Die Stoa war die bedeutendste Bewegung der hellenistischen Philosophie. Vom dritten vorchristlichen bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert hingen ihr eine große Zahl der Gebildeten im griechisch-römischen Kulturkreis an. Ihr Einfluss blieb nicht auf die pagane Antike beschränkt. Christliche Theologie und Lebensform sind über die frühen Kirchenväter (etwa Clemens von Alexandrien und Origenes) in Einverständnis und Auseinandersetzung von der Stoa mitgeprägt. Und von der Renaissance über die Aufklärung bis in die Moderne sind die Auswirkungen insbesondere der stoischen Moral-, Rechts- und Staatsphilosophie auf die westliche Kultur und Zivilisation von durchdringender Bedeutung.
Die Philosophie-Geschichtsschreibung unterscheidet zwischen Alter, Mittlerer und Jüngerer Stoa. Die großen Figuren der Alten Stoa waren Zenon von Kition, Kleanthes von Assos und Chrysipp aus Soloi, die der Mittleren Panaitios von Rhodos und Poseidonios aus Apameia. Unter den jüngeren Stoikern ragen Seneca, Epiktet und Mark Aurel heraus.
Unser Zugang zur altstoischen Philosophie wird durch den Umstand erschwert, dass die Werke der Autoren der Alten und Mittleren Stoa sämtlich verloren sind. Wir müssen die Gedanken und Argumente ihres Systems, gegliedert in Logik, Physik und Ethik, aus Zitaten und Berichten späterer Autoren rekonstruieren. Das belastbare Ergebnis dieser archäologischen Geistesarbeit ist das Bild eines etwas formelhaften Gedankenskeletts, dem Fleisch und Blut der Darstellung fehlen. Dies betrifft vor allem den großen Bereich der Logik, zum erheblichen Teil auch den der Physik, das heißt der Naturphilosophie einschließlich der Theologie, Bereiche, in denen die alten und mittleren Stoiker nach allem, was wir wissen, auch Großes geleistet haben. Es trifft weniger auf das Gebiet der Ethik zu; hier können wir uns ein lebendigeres Bild ihrer eindrucksvollen Theorie verschaffen.
Eine wichtige Vermittlerrolle spielt dabei Cicero, der noch Zugang zu den Originalwerken hatte und Poseidonios persönlich gekannt hat. Sein Referat zur altstoischen Ethik in De finibus bonorum et malorum ist recht genau und verlässlich. Zudem bietet er mit De officiis eine Schrift, in der er seine eigenen Gedanken explizit auf eine mittelstoische Vorlage stützt. Und aus der späten Stoa besitzen wir nun doch Originalwerke ethischen Inhalts, allem voran Senecas Epistulae ad Lucilium, Epiktets Diatriben und Mark Aurels meditative Selbstbetrachtungen. Diese Texte basieren auf einer Kontinuität der Überlieferung. Doch sie sind von einem weitgehend popular-philosophischen und pädagogischen Zuschnitt. Und sie lassen die gedankliche Auseinandersetzung und Frontstellung gegen konkurrierende Philosophien vermissen. Dies bedingt, dass die eminente Wirkung der Stoa bis in die Neuzeit und Moderne nicht von ihrem terminologisch ausgefeilten und argumentativ hochdifferenzierten fachphilosophischen Gesamtsystem, sondern von der Ethik, und zwar von deren popular-philosophischer Ausprägung bestimmt ist.
Die Kunst, seine Lebensrolle gut zu spielen
Im ersten Buch von Ciceros Schrift De officiis findet sich in den Abschnitten 107 bis 121 eine systematische Erläuterung dessen, was man heute als stoische Theorie einer authentischen Persönlichkeit bezeichnen könnte. Ciceros Schrift orientiert sich nach eigener Auskunft in den ersten beiden Büchern an Panaitios‘ (verlorenem) Traktat Über passendes Verhalten (Peri tou kathêkontos). Die Theorie fügt sich in eine längere Diskussion darüber, was decorum/prepon (passend, sittlich schön, erfreulich und überzeugend) ist im Habitus und Verhalten eines Menschen. Sie unterscheidet vier Gesichtspunkte, die wir uns vor Augen halten müssen, wenn wir vor der Frage stehen, was zu tun für uns passend ist (quid deceat). Diese vier leitenden Gesichtspunkte bei sittlich relevanten Entscheidungen nennt Cicero „personae“.
Das griechische Wort für „persona“ war „prosōpon“. Das Wort entstammt der Vorstellungswelt des Theaters, wo es zunächst die Maske, dann auch im übertragenen Sinn die Rolle meint, die ein Schauspieler in einem Drama in Wort und Tat in Szene setzt. Die Stoa benützt die Metaphorik des Theaters (vgl. etwa Cicero, De fin. 3, 24) zur Erläuterung der menschlichen Stellung in der Welt: Das Weltgeschehen ist ein Drama, von Gott geschrieben und inszeniert, in dem jedem Menschen eine bestimmte Rolle zu spielen zugedacht ist.
