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Der Mann Mose und Gottes Gesetz“ lautet das Thema, das mir vorgeschlagen wurde und das ich gerne angenommen habe. „Der Mann Mose“ – das bezieht sich natürlich auf Sigmund Freuds berühmtes Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion und damit völlig eindeutig auf den historischen Mose, den Freud sich unter der biblischen Übermalung freizulegen vorgenommen hatte, und nicht etwa auf den biblischen, literarischen Mose, der in Freuds analytischen Augen eine Deckerinnerung darstellte. Dabei konnte Freud mit durchaus sensationellen Funden aufwarten. Mose war ein Ägypter, das verrät schon sein Name, vgl. Namen wie Thut-mose, Amen-mose, Ra-mose, wo -mose so viel wie „Kind des…“ bedeutet entsprechend griechischem -genes in Hermogenes, Diogenes, Heliogenes, wobei aber tatsächlich der Bestandteil -mose, anders als -genes oft auch selbständig als Personenname vorkommt.

Darauf verweist zweitens seine Sprachbehinderung. Er war kevad peh, „schweren Mundes“, das heißt für Freud, er konnte kein fließendes Hebräisch und brauchte einen Dolmetscher, Aaron. Er brachte den Hebräern den Monotheismus, und diese Botschaft entspricht nun in keiner Weise der durchaus polytheistischen ägyptischen Religion, aber es entspricht dem religiösen Umsturz des Echnaton von Amarna, der den traditionellen Polytheismus abschaffte zugunsten des exklusiven Kults des einen, einzigen Sonnengotts. Moses, argumentiert Freud, muss ein Anhänger Echnatons gewesen sein, vermutlich hochgestellt, nahe dem Thron. Darauf verweist ja auch das Motiv seiner Aufzucht am pharaonischen Hof.

Und schaut man sich die Texte aus der Zeit des Echnaton an, springen für Freud die Ähnlichkeiten mit der von Moses vertretenen Religion in die Augen. Auch dort geht es wie in der Tora um Wahrheit und Gerechtigkeit und um die Abschaffung von magischem Zeremoniell. Diese Religion, die in Ägypten nach dem Tode Echnatons schnell wieder abgeschafft, verfolgt und gründlich vergessen wurde, hat Moses (Ich schreibe „Moses“, wenn ich mich auf den Freud’schen Mann Moses, und „Mose“, wenn ich mich auf den biblischen Mose beziehe.) den Hebräern gebracht und mit ihnen das Land verlassen, um sie anderswo zu praktizieren. Dabei hat er sie erheblich verschärft, indem er einen unsichtbaren Gott an die Stelle der Sonne setzte, alles Bildermachen verbot und Gott aus dem Raum des Sichtbaren verbannte. Diese abstrakte Religion aber, und nun setzt Freuds psychoanalytische Konstruktion ein, haben die Hebräer nicht ertragen und Moses erschlagen. Davon steht nun nichts in der Bibel, aber ist nicht ständig von Meutereien und Rebellionen die Rede, bei denen Mose mehrfach um Haaresbreite einem Lynchmord entging?

Die These von Moses Ermordung übernahm Freud von dem seinerzeit hochberühmten Alttestamentler Ernst Sellin, einem Pionier der biblischen Archäologie und zeitweilig Kollege Freuds an der Wiener Universität, der in seinem Mose-Buch von 1922 die These vom Mord an Mose vertreten hatte. Schon Sellin hatte mit dieser Untat den Gedanken verbunden, dass das Volk sie nicht vergessen, sondern vielmehr einen schweren Schuldkomplex entwickelt habe, an dem es bis in Jesu Zeit krankte.

