft besitzt.
Ähnlich wie in der modernen Kosmologie gibt es auch in der Welt des Mikrokosmos, nämlich in der Welt der Elementarteilchen, eine allgemein akzeptierte Theorie, die alle Naturvorgänge sehr präzise und mit überwältigender Übereinstimmung mit allen Experimenten beschreibt. Diese Theorie wird als das Standardmodell der Elementarteilchen bezeichnet und beruht auf den Gesetzen der Quantenmechanik von Max Planck, Werner Heisenberg, Paul Dirac, Richard Feynman und vielen anderen. Dieses Modell besagt nun, dass auch die Gesetze, nach denen sich die Elementarteilchen bewegen und miteinander in Wechselwirkung treten, in der Tat allumfassend sind und überall im Kosmos gelten. Zwar beinhaltet das Standardmodell eine Reihe von nicht erklärten, wie man sagt freien Parametern, wie z.B. die Stärke der elektromagnetischen Anziehungskraft, oder auch die verschiedenen, breit gestreuten Massen der Elementarteilchen, aber die Mehrzahl der Physiker erwartet, dass all diese Größen aus einer allumfassenden Theorie folgen und dort auch eines Tages eindeutig berechenbar sein werden. Eine solche Theorie, die zwar bis heute noch nicht gefunden wurde, wird gerne als Theory of Everything oder im Deutschen als die Weltformel bezeichnet. Würden wir wirklich diese Weltformel finden, dann könnten wir im Prinzip alles aus dieser Formel ausrechnen, obwohl das für komplexe Systeme wir Festkörper oder biologische Systeme praktisch unmöglich ist.
Wir wollen uns hier mit der Frage beschäftigen, ob die Grundlagen der modernen Physik wirklich so eindeutig sind, wie es oben in aller Kürze beschrieben wurde. Gibt es wirklich nur ein einziges, sich ausdehnendes Universum mit überall universell gültigen Gleichungen? Oder gibt es verschiedene Bereiche im Universum, in denen andere Naturgesetze gelten? Existieren eventuell sogar mehrere Universen, also gewissermaßen Parallelwelten, die sich bis jetzt hartnäckig unserer Beobachtung entzogen haben? In diesen Parallelwelten könnten dann gänzlich andere Naturgesetze gelten, oder die Massen der Elementarteilchen hätten vollkommen verschiedene Werte, die sich von ihren gemessen Größen eklatant unterscheiden.
Wir müssten uns dann wahrscheinlich auch darauf einstellen, dass es auch schon eine Zeit vor dem Urknall gab, wobei der Urknall lediglich den Moment darstellt, an dem unser Universum in seiner uns vertrauten Form entstand. Das heißt, es stellt sich die Frage, ob es schon Naturgesetze vor dem Urknall gab? Diese Fragen rückten in den letzten Jahren mehr und mehr in den Vordergrund der Physik, und es gibt in der Tat einige Anzeichen dafür, dass sich die Physik auf einen dramatischen Paradigmenwechsel bezüglich unseres Verständnisses von Raum und Zeit vorbereitet, ja dass sich dieser sogar bei einigen Physikern bereits vollzogen hat. In anderen Worten, die Existenz von Parallelwelten, auch oft als Multiversen bezeichnet, ist nicht mehr reine Phantasie, sondern ist in den Bereich der physikalischen Wirklichkeit gerückt. Andererseits wirft man den Verfechtern der „Multiverse-Theorie“, oder sollte man besser sagen der „Multiverse-Spekulation“, vor, dass sie sich mit diesen Betrachtungen immer mehr von einer strengen und überprüfbaren Wissenschaft entfernen, und quasi in das Reich der Metaphysik vordringen.
II.
Im wesentlich wurde das Eindringen der Multiversen in die theoretische Physik durch neue Erkenntnisse in der String theory eingeleitet. Stringtheorie ist in der Tat eine konkrete, physikalische Theorie, die die Existenz von Multiversen nicht nur zulässt, sondern geradezu herausfordert. In der Stringtheorie gibt es nämlich eine riesige Vielzahl möglichen Welten, die unter anderem die Form von höherdimensionalen Membranen (D-Branen) besitzen, und die als physikalische Lösungen der Stringtheorie existieren. Diese Gesamtheit aller möglichen Stringwelten wird auch als Landschaft der Stringtheorie bezeichnet, ganz ähnlich einer realen Landschaft mit Bergen und Anhöhen sowie Tälern, Mulden und Rinnen. Die Landschaft der Stringtheorie ist natürlich ein relativ abstrakter Raum: die Täler und Mulden entsprechen Stringwelten, die eine relativ niedrige potenzielle Energie besitzen, während die Berggipfel Multiversen mit sehr hoher potentieller Energie darstellen. Täler und Mulden bezeichnet man deswegen auch als die verschiedenen Grundzustände in der Stringlandschaft. Das bedeutet, dass Universen mit niedriger Energie wahrscheinlicher sind als Universen mit hoher Energie, ganz ähnlich im Vergleich mit einer Kugel, die sich aus energetischen Gründen viel lieber und wahrscheinlicher in den Tälern und Mulden in einer ganz realen Landschaft aufhält als auf deren Anhöhen. Unser Universum, in dem wir leben, entspräche in dieser Landschaft von möglichen Welten auch genau einem ganz bestimmten Grundzustand.