Die Kunst zu leben besteht für ihn darin, seine ihm eigene Rolle möglichst prägnant zu erfassen und möglichst gekonnt zu spielen. Was nun diese stoische Theorie der vier personae so aktuell erscheinen lässt, ist der Gedanke, dass der Weg, sein Leben als eine überzeugende Persönlichkeit zu leben, nicht nur über die Treue zur allgemein menschlichen Natur, sondern auch über die Treue zur natürlich vorgeprägten Eigenart und über die genaue Berücksichtigung der faktischen Lebensumstände führt.
„Man muss … verstehen, dass wir von der Natur gleichsam mit zwei Rollen versehen sind: Die eine ist uns gemeinsam aufgrund des Umstands, dass wir alle Anteil haben an der Vernunft und ihrer Vorzüglichkeit, aufgrund deren wir aus dem Tierreich herausragen, von der alles sittlich Gute und Schöne sich herleitet und über die wir einen Weg zur Auffindung des Passenden finden; die andere aber ist jene, die ganz speziell dem Einzelnen zugewiesen ist.“ (De off. 1, 107).
Vernunft zu haben, sprachfähig zu sein ist die Voraussetzung dafür, im Weltgeschehen überhaupt eine aktive Rolle zu spielen, und nicht lediglich lebendes Requisit oder Ausstattungsstück zu sein. Eine vorgegebene Rolle selbst in Szene zu setzen, setzt voraus, sich über seine Stellung im Ganzen und die zu erbringende Leistung wenigstens prinzipiell erkennend im Klaren zu sein. Alle Menschen haben Anteil an der Vernunft. Diese Gemeinsamkeit bedingt eine uns allen gemeinsame Rolle: die Rolle des prinzipiell freien Bürgers im Bereich des sittlich Guten und Schönen, dem Bereich der selbstgegebenen politischen und gesellschaftlichen Ordnung, dem Bereich der theoretischen Wissenschaften und praktischen Künste, Bereiche, die den nicht-vernunftfähigen Tieren verschlossen sind.
Drei Aspekte des hier ins Spiel gebrachten Vernunftbegriffs scheinen mir beachtenswert. Erstens: Die Vernunftfähigkeit ist uns Menschen gemeinsam. Man kann seine Rolle des Vernünftig-seins niemals isoliert, sondern nur mit anderen Menschen realisieren. Vernunft ist eine Sache der Sprache. Sprache ist immer ein Spiel, das man miteinander spielt, nach Regeln, die allen gemeinsam sind. Zweitens: Vernünftig-sein meint nicht nur und primär, sich über einen Kanon rein formaler Fähigkeiten und Regeln zu definieren. Vernunftfähigkeit wird vielmehr als Möglichkeit des Zugangs zu wahren Gedanken über die Welt und den Sinn des Weltgeschehens verstanden. Und drittens: Vernunftfähigkeit schließt die Möglichkeit ein, Leistungen des sittlich Guten und ästhetisch Schönen zu erbringen. Hier besteht eine Differenz zum Tierreich, die die Stoa sich nicht scheut, mit dem Ausdruck „praestantia“ (Herausragen) zu benennen und zu bewerten.
Eine überzeugende Persönlichkeit wird man nur, wenn man diesen drei Aspekten der uns allen gemeinsamen Vernunft in seiner Person gerecht wird. Doch diese universalistische Seite menschlicher Vernunft reicht nicht. Wir müssen auch die zweite Rolle erfüllen, die die Natur uns zugedacht hat, eine Rolle, die für uns als vernünftige Individuen spezifisch ist. Diese Rolle eröffnet sich einem genau beobachtenden und interpretierenden Blick auf unsere naturgegebene, unverdorbene Eigenart (De off. 1, 107-110). Das Ziel einer Gleichförmigkeit, Schönheit und Stimmigkeit des Lebens und Handelns (aequabilitas universae vitae, tum singularum actionum, De off. 1, 111) erreicht ein Mensch nur, wenn er in seiner Lebensführung auch seine naturgegebene Eigenart respektiert; man verfehlt sie, „wenn man die Natur anderer nachahmt und die eigene aufgibt.“ (De off. 1, 111). „Wir haben nämlich so zu handeln, dass wir nichts gegen die allgemeine Natur anstrengen, dass wir aber – in ihrem Rahmen – unserer eigenen Natur folgen, so dass wir, auch wenn andere Ziele gewichtiger und besser sind, unsere Bestrebungen doch am Maßstab unserer eigenen Natur ausrichten“ (De off. 1, 110).
Der Mensch ist nicht nur vernunftfähiges Gattungswesen, sondern auch, von der Natur dazu gedacht, einzigartiges Individuum. Man muss zu seiner natürlichen Eigenart stehen und ihr in Lebensplanung und Lebensführung Gestalt und Ausdruck verleihen. Gefordert ist hier nüchterne, ehrliche, kritische Selbstbeobachtung und Selbstbeurteilung. „Daher möge jeder seine natürliche Art und Beschaffenheit erkennen und sich als durchdringender Richter seiner Vorzüge und unzulänglichen Seiten erweisen, damit nicht die Schauspieler über mehr Klugheit zu verfügen scheinen als wir. Diese wählen nämlich nicht die besten, sondern die für sie angemessensten Stücke aus“ (De off. 1, 114).
