Die folgenden Überlegungen gehen von einem konstitutiven Zusammenhang zwischen dem Konzept des christlichen Humanismus und der Sozialverkündigung der Kirche aus. Dabei macht beides eine Entwicklung durch.
Für die frühe Sozialverkündigung in der neuscholastischen Phase erwiesen sich die frühen Schriften von Karl Marx als bedeutsam. Er kritisierte das bürgerliche Humanismuskonzept und legte die Grundlagen für den im 20. Jahrhundert politisch wirksam werdenden sozialistischen Humanismus (https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Humanismus#II._Humanismus_in_Neuzeit.2C_Moderne_und_Gegenwart). Damit ist ein kämpferisch-atheistisches Programm mit normativem Begründungsanspruch formuliert. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass weder in Rerum novarum noch in Quadragesimo anno der Begriff des Humanismus zu finden ist. Vielmehr suchte man sich von einem solchen atheistischen Programm und von den Marxschen Ansätzen zur Lösung der sozialen Frage klar abzusetzen.
Die „Geburt eines neuen Humanismus“ im Kontext des Konzils
Erstmalig findet sich in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (1965) die äquivoke Erwähnung des Begriffs Humanismus.
Offenheit für Transzendenz
In Gaudium et spes heißt es: „(B)reite Volksmassen (haben) das religiöse Leben praktisch auf(gegeben)“; die oftmals im Hintergrund stehende „Leugnung Gottes oder der Religion oder die völlige Gleichgültigkeit“ sei kein singuläres Phänomen mehr, sondern eins, das „als Forderung des wissenschaftlichen Fortschritts und eines sogenannten neuen Humanismus ausgegeben“ (GS 7) werde. Der Begriff des Humanismus ist hier noch negativ konnotiert – als Weltanschauung, von der man sich als Kirche hinsichtlich der atheistischen Orientierung klar absetzen zu müssen meint. Damit klingt ex negativo bereits die Offenheit für Transzendenz, spezifischer: für den christlichen Glauben an, die zur Bestimmung des Menschen konstitutiv hinzugehört und im Laufe der weiteren Entwicklung zur zentralen Dimension des christlichen Humanismus wird.
Verantwortung und Autonomie
Später im Text findet sich ein facettenreicherer Gebrauch des Begriffs: So ist zum einen von der „Geburt eines neuen Humanismus“ die Rede, „in dem der Mensch sich vor allem von der Verantwortung für seine Brüder und die Geschichte her versteht“ (GS 55). Damit kommt die ethische Ebene ins Spiel: Das Humane impliziert die „integrale Berufung des Menschen“ (GS 11), durch die der Geist auf „wirklich humane Lösungen“ ausgerichtet ist. Dabei ist das wahrhaft Menschliche auch immer verbunden mit der Ausrichtung auf die Weisheit, auf die Suche nach dem Wahren und Guten (vgl. GS 15). Die Orientierung auf diese zentralen Werte ist eine zweite entscheidende Dimension des christlichen Humanismus.
In Gaudium et spes findet sich ferner der Bezug auf die Autonomie als notwendige Dimension des christlichen Humanismus. Die Notwendigkeit der Abgrenzung von einem Autonomieverständnis, das „zu einem rein innerweltlichen, ja religionsfeindlichen Humanismus kommt“ (GS 56), wird aufgezeigt, aber letztlich entwickelt das Konzil eine so eindeutig positive Bedeutung des Autonomiebegriffs, wie sie in keinem weiteren Dokument mehr gegeben ist. Die späteren moraltheologischen Debatten um die Autonome Moral belegen die Schwierigkeiten vieler mit dem Ansatz bei der Selbstbestimmung des Menschen. Sie wirken bis heute etwa in den Diskursen des Synodalen Weges zu Fragen der Beziehungsethik nach.