Sicher sei, so schreibt Sellin, „daß noch im 3.Jh. v.Chr. [S. bezieht sich auf Deuterosacharja] trotz aller Vertuschungen von priesterlicher Seite die Tradition von dem Märtyrertod des Mose lebendig gewesen ist, daß dieser Mord und Abfall von ihm als die große Sünde des Volkes empfunden worden ist, an der es todkrank geworden, und die erst gehoben werden muß, ehe das Heil hereinbrechen kann. An der Verwerfung des eigenen Religionsstifters, der ihm den schlichten Glauben an den einen heiligen Gott und dessen klaren und einfachen sittlichen Willen gebracht, ist das Volk zugrunde gegangen und nur durch die Zuwendung zu ihm kann es sein Heil wieder finden.“

„Die große Sünde des Volkes, an der es todkrank geworden“ – das schreibt bereits Sellin! Auch Sellin ­meint schon, es hier mit einer kollektiven Krankengeschichte zu tun zu haben. Freud konnte diesen Prozess mit seiner Neurosentheorie erklären: „Frühes Trauma – Abwehr – Latenz – Ausbruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wiederkehr des Verdrängten: so lautete die Formel, die wir für die Entwicklung einer Neurose aufgestellt haben. Der Leser wird nun eingeladen, den Schritt zur Annahme zu machen, daß im Leben der Menschenart Ähnliches vorgefallen ist wie in dem der Individuen.“ So sollte nach Freud der konstruierte Mord an Mose über die Stufen der neurotischen Erkrankung zur Wiederkehr des Verdrängten in Gestalt der monotheistischen Religion führen.

Freud hatte seinem Moses-Buch zunächst den Untertitel Ein historischer Roman gegeben, vermutlich, weil er sich des hypothetischen Charakters seiner Konstruktion sehr bewusst war, hat diesen Untertitel dann aber fallen gelassen, weil seine Konstruktion doch auf Argumenten und nicht auf romanhafter Fantasie basierte, wenn er auch mehrfach bedauerte, „einen Koloss auf tönerne Füße gestellt“ zu haben, wobei sein historischer Mose die tönernen Füße und seine Neurosentheorie des Monotheismus den Koloss darstellte.

Aus der Sicht der Ägyptologie und der Geschichtswissenschaft erweist sich Freuds Mann Moses – wie der historische Mose überhaupt – jedoch als reine Fantasie. Größere Gegensätze als die zwischen Echnatons kosmologischer Theorie, die die Welt und das Leben auf ihr auf die Sonne zurückführt, die durch ihre Bewegung die Zeit und durch ihre Strahlen das Leben hervorbringt, und Moses religiöser Botschaft, die auf Bund, Gesetz, Verheißung und Glauben basiert, sind kaum vorstellbar. Der ethische Charakter der Amarna-Religion ist reine Erfindung; im Gegenteil unterscheidet sich Echnatons Lehre gerade durch das Fehlen der ethischen Dimension von den Texten des traditionellen Polytheismus. Die Sonne scheint nun einmal über Gut und Böse.

Keine historische Spur von Moses irdischem Wirken hat sich je finden lassen. Die Mose-Erzählung der Bibel ist das Einzige, was wir über Mose erfahren. Darin gibt es aber immerhin zwei Spuren, die auf einen historischen Mose hinweisen könnten, weil sie dem Geist der Erzählzeit – die man heute exilisch/nachexilisch ansetzt – strikt widersprechen: Moses ägyptischer Name und seine midianitische Frau, mit Namen Zippora. Das verweist auf einen historischen Kern, ist aber zu wenig, um ein Bild dieses historischen Mose zu entwerfen. Freud machte den Fehler, nicht zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, der Zeit der Textentstehung, zu unterscheiden, als er seinen Moses in der Zeit Echnatons, also im 14. Jh. v. Chr. ansetzte und dann die Lücke bis zur Entstehung der Tora und der prophetischen Texte 800 Jahre später als „Latenz“ erklärte.