Welche Bedeutung diese durch unsere natürliche Eigenart vorgezeichnete Rolle für einen Stoiker besitzt, macht Ciceros Bemerkung zu Cato Uticensis‘ Suizid deutlich. Dieser hatte sich nach der gegen Caesars Truppen verlorenen Schlacht bei Tapsus (46 v. Chr.) selbst ins Schwert gestürzt. Das Beispiel verdeutlicht, wie sehr die Stoa bei all ihrem humanen Universalismus einer Pluralität sehr verschiedener, selbstverantworteter, thematisch überzeugender Lebensformen und Biographien Raum gibt: „Und diese Verschiedenheit der Naturen hat solche Kraft, dass mitunter der eine sich selbst den Tod zufügen muss, der andere aber in derselben Lage nicht. War denn etwa Marcus Cato in einer anderen Lage als die anderen, die sich in Afrika Caesar ergaben? Und doch hätte man es den anderen vielleicht als Fehler (vitium) angerechnet, wenn sie sich das Leben genommen hätten; und zwar deshalb, weil ihr Leben milder (lenior) und ihre Verhaltensweisen lockerer (faciliores mores) waren. Da die Natur Cato mit unglaublichem Ernst (gravitas) ausgestattet, und er diese Strenge mit beständiger Konsequenz verstärkt hatte und stets seinem Vorsatz und einer einmal getroffenen Entscheidung treu geblieben war, musste er eher sterben als den Anblick des Tyrannen ertragen.“ (De off. 1, 112).
Zu diesen beiden Rollen, der Rolle gemeinsamer Vernunft und der Rolle natürlicher Eigenart, kommen nun noch weitere dazu. Zu ihnen „gesellt sich eine dritte, die uns irgendwelche Zufälle oder die Zeitumstände zuweisen; und auch noch eine vierte, die wir uns selbst nach eigenem Urteil zufügen. Denn Dinge wie Königtümer, militärischer Oberbefehl, Adel, Ehrenämter, Reichtum und Einfluss und ihr Gegenteil sind zufallsbedingt und von den Zeitumständen abhängig. Welche Rolle wir aber selbst spielen wollen, das geht aus unserem eigenen Willen hervor. So wenden sich die einen der Philosophie, die anderen dem bürgerlichen Recht, wieder andere der Redekunst zu; und selbst im Falle der Tugenden will der eine in dieser, der andere in jener herausragen“ (De off. 1, 115).
Die dritte persona hat offensichtlich die gesellschaftliche und politische Lage zum Inhalt, in der wir uns, durch Zufall und Zeitumstände bedingt, als Menschen vorfinden. Wir wissen, dass die Stoa keinen objektiven Zufall kennt: Wenn wir etwas zufallsbedingt nennen, so drücken wir nur unser Unwissen aus über das Netz der Ursachen, die zum besagten Ereignis oder zu der genannten Lage geführt haben. Alles, was von uns unabhängig ist und geschieht, ist vielmehr Ergebnis und Ausdruck vernünftiger göttlicher Providenz und göttlichen Wirkens. Es ist Teil des von Gott uns zugedachten Lebensrahmens und der uns von seinem Geschick gebotenen Lebenssituation. Mit dieser unserer schicksalhaften Lage sind bestimmte Entscheidungen und Handlungsweisen als passend oder unpassend verbunden. Die vernünftige Interpretation dieser Umstände bringt für den Einzelnen bestimmte Anforderungen, aber auch Möglichkeiten und Grenzen der selbsttätigen und selbst zu verantwortenden Lebensführung zum Vorschein.
Mit der vierten persona ist offensichtlich das alte ethische Motiv der Lebenswahl angesprochen. Sie ist einmal das Ergebnis einer freien Entscheidung, das Resultat der praktischen Reflexion auf die Aspekte der anderen drei Rollen. Sie ist zum anderen, wenn einmal getroffen und verfolgt, eine weitere ethische Determinante, wenn wir uns jeweils fragen, was zu tun für uns angemessen und passend ist. Die Rede ist vom genus vitae, vom cursus vitae, von der via vitae. Gemeint ist damit sowohl die grundsätzliche Antwort auf die Frage, welche Art von Mensch man sein möchte, als auch die Antwort auf die Frage, mit welcher Art von Tätigkeit in der Welt man primär sein Leben verbringen möchte.
Beides steht in engem Zusammenhang. Denn die Antwort auf die zweite Frage, ob man sich etwa für eine politische oder soziale oder ökonomische, wissenschaftliche oder handwerkliche bzw. künstlerische Tätigkeit entscheidet, ob man eine Ehe eingeht und Kinder zeugt oder den Weg des Junggesellen wählt, die Antwort auf diese Fragen befindet auch darüber, welchem Tugendbereich man für sich selbst praktisch den Vorrang gibt. Unser Text empfiehlt bei dieser schwierigsten aller Entscheidungen vorrangig seiner unverdorbenen Naturanlage, also Talent, Neigung und Temperament Rechnung zu tragen. Nur so kann man, auf die Dauer seines Lebens, sich selbst treu bleiben.