Gerechtigkeit und Gemeinwohl
Christlicher Humanismus zielt auf die sozialethisch zentralen Fragen nach Gerechtigkeit, Solidarität und einer entsprechenden Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, national und global, ab. In den (nach)konziliaren Texten stehen diese Ausführungen immer im untrennbaren Zusammenhang mit dem Prinzip des Gemeinwohls, das weitgehend formal definiert wird und damit zumindest implizit den Wert der individuellen Freiheit hervorhebt: „Das Gemeinwohl der Gesellschaft besteht in der Gesamtheit jener Bedingungen des sozialen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen“ (GS 26). Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae ergänzt noch präzisierend den Verweis auf die „Wahrung der Rechte und Pflichten der menschlichen Person.“ (DH 6)
Integraler Humanismus und dynamische Entwicklung
Das zentrale Dokument für die Ausdifferenzierung des Begriffs eines christlichen Humanismus, die Entwicklungsenzyklika Populorum progressio von Papst Paul VI. (1967), definiert den Humanismus ausschließlich positiv: So ist die Rede von der „Eingliederung (des Menschen. Anm. UNW) in den lebendigmachenden Christus“, durch die er „zu einem Humanismus jenseitiger, ganz anderer Art (gelangt), der ihm die höchste Lebensfülle schenkt: das ist das letzte Ziel und der letzte Sinn menschlicher Entfaltung“. (PP 16) Eine berühmte Passage spricht von einem neuen Humanismus: „Die Entwicklungshilfe braucht immer mehr Techniker. Noch nötiger freilich hat sie weise Menschen mit tiefen Gedanken, die nach einem neuen Humanismus Ausschau halten, der den Menschen von heute sich selbst finden lässt, im Ja zu den hohen Werten der Liebe, der Freundschaft, des Gebets, der Betrachtung. Nur so kann sich die wahre Entwicklung […] von weniger menschlichen zu menschlicheren Lebensbedingungen (erfüllen)“. (PP 20) In diesem Passus wird Bezug genommen auf den französischen Philosophen Jacques Maritain und seinen integralen Humanismus. Humanismus im Vollsinn des Wortes meint demnach so viel wie „eine umfassende Entwicklung des ganzen Menschen und der ganzen Menschheit“ (PP 42). Christlicher Humanismus bezieht sich damit nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf die solidarische Entwicklung aller Menschen. Dieser Humanismus wird wiederum kontrastiert mit einem „verkürzte(n) Humanismus“, der den Bezug zu den Werten des Geistes und zu Gott nicht herstellt und bei dem der Mensch sich in sich abkapselt. (vgl. PP 42)
Der Umgang mit Globalisierung
Die Rede vom christlichen Humanismus taucht systematisch erst wieder auf bei Benedikt XVI. in seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate von 2009. Die in Populorum progressio bereits angeklungene Entwicklung der gesamten Menschheit wird vor dem Hintergrund der kritischen Frage nach dem Umgang mit der Globalisierung erneut thematisiert: Schwierigkeiten und Gefahren, die zum Globalisierungsprozess gehören, könnten nur dann überwunden werden, „wenn man sich der anthropologischen und ethischen Seele bewusst wird, die aus der Tiefe die Globalisierung selbst in Richtung einer solidarischen Humanisierung führt.“ (CiV 42) Globalisierung der Menschheit sei zu leben „im Sinne von Beziehung, Gemeinschaft und Teilhabe“.
Diese Dimensionen lassen sich lesen als Erläuterungen der globalen sozialen Dimension des christlichen Humanismus. Sie verweisen auf die immer deutlicher werdende Notwendigkeit des Bezugs zum Lokalen gerade im Kontext der Globalisierung. Speziell mit dem Verweis auf die Teilhabe geht es wesentlich um Armutsbekämpfung, um die Einbeziehung der Schwellen- und Entwicklungsländer selbst in diesen Prozess und um deren Partizipation am wachsenden Wohlstand. (Eine Nebenbemerkung: Von einer wohlstandskritischen Perspektive kann hier noch keine Rede sein.)