Die Idee einer Landschaft mit energetischen unterschiedlich hohen Gipfeln und Tälern ist an sich gesehen nicht vollkommen neu; insbesondere in der Festkörperphysik haben wir es normaler Weise mit hochkomplexen Systemen mit einer größeren Anzahl von Lösungen zu tun, die auch alle im Rahmen einer Landschaft beschrieben werden können. Die verschiedenen Aggregatzustände von Materialien wie Wasser sind hierfür ein gutes Beispiel. Neu in der Stringtheorie ist die Tatsache, dass die verschiedenen Aggregatzustände der Strings ganz verschiedenen Welten und Universen zugeordnet werden müssen. Besonders frappierend ist ferner die Entdeckung, dass die es eine riesige Anzahl von Mulden, also Zuständen mit niedriger Energie in der Stringtheorie gibt. Theoretische Abschätzungen liefern hier Zahlen von der Größenordnung von 10100 oder sogar 101000, also weit mehr als zum Beispiel die typische Anzahl von H2O Molekülen in einem Liter Wasser. Verbindet man die Idee einer Landschaft von Multiversen mit der Allgemeinen Relativitätstheorie, dann erhält man ein Szenario, in dem auch spontane Übergänge zwischen verschiedenen Universen möglich sind. Das bedeutet, Universen können geboren werden, und der Urknall unseres Universums ist höchstwahrscheinlich nur die Geburt eines neuen Universums in der riesigen Landschaft der Multiversen.
Die offensichtliche Existenz einer Stringlandschaft ist sicherlich ein zweischneidiges Schwert. Einerseits besitzen eine beachtliche Zahl dieser Stringwelten Eigenschaften, die unserem Universum ganz verblüffend nahe kommen. Insbesondere ist Stringtheorie die bis jetzt einzige Theorie, die Gravitations- und Eichwechselwirkungen unter einem theoretischen Dach miteinander vereinigt. Das Standardmodell der Elementarteilchen lässt sich, nach allem, was man heute über die Stringtheorie weiß, wohl aus dieser Theorie herleiten. Andererseits wurde durch die Stringtheorie zum ersten Mal wirklich klar, dass die Suche nach einer eindeutigen Weltformel, die eindeutige Vorhersagen auch für zukünftige Experimente liefert, wahrscheinlich zu naiv gewesen ist. Welchen Sinn ergibt nun aber ein physikalisches Weltbild, in dem es eine Vielzahl von erlaubten Universen gibt, in denen darüber hinaus noch ganz verschiedene Naturgesetze gelten könnten? Anscheinend geht mit dem Bild der Multiversen ja ein Großteil der Vorhersagekraft in der Physik verloren, wenn es wirklich eine riesige Anzahl von Möglichkeiten für die Naturkonstanten, die Kraftgesetze, die Anzahl und die Eigenschaft der Elementarteilchen und für die Struktur des Universums gibt. Können wir dann überhaupt noch von einer Wissenschaft sprechen, die Vorhersagen macht und damit auch überprüfbar ist?
III.
Darüber ist unter den Fachgelehrten nun ein regelrechter Disput ausgebrochen. Ein Teil der Physiker beruft sich als Ausweg aus diesem Dilemma auf das so genannte anthropische Prinzip. Dieses besagt, dass unser Universum in keinster Weise speziell ist! Vielmehr lassen sich aus einer Vielzahl von Möglichkeiten die Eigenschaften unseres Universums nur dadurch erklären, das sie die Voraussetzung für intelligentes Leben, oder etwas abstrakter ausgedrückt, für das Vorhandensein von Beobachtern im Universum sind. Es ist eine in der Biologie und in der Lehre über die Entwicklung der Lebewesen allgemein akzeptierte Tatsache, dass die Voraussetzung dafür, dass sich Leben und auch intelligente Lebensformen entwickeln, sehr von den Eigenschaften der Umwelt abhängen. Aber lässt sich das anthropische Prinzip auch auf die fundamentale Physik der Elementarteilchen und des Kosmos übertragen? Es ist unbestritten, dass das anthropische Prinzip geradezu die Existenz von Multiversen voraus setzt.