Ein gelingendes Leben basiert auf einer Einheit von Selbstwahl und Wahl der äußeren Lebenslaufbahn. Die Beschaffenheit, die man, in besonnener Rücksicht auf seine natürliche Eigenart und die gegebenen Lebensumstände, sich selbst zu geben sich entschließt, finden ihren stimmigen Ausdruck im hauptsächlichen Tätigkeitsbereich in der Welt.
Dabei geht die Stoa mit dem Gedanken der Lebenswahl durchaus illusionslos um. Menschen geraten in der Regel auf eine Bahn, ehe sie selbst zureichend beurteilen und entscheiden können, was für sie das Beste wäre. „Meistens lässt man sich, von den Vorgaben der Eltern beeinflusst, zu ihrer Lebensweise bringen. Andere lassen sich vom Urteil der Menge bestimmen und wünschen sich vor allem das, was der Mehrheit am schönsten scheint; einige schlagen gleichwohl ohne elterliche Weisung, sei es auf gut Glück, sei es dank einer guten Natur, den richtigen Lebensweg ein“ (De off. 1, 118).
Kommt man, was durchaus sein kann, im Erwachsenenleben bei eingehender Selbstprüfung zu dem Ergebnis, sich in der Wahl seines Lebenswegs geirrt zu haben, dann sollte man auf möglichst undramatische Weise Profession, sozialen Umgang und Verhaltensweisen ändern und sein Leben neu ordnen (vgl. De off. 1, 120).
Die Kunst, vollkommen frei zu sein
Die stoische Lebenskunst gründet in einem bestimmten Verständnis und Gebrauch von Freiheit. Das Besondere an ihr besteht in einer Verbindung von weltbezogenem Engagement mit radikaler Distanz zu allen Gütern des Lebens. Ihre Kennzeichen sind einerseits Engagement, andererseits Gelassenheit. Ein Stoiker bemüht sich um die natürlichen menschlichen Lebensgüter, doch allemal so, dass er den Erfolg seines Bemühens dem Willen Gottes überlässt und das faktische Ergebnis, wie immer es ausfällt, als gottgewollt begrüßt. Worauf es ihm unbedingt ankommt, ist der gesunde Zustand seines Geistes, ist das Gut- und Richtigsein seines Denkens, Wollens und Fühlens, das sich in allen Lebenslagen bewährt.
Epiktet ist der Autor, der in seinen Diatriben für uns am eindrücklichsten erläutert, was stoische Freiheit besagt. Ein Stoiker privilegiert keine Herkunft, keinen Stand, kein Geschlecht, kein Alter, keinen Beruf. Er richtet sein Streben auf das, was ihm wahrhaft eigen ist, den Zustand und Gebrauch seiner Vernunft.
„Frei ist der, der lebt, wie er will“ (Diss. IV, 1, 1). Von Wollen im eigentlichen Sinn, so Epiktet, kann nur die Rede sein, wenn es vernünftig ist, das heißt das objektiv Beste für den Wollenden zum Inhalt hat. Wer lebt, wie er will, verlangt nach dem Richtigen und vermeidet das Falsche. Vernünftig indessen ist nur jenes Streben, dessen Erfüllung jederzeit in der Hand des Strebenden ist. Und die Erfüllung jenes Strebens ist stets in unserer Hand, das die intendierten Sachverhalte in der Welt unter dem Vorbehalt des Einklangs mit dem göttlichen Willen erstrebt, und damit auch das gottgewollte Scheitern des Bemühens willkommen heißen kann. Wer so nach den Dingen und Zuständen in der Welt trachtet, steht nicht unter Bedrohungen, Behinderungen und Zwängen, ist frei von Ängsten und Verwirrungen, von Tendenzen zur Selbstverbiegung und Selbstversklavung, von Enttäuschung und Frustration.
Grundlegend für alle sinnvolle Sorge um sich und die Welt ist die Unterscheidung dessen, was wahrhaft in unserer Hand ist und was nicht. Was in unserer Hand ist, ist das Eigene (oikeīon), was nicht in unserer Hand ist, ist das Andere, das Fremde (allotrion). Alle Freiheit beruht auf der bedingungslosen Identifikation mit dem Eigenen, alle Unfreiheit und mit ihr alle Entfremdung und alles Unglück beruht auf dem Umstand, dass man Fremdes für Eigenes hält und sein Herz an vermeintlich Eigenes, in Wahrheit Fremdes hängt.
Als Eigenes im strikten Sinn identifiziert Epiktet eine einzige Kraft und Fähigkeit und die verschiedenen Leistungen dieser unserer Fähigkeit; er nennt sie dynamis logikê, Sprachfähigkeit bzw. Vernunft (Diss. I, 1, 4).