Humanökologie
Die Rede von Humanismus und Humanisierung bei Benedikt XVI. führt notwendig auch zu dem schwierigen Begriff der Humanökologie, der bereits bei Johannes Paul II. auftauchte, bei Benedikt aber eine weitere Interpretation erfahren hat und später auch bei Franziskus wieder aufgegriffen wird. In Caritas in veritate stellt Benedikt den Begriff in direkten Zusammenhang mit der Umweltökologie (vgl. Nr. 51). Kirche habe Verantwortung für den Schutz und die Verteidigung der Gaben der Schöpfung, aber auch Verantwortung dafür, den Menschen vor der Selbstzerstörung zu bewahren. „Die Beschädigung der Natur hängt nämlich eng mit der Kultur zusammen, die das menschliche Zusammenleben gestaltet. Wenn in der Gesellschaft die ‚Humanökologie‘ respektiert wird, profitiert davon auch die Umweltökologie.“ (CiV 51) Humanökologie basiert für ihn auf moralischen Einstellungen, Wertehaltungen und Bedingungen, für die die Menschen sich engagieren müssen, da sie nicht naturgegeben sind.
Während bei Johannes Paul II. die Rede von der Humanökologie auf die Frage nach Sexualität und Ehe eng geführt wird, findet sich bei Benedikt ein deutlich weiteres Verständnis des Begriffs, der damit Fragen von Leben und Tod, von Schwangerschaft und Geburt, aber auch von Embryonenforschung sowie von Krieg und Frieden umfasst. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag 2011 hat er deutlich gemacht, dass der Mensch „nicht nur sich selbst machende Freiheit (ist)“, sondern auch eine „Natur (hat), die er achten muss“ (https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/benedict/rede-250244).
Für das sozialethische Verständnis von christlichem Humanismus ist dieser Punkt der Verhältnisbestimmung zwischen Natur und Freiheit sowie zwischen Human- und Umweltökologie von großer Bedeutung. Letzteres Verhältnis wird in den Texten von Papst Franziskus aufgegriffen und umfassend weiterentwickelt, ersteres bleibt bislang von lehramtlicher Seite aus unbefriedigend ungeklärt.
Person-Sein als Spezifizierung des Verständnisses von christlichem Humanismus
Das Verständnis von christlichem Humanismus erhält zunächst bei Johannes XXIII. und später bei Johannes Paul II. eine weitere spezifische Dimension durch den Bezug auf das Person-Sein des Menschen. Dabei ist kaum von christlichem Humanismus die Rede, der personalistische Ansatz spezifiziert dessen Bedeutung allerdings entscheidend.
Der Mensch als Person: Würde, Rechte und Freiheit
Pacem in terris (1963) definiert, „dass jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Er hat eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist; er hat daher aus sich Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen“ (PT 5). Aus diesem Person-Sein folgt konstitutiv die Betonung der Würde des Menschen sowie der daraus sich notwendig ergebenden Rechte des Menschen. Der mit der Würde des Menschen zutiefst verbundene Wert der Freiheit wird in dieser Enzyklika mehrfach aufgerufen, zum einen im Kontext der Rede von den individuellen Freiheitsrechten, zum anderen im Zusammenhang mit den Werten von Gerechtigkeit und Wahrheit. Schließlich wird aber auch grundsätzlich Freiheit erläutert durch den Verweis auf die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit (vgl. PT 17). Allerdings fehlt ein für die Freiheit und das Person-Sein gravierender Aspekt, nämlich die Gewissensfreiheit. Von Gewissen wird mit Bezug auf Röm 2,15 ausschließlich gesprochen im Sinne eines Ableseorgans für die „Ordnung“, die der Schöpfer „ins Innere des Menschen eingeprägt (hat)“ (PT 3). Vom Gewissen als letzter Instanz bei jeder ethischen Entscheidung wird nicht gesprochen. Die Erklärung Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils (1965) liest sich da anders: Das Verständnis von Gewissen und Freiheit wird entscheidend erweitert – die Gewissensfreiheit wird ohne Einschränkung auf die christliche Wahrheit anerkannt, das Recht auf Religionsfreiheit gilt für jeden Menschen, unabhängig von seinem religiösen Bekenntnis oder seiner Weltanschauung. Die Unverlierbarkeit der Rechte (hier speziell auf Religions- und Gewissensfreiheit) wird in diesem Dokument stark gemacht – ein zentraler Aspekt des christlichen Humanismus.