Die Suche nach dem historischen Mose sollten wir endgültig aufgeben. Auf diesem Weg lässt sich nicht weiterkommen. Einen Mann namens Mose mag es durchaus einmal gegeben haben, der in den Auseinandersetzungen zwischen der ägyptischen Besatzungsmacht und den kolonialisierten und zweifellos unterdrückten Hebräern eine Rolle spielte, aber mit der Riesengestalt des literarischen Mose hat er gewiss wenig zu tun. Der Mose der Geschichte bleibt uns verborgen, umso übermächtiger und reicher erscheint uns in den Texten der Mose der Erinnerung bzw. des Mythos.

Also möchte ich die Frage nach dem Mann Mose und dem Gesetz Gottes an den Mose des Mythos richten. Da gilt es zunächst klarzustellen, dass ich den Begriff Mythos nicht im Sinne von Lüge und Fiktion verwende, sondern im Sinne einer fundierenden Geschichte, die ihre Wahrheit und Geltung aus dem bezieht, was sich auf sie gründet. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob das gründende Ereignis fiktiv ist, wie z. B. der Triumph des Horus über Seth, den Mörder seines Vaters Osiris, oder unzweifelhaft historisch wie die Französische Revolution und der Holocaust, den der israelische Historiker Gabriel Motzkin als den „Gründungsmythos Europas“ bezeichnete und der auf jeden Fall den Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschlands darstellt.

So spielt es auch keine entscheidende Rolle, ob der Auszug aus Ägypten historisch oder fiktiv ist, weil seine Wahrheit und Geltung auf dem beruht, was auf ihm gründet, und das ist nicht nur das Judentum, sondern auch die aus dem antiken Judentum hervorgegangenen Religionen Christentum und Islam. Wahrscheinlich gibt es kaum einen wirkmächtigeren und in seinen Wirkungen gegenwärtigeren – und in diesem Sinne wahreren – Mythos als den Auszug aus Ägypten mit dem „Mann Mose und dem Gesetz Gottes“.

Der Mann Mose erscheint in diesem Mythos vor allem in drei Rollen, 1. als Anführer und Befreier, 2. als Gesetzgeber und 3. als Fürbitter, dem es in zwei kritischen Situationen, den Affären mit dem Goldenen Kalb und den Kundschaftern, gelingt, den erzürnten Gott davon abzubringen, das Volk zu vernichten. Vor allem aber ist er in diesen drei und vielen anderen Rollen der Prophet, das Sprachrohr und Werkzeug Gottes, und nur in seinen Rollen als Fürbitter und als Lehrer und Auslegers des Gesetzes, d. h. im Buch Deuteronomium, tritt er initiativ auf. Sonst liegt in allen Szenen des Mythos die Initiative bei Gott. Gott ist der Befreier Israels aus der ägyptischen Sklaverei, Gott ist der Gesetzgeber und Stifter des Bundes und Gott ist der Führer bei der vierzigjährigen Wanderung vom Sinai nach Kanaan, indem er dem Volk als Wolkensäule bei Tag und Feuersäule bei Nacht vorangeht.

Der theologische Zentralbegriff dieser göttlichen Initiative ist Offenbarung: Gott offenbart Mose seinen Namen und seinen Auftrag als Stimme im brennenden Dornbusch, er offenbart aller Welt seine überragende Macht in den zehn Plagen mit denen er Ägypten schlägt, er offenbart seinen Bund, sein Gesetz und seine Verheißung dem auserwählten Volk am Sinai, er offenbart in der Wolke Mose den Bau und die Ausstattung des mobilen Tempels mit Kultgerät, Priestertum, Amtstrachten, Festen usw., kurz: die Stiftung der Religion im kultischen Sinne und er offenbart Mose sein Wesen und sogar zumindest von hinten seinen Anblick, so dass Mose, als er nach seiner Fürbitte und der Versöhnung vom Berg herabsteigt, sein Gesicht verhüllen muss, weil das Volk den strahlenden Widerschein der Offenbarung nicht erträgt.