Sie allein betrachtet und beurteilt sich selbst und alles andere; sie allein bestimmt das Verhältnis des Subjekts zu sich und der Welt. Ihre zentralen Leistungen sind unsere Annahmen, unser durch Gedanken bestimmtes Verlangen und Fühlen, unser aversives und appetitives Bestreben. Im Blick auf diese Leistungen lässt es sich als Vermögen kennzeichnen, das die (meist unwillkürlichen) Vorstellungen gebraucht, oder auch als Vermögen, das entscheidet und wählt, weil es theoretisch und praktisch Stellung bezieht zu den Vorstellungen, die beanspruchen, Wahres oder Falsches, Gutes oder Schlechtes, Schönes oder Hässliches, Nützliches oder Schädliches zu repräsentieren. Die habitualisierte Grundentscheidung für eine freie Lebensform macht das aus, was man einen Charakter bzw. eine Persönlichkeit nennt. Der große Charakter, der unter allen Umständen richtig Stellung nimmt zu den Vorstellungen, und nur er macht das Gute und Glückliche des menschlichen Lebens aus. Alles, was unserem Charakter und seinen Stellungnahmen äußerlich ist, hat lediglich als das Material zu gelten, in dem wir uns ausdrücken und unsere Beschaffenheit verwirklichen. Und dieses Äußerliche mögen die Lebensumstände eines Kaisers oder eines Sklaven, eines Gesunden oder Kranken, eines Armen oder Reichen sein.
Epiktet interpretiert Freiheit also ganz und gar psychologisch und ethisch. Unfrei ist, wer seine Seele an Dinge hängt, die nicht uneingeschränkt in seiner Hand sind. Die Lösung von diesen Dingen verbürgt Ausgeglichenheit, Gleichförmigkeit, Gelassenheit, Glück. Sie bedeutet die Befreiung aus sich selbst versklavender Entfremdung, eine Befreiung von affektiven seelischen Regungen und pathologischen Zuständen. Ihr Ziel ist „ein harmonisches und ruhiges Streben“, das in absoluter Weise auf das gerichtet ist, was im Bereich unserer souveränen Wahl liegt, was gut und gegenwärtig ist (Diss. IV, 1, 84).
Entscheidend ist die Konzentration auf die Gegenwart; Vergangenes lässt sich nicht mehr ändern; über Künftiges verfügen wir nicht. Entscheidend ist aber auch die Konzentration auf das Gute und Schöne. Es geht im stoischen Freiheitsverständnis nicht um einen willkürlichen Gebrauch unserer Vorstellungen. Ein Leben nach willkürlichem Belieben ist gerade nicht souverän, sondern lässt sich von Launen und dem Reiz des Augenblicks bestimmen. Worauf es ankommt, ist der rechte Gebrauch unserer Vorstellungen. Und der durchweg rechte Gebrauch unserer Vorstellungen ergibt sich aus der konstanten Ausrichtung am begründeten „Wissen vom Leben im Ganzen“ (Diss. IV, 1, 118).
Epiktet folgt der stoischen Theorie der Affekte. Ein Affekt ist nach diesem Verständnis eo ipso etwas Negatives, weil Widervernünftiges, etwas, was den Menschen verwirrt, zerreißt, bedrückt, versklavt, sich selbst entfremdet. Ein Affekt ist ein Phänomen intensiven Gefühls, gewiss. Doch den Kern eines Affekts macht ein falsches Urteil bzw. eine falsche Überzeugung aus (vgl. Diss. IV, 1, 58; 68; 112), ein Fehlurteil bezüglich dessen, was wahrhaft gut oder schlecht ist, und was dementsprechend zu lieben oder zu verachten tunlich oder geboten erscheint. Jeder Affekt ist dadurch gekennzeichnet, dass man, sei es in Liebe oder Hass, in Lust oder Schmerz leidenschaftlich an etwas hängt, „was von Anderem abhängig und was vergänglich ist“ (Diss. IV, 1, 77). Darunter fallen so vermeintlich Wichtiges wie der eigene Leib, seine Teile, seine Kräfte, seine Gesundheit und Schönheit, der Besitz, der Ruf, die Ehren und Ämter, ja auch die Kinder, die Eltern, die Geschwister und Freunde. Von all diesem muss man sich auf bestimmte Weise seelisch lösen (vgl. Diss. IV, 1, 87).
Man kann, ja soll dieses uns „Äußere“ nehmen, wenn es sich schuldlos bietet; man soll auch, soweit es möglich und passend ist, für es aktiv Sorge tragen. Doch man muss es jederzeit ohne Erregung, ohne Groll, ohne Schmerz und Trauer wieder lassen können, wenn es verloren geht. Kurz: Die sogenannten Güter des Lebens gilt es zu besitzen, als ob man sie nicht besitzt. Und die sogenannten Übel des Lebens sind, wenn unvermeidbar, gelassen hinzunehmen, ja als von Gott gewollte Gelegenheit zur Bewährung des eigenen Charakters willkommen zu heißen. All dieses gilt es als etwas uns Äußerliches, Nicht-Eigenes, Fremdes zu betrachten, was es ja tatsächlich ist (Diss. IV, 1, 87).