Pflichten und Verantwortlichkeiten.
Ein entscheidender Unterschied von Pacem in terris zur UN-Menschenrechtserklärung besteht darin, dass hier das Person-Sein mit den Rechten ebenfalls entsprechende Pflichten sowohl im Blick auf die eigene Person als auch auf andere Personen verbindet. Das Person-Sein impliziert also immer schon eine normative Grundausrichtung: Es geht um die Verantwortung, sich auch zu engagieren für die Realisierung dieser Rechte sowie für entsprechende Rahmenbedingungen, die dem Einzelnen die Realisierung erleichtern. Zugleich werden die Rechte der menschlichen Person in Bezug auf das nationale gesellschaftliche und auch auf das universale Gemeinwohl ausformuliert. „Deshalb muss die universale politische Gewalt“ – welche Gewalt das sein soll, bleibt hier wie auch bei späteren Bezugnahmen darauf unbestimmt – „ganz besonders darauf achten, dass die Rechte der menschlichen Person anerkannt werden und ihnen die geschuldete Ehre zuteil wird, dass sie unverletzlich sind und wirksam gefördert werden.“ (PT 73) Dies könne entweder unmittelbar geschehen oder über eine Art Rahmenordnung, durch die in Einzelstaaten die entsprechenden Aufgaben leichter zu erfüllen sind.
Philosophisch-theologisch grundgelegter Personalismus
Vom Personbegriff in Pacem in terris lässt sich eine direkte Verbindungslinie zum Ansatz des Personalismus bei Johannes Paul II. ziehen. Das Spezifikum seines Ansatzes besteht in der Zusammenführung einer philosophischen, von der Wertephilosophie Max Schelers her geprägten und einer theologischen Begründungslinie im Begriff der Person, wobei letztere Begründungslinie nicht nur von der Schöpfungstheologie, der Gottebenbildlichkeit und Kreatürlichkeit des Menschen, sondern auch darüber hinaus von der Soteriologie her argumentiert. Denn erst „Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung.“ (RH 8,2; GS 22.)
Die personalistische Konzeption Johannes Pauls II. konzentriert sich ganz auf den Menschen als Person, d. h. auf das Individuum in seiner unwiederholbaren Einzigartigkeit, in seiner Würde und den daraus resultierenden Rechten. Er hat die Menschenrechte zum konstitutiven Thema seiner Verkündigung gemacht – als spezifische Forderung der kirchlichen Sendung und als genuin evangeliumsgemäßes Anliegen. Wenn er vom Menschen als Person spricht, bildet nicht primär ein metaphysisch festgestelltes Wesen des Menschen, sondern der geschichtliche und einmalige Mensch in seiner Personalität den Mittelpunkt und die Basis jeder ethischen Überlegung.