Es ist durchaus bemerkenswert, dass auch das anthropische Prinzip durchaus Vorhersagen im Rahmen einer Wahrscheinlichkeitstheorie machen. So hat etwa Weinberg schon im Jahre 1987 bemerkt, dass das athropische Prinzip eine nichtverschwindende Dunkle Energie, also eine von Null verschiedene kosmologische Konstante vorhersagt, deren vorgesagter Wert erstaunlicher Weise gut mit dem seit einigen Jahren experimentell bekannten Größe übereinstimmt.
Obwohl es, wie schon gesagt, viele verschiedene Lösungen für die Gleichungen der Stringtheorie gibt, lassen sich auch im Rahmen der Stringtheorie interessante Aussagen treffen, die unter Umständen in naher Zukunft am CERN in Genf (das LHC Experiment) überprüft und damit entweder bestätigt oder auch widerlegt werden können. Deswegen möchten wir im Folgenden kurz etwas genauer auf die Struktur der Stringtheorie eingehen. Die mathematische Konsistenz der Stringtheorie impliziert, dass das Universum nicht nur drei räumliche Dimensionen besitzt, sondern deren neun haben muss, d.h. in der Stringtheorie besitzt die Welt unter der Einbezugnahme der Zeit zehn Raum-Zeit Dimensionen. Diese zehn-dimensionale Welt ist praktisch mathematisch eindeutig, es gibt nur fünf verschiedene Spielarten der Stringtheorie in zehn Raum-Zeit Dimensionen, die man in 11 Raum-Zeit Dimensionen sogar im Rahmen der M-Theorie zu einer Theorie vereinigen kann. Dies ist an sich ein sehr bemerkenswerter Umstand und hat lange die Hoffnung genährt, dass man aus der zehn-dimensionalen Stringtheorie oder aus der M-Theorie in 11 Dimensionen eindeutige Schlussfolgerungen für die Teilchenphysik oder auch für die Kosmogie ziehen kann.
Woher kommt also die Vielzahl der Möglichkeiten in der Stringtheorie, die die Eindeutigkeit im gewissen Sinne total zerstören? Das liegt darin begründet, dass man zur Beschreibung der beobachteten vier-dimensionalen Welt annehmen muss, dass sechs räumliche Dimensionen in der Stringtheorie ein kompaktes, sehr kleines räumliches Gebilde darstellen, welches für den Experimentalphysiker bis heute unbeobachtbar geblieben ist. Dieser Prozess wird als Kompaktifizierung von zehn auf vier Raum-Zeit Dimensionen bezeichnet. Wie schon seit langem bekannt ist, geht durch den Kompaktifizierungsprozess die Eindeutigkeit der Stringtheorie vollkommen verloren, denn es gibt eine riesige Anzahl von mathematisch in sich konsistenten kompakten Räumen, die man zur Beschreibung der Stringtheorie verwenden kann. Jeder dieser kompakten Räume beschreibt ein gültiges Vakuum der Stringtheorie, stellt also einerseits einen erlaubten Grundzustand in der oben beschriebenen Stringlandschaft dar. Andererseits beschreiben die verschiedenen kompakter Räume im allgemeinen ganz verschieden aussehende Universen mit unterschiedlichen Elementarteilchen und unterschiedlichen Wechselwirkungen zwischen ihnen. Sogar die Dimension der Raum-Zeit nach der Kompaktifizierung ist unbestimmt (und somit streng genommen auch eine anthropische Größe).
Auch die Stringtheorie zusammen mit der Hypothese über das Multiversum stellt vermutlich nicht die endgültige Theorie für alle Physik in der Form einer universellen Weltformel dar. Wichtig ist jedoch, dass wir mit ihr konkret rechnen und physikalische Probleme bearbeiten können. Dennoch sind sich die meisten Physiker schließlich und endlich doch darin einig, dass jede Theorie wie auch die Stringtheorie auf kurz oder lang gesehen einer experimentellen Bestätigung bedarf. Dazu bedarf es sicherlich noch viel Geduld und vermutlich auch noch viel Zeit, sowie es uns auch die lange, fast 50-jährige Zeitspanne von der theoretischen Entdeckung des Higgsteilchens bis zu seinem experimentellen Nachweis gelehrt hat. Der direkte Nachweis von Effekten der Stringtheorie und der Quantengravitation ist noch weitaus schwieriger wie der Nachweis des Higgsteilchens, und wir können deswegen sehr gespannt in die Zukunft blicken, ob sich ein ähnliches Wunder wie bei der Entdeckung des Higgsteilchens wiederholen kann.