Wer an nicht-eigenen Gütern, wer an welthaften Dingen und Sachverhalten mit „Herzblut“ hängt, setzt sich der Furcht vor ihrem Verlust aus, ist über sie behinderbar, verletzbar, erpressbar, ist unausweichlich bedrängenden, bedrückenden, beunruhigenden und verwirrenden Sorgen, Irritationen, Zwängen und Schmerzen unterworfen. Und er macht sich damit jenen zu Sklaven, die Macht über diese Dinge besitzen bzw. zu besitzen scheinen. Er ist nicht Autor seines Lebens; er ist fremdbestimmt. Frei werden wir nicht durch den möglichst großen Besitz von allseits Begehrtem, sondern durch den Abbruch unserer Begierde nach Dingen, die uns nicht wahrhaft eigen sind.
Frei werden wir nach Epiktet also dadurch, dass wir uns von unserer Bindung an Nicht-Eigenes lösen und alle außermoralischen Güter und Übel für sich genommen als etwas Gleichgültiges (adiaphoron) betrachten. Doch dies besagt nicht, dass die Stoa auch die Art des Umgangs mit diesen Dingen für gleichgültig erklärt und einem Libertinismus des Weisen das Wort geredet hätte, im Gegenteil. „Das Material ist gleichgültig, wie man mit ihm umgeht, ist nicht gleichgültig“ (Diss. II, 5, 1). Epiktet gesteht zu, dass es schwierig ist, die nötige Sorgfalt des Umgangs mit Nicht-Eigenem mit einer standfesten Gleichgültigkeit gegenüber seinem tatsächlichen Gewinn, Besitz oder Verlust zu verbinden. Doch es ist nicht unmöglich. Wäre es unmöglich, wäre der Mensch eine Fehlkonstruktion der Natur, könnte ein Mensch in seinem Leben nicht frei und glücklich werden (Diss. II, 5, 9). Die Natur freilich ist göttlich und vernünftig.
Gott bzw. die göttliche Allnatur hat uns mit natürlichen Neigungen ausgestattet, die der Erhaltung und Entfaltung unserer spezifischen Menschennatur dienen. Diesen Neigungen entsprechen die unserer Natur gemäßen Dinge und Sachverhalte (ta kata physin). Mit der Entwicklung und Reifung unserer Vernunft und der Erfahrung kontinuierlichen vernunftgemäßen Verhaltens werden wir dessen inne, dass die dem Menschen spezifische und stärkste Neigung der eigenen Vernunft und ihrem Wohlsein gilt. Ihr sind alle anderen Neigungen nachgeordnet. In normalen Umständen kommen alle unsere nachgeordneten natürlichen Neigungen mit ihren Zielen zu ihrem begrenzten Recht. In außergewöhnlichen Umständen, die als besondere Zeichen Gottes zu verstehen sind, kann es passend sein, sich gegen sie zu entscheiden. In Epiktets Worten: „Chrysipp sagt treffend: Solange mir das Kommende verborgen ist, werde ich mich stets an das halten, was von Natur aus geeigneter ist zum Erreichen der naturgemäßen Dinge. Denn der Gott hat mich so gemacht, dass ich dieses bevorzuge. Wüsste ich dagegen, dass mir jetzt krank zu sein bestimmt ist, würde ich auch danach streben“ (Diss. II, 6, 9-10).
Die Verbindung von Engagement und Gelassenheit bezüglich Welthaftem gelingt in stoischer Sicht nur über eine theologische Interpretation der natürlichen Neigungen und des Weltgeschehens und eine philosophisch-religiöse Überantwortung von Handlungsergebnissen und Widerfahrnissen an die göttliche Weltvernunft. Man müsse genau unterscheiden zwischen dem, was Gott uns zu eigen gegeben und was er für sich behalten hat. Wahrhaft zu eigen habe er mir nur meine Vernunft, mein Wählen und dessen intentionale Objekte (ta prohairetika) gegeben (Diss. IV, 1, 100). Alles Übrige behalte er ersichtlich in seiner Hand und seinem Ermessen. Der Gott ist darin allemal der Stärkere. Alle Behinderung, aller Zwang, alle Entfremdung würden für den aufgehoben, der „genau auf den Willen und die Verwaltung Gottes achtet“ (Diss. IV, 1, 100), sein Streben Gott anheimgibt (IV, 1, 89), sich in seiner Lebensreise Gott anschließt (IV, 1, 98), das heißt alles Liebe und Teure und vermeintlich Angehörende, aber in Wahrheit Fremde dem Gesetz der göttlichen Weltverwaltung und dem Gehorsam ihm gegenüber unterstellt (IV, 1, 159), kurz: Alles Schicksalhafte als göttliche Gabe versteht und als solche bejaht. Der willige Gehorsam gegenüber dem höheren göttlichen Willen bedeutet seinerseits keinerlei Selbstaufgabe und Selbstentfremdung. Sind wir doch Abkömmlinge Gottes, ja, als Vernunftwesen wesensgleiche, auf Zeit der abbildhaften Selbständigkeit überantwortete Teilchen der umfassenden göttlichen Vernunft.