Das Ringen um den neuen Humanismus und die christliche Perspektive
Diese grundlegende Perspektive, die durch das Festhalten an der Kategorie des Individuums und seiner Personalität charakterisiert wird, erweist sich nach Johannes Paul II. letztlich allein in spezifisch christlicher Sicht als tragfähige Option. So heißt es in seiner Rede an die Wissenschaftler im Kölner Dom 1980: „Eine tragfähige Lösung für die dringenden Fragen nach dem Sinn der menschlichen Existenz, nach den Maßstäben des Handelns und nach den Perspektiven einer weiterreichenden Hoffnung ist nur in der erneuerten Verbindung des wissenschaftlichen Denkens mit der wahrheitssuchenden Glaubenskraft des Menschen möglich. Das Ringen um einen neuen Humanismus, auf den die Entwicklung des dritten Jahrtausends gegründet werden kann, wird nur zum Erfolg führen, wenn in ihm die wissenschaftliche Erkenntnis wieder in lebendige Beziehung tritt mit der Wahrheit, die dem Menschen als Geschenk Gottes offenbart ist.“ Hier ist, soweit ich sehe, die einzige oder eine der wenigen Stellen, an denen Johannes Paul II. vom „neuen Humanismus“ spricht. Inhaltlich geht es auch in diesem Kontext um einen Humanismus, der die große Relevanz von Wissenschaft erkennt, dabei aber offen ist für die transzendente Dimension, spezifischer: für die Gottesbeziehung.
Die verstärkte Betonung der sozialen und ökologischen Dimension
So zentral auch die personale Argumentation als Spezifikum des christlichen Humanismus gewesen ist, so auffallend reduziert sich diese Relevanz, die stark geprägt war durch Johannes Paul II., nach ihm wieder. Zunächst nimmt Benedikt XVI. die Terminologie des christlichen Humanismus wieder auf, dann gibt es unter Papst Franziskus zwar keine terminologische Neuakzentuierung des christlichen Humanismus, sehr wohl aber eine inhaltliche.
Geschwisterlichkeit, Gerechtigkeit und Solidarität
An diversen Stellen in seinen Texten verwendet er den Begriff der Person, er behält natürlich die Betonung der Würde bei. Aber Papst Franziskus hebt, besonders im Anschluss an die lateinamerikanische Theologie, insbesondere die soziale Dimension des Menschen hervor. Keine Person kann sich selbst genügen, „aus der Reflexion, dem Dialog und der großherzigen Begegnung zwischen Personen“ (LS 47) geht wirkliche Weisheit hervor, es geht um die „Beziehung eines Du zu einem anderen Du“ (LS 81). Vor diesem Hintergrund entfaltet Franziskus in Fratelli tutti den Grundgedanken der Geschwisterlichkeit. Dieser lässt sich in zwei Aspekten skizzieren: Zum einen bedeutet Geschwisterlichkeit, die gleiche Würde jedes einzelnen und aller Menschen tatsächlich anzuerkennen. Der Blick auf die Realität führt ihn nämlich zu dem Schluss, dass die Menschenrechte zwar auf dem Papier allgemein anerkannt sind, aber wohl „tatsächlich […] nicht für alle gleich gelten“ (FT 22). Die offenkundige Kluft zwischen Armen und Reichen, Frauen und Männern sowie Freien und Sklaven stellt genau diese Geltung der Menschenrechte faktisch in Abrede. Darüber hinaus impliziert der Grundgedanke der Geschwisterlichkeit zweitens die Notwendigkeit, das Individuelle, die jeweils eigene Identität jedes und jeder Einzelnen anzuerkennen und nicht einer Einheitsgesellschaft das Wort zu reden. Dabei geht Papst Franziskus davon aus, dass „ein gesellschaftlicher Zusammenhalt möglich [sein wird], der niemanden ausschließt, und eine Geschwisterlichkeit, die für alle offen ist.“ (FT 94) Mit dem bereits in Evangelii gaudium benutzten Bild des Polyeders illustriert der Papst seine Vorstellung einer Gesellschaft, in der sich alle Mitglieder brauchen, ergänzen und bereichern. (vgl. EG 215)
Der Grundgedanke der Geschwisterlichkeit impliziert das damit verbundene Bemühen um ein Mehr an Gerechtigkeit und um daraus erwachsende Solidarität.
Die Stellung des Menschen in der Schöpfung
Darüber hinaus kommt die zweite inhaltliche Neuakzentuierung, nämlich das Verbundensein mit allen anderen Lebewesen und der Natur, mit der Schöpfung insgesamt, ins Spiel.
Papst Franziskus macht zunächst „(d)ie Weisheit der biblischen Erzählungen“ (LS 65) fruchtbar. Wurde in früheren lehr- und kirchenamtlichen Texten der Schöpfungsbericht nahezu ausschließlich zur Untermauerung der absoluten Vorherrschaft des Menschen aufgrund seiner Geschöpflichkeit und Ebenbildlichkeit aufgenommen, so wird dieser Aspekt hier in seinem umfassenderen Kontext und in seiner Komplexität dargestellt: Auf der einen Seite wird unbestritten die Sonderstellung des Menschen als des Wesens, das „aus Liebe geschaffen wurde“ (LS 65), stark gemacht; zum anderen wird aber die Lehre über das Menschsein eingebettet in „drei fundamentale, eng miteinander verbundene Beziehungen: die Beziehung zu Gott, zum Nächsten und zur Erde“ (LS 66). Vor dem Hintergrund kritisiert Franziskus auch den fehlgeleiteten Anthropozentrismus (vgl. LS 119) und „eine große anthropozentrische Maßlosigkeit“ (LS 116), die die dem Menschen von Gott übertragene Herrschaft eher als prometheischen Traum denn als verantwortliche Verwaltung versteht. Biblisch gesehen, geht es um ein Herrschen als Hüten im Sinne von „schützen, beaufsichtigen, bewahren, erhalten, bewachen“ (LS 67) meint. Dieses Herrschaftsrecht ist nicht willkürlich oder despotisch zu verstehen, die Schöpfung ist nicht rücksichtslos für die eigenen Interessen auszubeuten. Die Ehrfurcht vor dem Schöpfer impliziert die Ehrfurcht vor allem Erschaffenen, der Kulturauftrag meint treuhänderische Verwaltung und Fürsorge.
Zentral für den christlichen Humanismus bei Papst Franziskus ist sein Konzept der integralen Ökologie, das davon ausgeht, „dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde.“ (LS 49) Die Fragen nach der ökologischen und der sozialen Gerechtigkeit müssen notwendig miteinander verknüpft gestellt werden, denn „(e)s gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, eine der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozio-ökologische Krise. Die Wege zur Lösung erfordern einen ganzheitlichen Zugang“ (LS 139).
Conclusion
1. Erst die Pastoralkonstitution spricht von „Humanismus“ – in Abgrenzung von einem atheistischen und religionsfeindlichen Humanismus und als Geburtsstunde eines neuen Humanismus, für den die Öffnung auf die Transzendenz und für Gott ebenso konstitutiv ist wie die Ausrichtung auf die Verantwortung für die anderen. Dieses Verständnis stellt einen wesentlichen Schritt zur Versöhnung der Theologie mit der Moderne dar. Wo immer die Sorge um den Menschen gegen die Anerkennung und Verehrung Gottes ausgespielt – wie heute wieder in bestimmten kirchlich-theologischen Kreisen – und dabei vorrangig die Forderung nach Anbetung vorgebracht wird, verlässt man den Boden genuin kirchlicher Lehre.
2. Die Bedeutung des christlichen Humanismus wird noch einmal präzisiert durch die Verwendung des Begriffs der mit Vernunft und Gewissensfreiheit begabten Person. Dieses Person-Sein ist der Grund für die damit untrennbar zusammenhängende personale Würde sowie für die Menschenrechte, wobei das Engagement für deren Anerkennung und Beachtung als Kehrseite der Medaille der Verkündigung des Evangeliums verstanden wird. Die später diskutierte Problematik der Trennung von Mensch und Person, etwa bei Peter Singer, hat sich in der Sozialverkündigung nicht niedergeschlagen. Die Rede von der personalen Würde des Menschen ist zu einem selbstverständlichen philosophisch-theologischen Argument in aktuellen und kontroversen gesellschaftlichen Debatten geworden.