Die Kunst, im Einverständnis mit dem Tod zu leben
Kaiser Mark Aurel prägte eine markante Formel, die als oberster praktischer Grundsatz seinen Alltag bestimmen sollte, und die er sich häufig in Erinnerung rief: „Handle so, als wäre es das Letzte, was du tust“ (Med. 2,5; vgl. 2, 11; 7, 69; 8, 2; 10, 29). Und er verwies darauf, was die Befolgung dieser Devise für das Leben nach sich zieht: Wer sich gewissermaßen kontrapunktisch immer wieder das eigene Ende vergegenwärtigt, wird gelassen, affektfrei und vernünftig leben. Mark Aurel steht mit diesem Gedanken nicht allein. Alle hellenistische und kaiserzeitliche Philosophie ist sich darüber im Klaren, dass nur der richtig zu leben weiß, der mit dem eigenen Tod auf vertrautem Fuße steht. Die Philosophie zeigt uns, wie vernünftig zu leben sei; und die Kunst zu leben ist ohne die Kunst zu sterben nicht zu haben (vgl. etwa Seneca, Briefe an Lucilius 98, 17 und 68, 1).
Physik und Ethik sind in der stoischen Philosophie eng miteinander verwoben. Die Stoiker waren Korporalisten. Nur Körperliches „ist da“, existiert (hyparchei) im eigentlichen Sinn des Wortes. Nichts Existentes entsteht aus dem Nichts, nichts Existentes vergeht in Nichts. Alles Entstehen und Vergehen ist nur Verwandlung. Den Tod haben wir nicht als Vernichtung, sondern als Verwandlung (metabolê, alloiōsis) zu verstehen. Sinnlich Erfahrbares ist als konkrete Verbindung bzw. Mischung von Elementen zu denken. Solche Verbindungen lösen sich nach natürlichen Gesetzen wieder auf und verbinden sich neu. Sterben und Tod sind eine Trennung (chōrismos) der feinkörperlichen Seele vom grobkörperlichen Leib und der allmählichen Auflösung von beiden (SVF I, 137-139; DL 10, 65). Das Vergehen eines Dinges ist Anlass und Grund zum Entstehen eines neuen. Ohne Auflösung kein Vergehen von Reifem, Welkem und Altem und Entstehen von Neuem, Jungem und Frischem. Alles Leben auf Erden lebt von der Aneignung und Verwandlung von Anderem (Med. 8, 18). Die Mittel, von denen wir leben, würden zu knapp, der Bereich, in dem man lebt, würde zu eng, wenn alles, was ins Dasein tritt, für immer leben würde (vgl. auch Epiktet Diss. IV, 1, 106). Die Gesetze, die die natürlichen Prozesse regieren, sind dem Wohl des Ganzen zuträglich und vernünftig; zu sterben ist ein Prozess, der von einem vernünftigen Gesetz der Natur bestimmt und geleitet wird.
Die Kunst zu leben ist an ein Studium und Verständnis der Natur gebunden. Chrysipp drückt diesen Gedanken in einer trockenen Formel über das Ziel des menschlichen Lebens aus, nämlich „zu leben in Übereinstimmung mit der Erfahrung des tatsächlichen Verlaufs der Dinge“ (Diogenes Laertius 7, 87). Und Seneca erläutert, was diese Übereinstimmung praktisch besagt: Wer nicht sterben möchte, wünscht im Grunde auch nicht zu leben; denn das Leben ist uns unter der Bedingung seiner Endlichkeit, das heißt des Sterbens und des Todes gegeben (Epist. 30, 10). Epiktet kommentiert den Grundsatz auf seine drastische Art: Man habe, was sich als unabänderlich und für das Wohl des Ganzen sinnvoll erweist zu akzeptieren, ja willkommen zu heißen. Sich zu beklagen, zu murren, aufzubegehren, in Gedanken, in Gefühlen oder in Taten, das sei vergeblich, unvernünftig, undankbar, destruktiv.
Es mache einen selbst nur unglücklich und störe die gemeinschaftliche Feier des Festes des Lebens. Wer dieses Fest nicht mittragen und mitfeiern wolle, sei nicht zur Teilnahme gezwungen; das Tor sei allemal offen, man könne gehen (Epiktet, Diss. 4,1, 101-108).
Schlüsselwörter stoischen Naturverständnisses sind „Einheit (henōsis)“, „Ordnung (taxis)“, „Vorsehung (pronoia). Kausal verantwortlich für die geordnete Struktur des Kosmos und die Prozesse des kosmischen Geschehens ist nach stoischer Auffassung das dem Kosmos immanente göttliche Prinzip, das alles belebt und auf äußerst vernünftige Weise wirkt, gestaltet und lenkt (vgl. Mark Aurel, Med. 4, 27). Es arbeitet mit kontinuierlichem Wandel, indem es in ewigen Kreisläufen Neues durch die Auflösung von Altem schafft (vgl. Med. 4, 36). Durch das Gesetz des permanenten regenerativen Wandels bereitet der göttliche Kosmos sich selbst sein Heil (sōzei); das Entstehen und Vergehen der einzelnen Dinge ist notwendig für das Wohlsein des Ganzen (vgl. Med. 2, 3).
Der oberste Grundsatz stoischer Ethik „der Natur gemäß leben“ meint zuallererst, sich selbst als ein Teilchen, als integralen Teil eines wohlgeordneten göttlichen Ganzen zu wissen und zu fühlen und entsprechend zu streben und zu handeln. Wenn du glücklich sein willst, hast du dich vollkommen mit diesem Ganzen zu identifizieren, dein kleines Los anzunehmen und die dir zugeteilte kleine Rolle in diesem großen Prozess und festlichen Spiel des göttlichen Kosmos zu erfüllen. Denn alle Dinge und Ereignisse sind miteinander verbunden, und alle tragen zum göttlichen Leben, zum Wohlsein und Gelingen des Ganzen bei (vgl. Med. 4, 40).
Der Mensch ist ein sehr kleiner, gleichwohl ein privilegierter Teil des Ganzen. Er ist ein sprach- und vernunftfähiges Lebewesen. Dadurch ist er in der Lage, für eine begrenzte Zeit auf eine bewusste und aktive Weise am göttlichen Leben teilzunehmen und mitzuwirken. Der menschliche Geist ist Abkömmling und Teil des göttlichen Geistes, der den gesamten Kosmos durchdringt und gestaltet. Er erreicht seine Vollendung, wenn er die göttliche Ordnung der Welt erkennt und repräsentiert, wenn er sich selbst in Übereinstimmung mit dieser Ordnung weiß und diese Harmonie in seinem Fühlen, Streben und Verhalten ausdrückt und nachahmt (vgl. Cicero ND 2, 37; Poseidonios, Edelstein-Kidd Frgm. 186; Epiktet, Diss. 1, 6, 19-20).
Zwei Gedanken, die in der stoischen Physik gründen, sind es, die helfen sollen, mit dem ehernen Faktum zurechtzukommen, dass unser Leben ein Ende hat. Erstens, dass die Elemente, die uns konstituieren und im Tod sich aufzulösen beginnen, unverzichtbar zur Konstitution neuer Dinge gebraucht werden. Zweitens: dass unsere sprachfähige Seele in den zeugenden und gebärenden „Schoß“ des göttlichen Geistes zurückkehrt, aus dem alle Dinge und Ereignisse der Welt entstehen und in ihrer Verbindung und Abfolge ein harmonisches Ganzes bilden. „Du bist als Teil ins Dasein gekommen; du wirst in das hineinverschwinden, was dich erzeugt hat; oder besser, du wirst durch Verwandlung wieder aufgenommen in seine samenartige Vernunft (logos spermatikos)“ (Mark Aurel, Med. 4, 14).
Die Stoiker sind Pantheisten. Manche Texte, wie etwa der Zeus-Hymnus des Kleanthes, klingen so, als hätten sie einen personalen Gottesbegriff, zumal sie vom göttlichen Prinzip in Begriffen des Geistes und der Vernunft sprechen. Sie betrachten den Kosmos im Ganzen als ein einziges, vernünftiges, periodisch sich entfaltendes, sich differenzierendes und wieder in einen samenartigen Zustand sich zurückziehendes göttliches Lebewesen. Dies eröffnet die systematische Möglichkeit, das göttliche Ganze wie eine Person zu betrachten und sein belebendes, leitendes und gestaltendes Prinzip aus der Perspektive des Menschen als göttlichen Vater anzusprechen (vgl. DL 7, 147) und sich selbst als „Gottes Sohn“ (vgl. Epiktet Diss. IV, 1, 2; I, 9, 6).
Identität mit und Differenz zum göttlichen Ganzen bestimmen das menschliche Leben. Dieses ist gekonnt und vollkommen, wenn das von ihm objektiv Gewollte, das, was es jeweils will, dem entspricht, was Gott will, und wenn die subjektive Art seines Fühlens und Strebens von unbegrenztem Vertrauen in die Weisheit und Güte der göttlichen Weltverwaltung getragen wird. Dem Abbau aller Selbstbefangenheit und der Hingabe und Überantwortung aller Regungen des Gemüts an das göttliche Ganze dient die personale, religiös-theologische Sprache der Stoa.
Gleichwohl besteht ein grundlegender Unterschied der stoischen Religiosität zur christlichen. Der Stoiker versteht sich als wesensgleiches Teilchen Gottes, der Christ betont die immense Differenz zwischen dem Schöpfer und allem Geschaffenen. Der Stoiker setzt auf die göttliche Kraft seiner Vernunft, der Christ weiß sich als schwacher Sünder und setzt auf die göttliche Gnade, die seiner Schwäche aufhilft. Der Stoiker betont die Möglichkeit begrenzten, doch sicheren Erkennens und Wissens vom göttlichen Ganzen, der Christ vertraut in Glaube, Hoffnung und Liebe auf Gott, der ihm nah und doch, als der ganz Andere, auch dunkel und fern ist. Der Christ hofft, am „Ende der Tage“ allem Elend entronnen und als Individuum für immer in seliger Gemeinschaft mit Gott zu sein. Der Stoiker versteht sich als entstehendes und vergehendes „Teilchen“ Gottes, das voll und ganz der jeweiligen Gegenwart lebt, seine natürliche Partikularität und Endlichkeit bejaht und sich im umfassenden göttlichen Leben eingebunden und aufgehoben weiß.