3. Aus diesem Verständnis des christlichen Humanismus ergibt sich der fundamentale Grundsatz christlicher Soziallehre, demzufolge der Mensch „Ursprung, Mittelpunkt und Ziel“ (GS 63) aller Wirtschaft bzw. allen Geschehens ist.
4. Die Weiterentwicklung des Konzepts des christlichen Humanismus führt in Konsequenz aus der Anerkennung der Würde eines jeden anderen Menschen zur unverzichtbaren Forderung nach Gerechtigkeit und Solidarität.
5. Im Begriff des christlichen Humanismus wird unter Papst Franziskus der Einbezug der Umwelt, theologisch: der Schöpfung, zentral. Dabei wird nicht die zentrale Stellung des Menschen über Bord geworfen, aber der Mensch wird in seiner konstitutiven Verbindung zu den Mitmenschen und anderen Lebewesen gesehen. Erst dadurch erhält die Würde des Menschen ihre angemessene Kontur. Dass sich daraus für einen christlichen Humanismus neue Perspektiven auf die Verantwortung des Menschen ergeben, liegt auf der Hand. Dass sich damit aber auch das Verständnis vom Menschen selbst ändert sowie die Konsequenzen für die Gestaltung einer gerechten und solidarischen Gesellschaftsordnung neu zu denken sind, bedarf zur genaueren Realisierung noch vieler Schritte.
6. Wenn auch in den ersten beiden Enzykliken der Humanismus noch keinen Ort hat, so ist dennoch die Sorge um die Menschen und ihre jeweilige gesellschaftliche Notlage bereits das primäre Movens. Terminologisch noch nicht, aber schon von der Intention her, ist diese Orientierung an dem, was später christlicher Humanismus genannt wird, folglich eine durchgängige Linie der Sozialverkündigung.
Abschließend sind noch drei weitere Punkte als Desiderate für die Fragen eines christlichen Humanismus zu benennen.
7. Humanität braucht, so Markus Vogt, Distanz gegenüber dem Bild des perfekten Menschen. Es geht also um die Fragilität menschlicher Existenz. Theologisch meint das die Fehlbarkeit und Endlichkeit, die all unser Handeln durchzieht. Christlich gesehen, haben wir eine spezifische Weise des Umgangs mit Fehlern anzubieten; auf der Basis unseres Glaubens an Gottes bedingungslose Annahme und Vergebung könnten wir mit einer Kultur des Scheiterns einen wesentlichen Beitrag zu einer humaneren Gesellschaft leisten.
8. Das zweite Desiderat betrifft die Vielfalt, die wesentlich zu den Dimensionen des christlichen Humanismus hinzugehört. Sie kommt auch bereits in der kirchlichen Sozialverkündigung vor, wenn darauf hingewiesen wird, dass die Menschenwürde ohne auf Herkunft oder Geschlecht zu achten ist. Was aber noch gar nicht zur Sprache kommt, ist die Offenheit für geschlechtliche Vielfalt – bis zur lehramtlichen Anerkennung wird es noch viel Mühe brauchen.
9. Ein letzter Punkt: Christlicher Humanismus kann seine Wirkung nur dann entfalten, wenn immer wieder Versuche zu seiner authentischen Umsetzung unternommen werden. Die gewachsene Sensibilität in Sachen Menschenrechte etwa zieht notwendig die Frage nach der Glaubwürdigkeit einer Kirche nach sich, die ad extra die Einhaltung von Menschenrechten fordert, die ad intra aber keine entsprechende Beachtung finden. Gerade Papst Franziskus ist es doch, der diese Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ekklesiologie in seinem Pontifikat so stark gemacht hat; völlig zu Recht wird darum nun die Kirche an ihren eigenen Kriterien eines christlichen
Humanismus gemessen.