Der Mann Mose ist bei dieser Offenbarung unverzichtbar. Gott kann sich nicht dem Volk unmittelbar offenbaren, weil es seine Stimme nicht erträgt, er braucht einen Mittler, der das Volk vor ihm und ihn vor dem Volk vertritt. Und er kann sich nicht dem König offenbaren, wie es in den Kulturen der Alten, insbesondere orientalischen Welt üblich ist, weil es keinen König gibt.

II.

Damit komme ich zum zweiten, umfangreicheren Teil meines Vortrags, der dem Gesetz Gottes gewidmet ist. Gott zum Gesetzgeber zu machen, das heißt, das geltende Recht zum Werk und Willen Gottes zu erklären, ist ein revolutionärer Schritt von allergrößter Bedeutung. Dem möchte ich in zwei Aspekten nachgehen. Erstens möchte ich die Zerschlagung der Figur des Königs im traditionellen Sakralkönigtum und die Umbuchung ihrer Funktionen einerseits auf Gott und andererseits auf das Volk Israels beleuchten, und zweitens möchte ich die ebenfalls revolutionäre Bedeutung der Verschriftung geltenden Rechts in Gestalt der Tora hervorheben.

Was die Figur des Königs im traditionellen Sakralkönigtum angeht, gibt es in Ägypten einen sehr zentralen, maßgeblichen Text, der die Rolle des Königs als Stellvertreter des Sonnengottes auf Erden festsetzt.

Re (der Schöpfer- und Sonnengott) hat den König
eingesetzt auf der Erde der Lebenden
für immer und ewig,
um den Menschen Recht zu sprechen und die Götter zufriedenzustellen,
um die Ma’at zu verwirklichen und die Isfet zu vertreiben.
Er gibt den Göttern Gottesopfer
und den Toten Totenopfer.

Der König soll als Sohn und Statthalter das Werk der Schöpfung und Weltinganghaltung, das der Sonnengott durch seine Barkenfahrt in Himmel und Unterwelt ausübt, auf Erden durchführen, indem er die „Ma’at“ verwirklicht und die „Isfet“ vertreibt. Wenn Ma’at soviel wie Wahrheit, Gerechtigkeit, Ordnung und Einklang beinhaltet, dann bedeutet Isfet das Gegenteil: Lüge, Unrecht, Chaos und Zwietracht. Was es heißt, Ma’at auf Erden durchsetzen, macht der vorhergehende Vers klar: den Menschen Recht zu sprechen und die Götter und Toten mit Opfern zu versorgen. Kult und Rechtsprechung sind die Hauptaufgaben des ägyptischen Königs und damit des ägyptischen Staats, der als eine Art Kirche für die kultische Verbindung zur Götterwelt und als eine Rechtsinstitution für gerechte Verhältnisse in der Menschenwelt zu sorgen hat.

Gott, König und Ma’at, die Idee der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, werden in engster Verbindung gesehen. Der König verkörpert geradezu Gott und Gerechtigkeit. In einem Loblied auf Ramses II. heißt es:

Hu (der Gott des Wirklichkeit schaffenden Machtworts)
ist dein Mund,
Sia (der Gott der Erkenntnis) ist dein Herz,
deine Zunge ist ein Schrein der Ma‘at,
auf deinen Lippen sitzt der Gott.

Der ideale König verkörpert die Ma’at in einer Weise, dass er sie in seinen Entscheidungen gar nicht verfehlen kann. Ähnlich drückt dieses Verhältnis von König und Gerechtigkeit ein anderer Hymnus an Amun aus.

Dein Wesen ist das, was im Herzen des Königs von
Oberägypten ist:
gegen deine Feinde richtet er seinen Zorn.
Du sitzt auf dem Mund des Königs von Unterägypten:
seine Worte entsprechen deiner Weisung.
Die beiden Lippen des Herrn sind dein Heiligtum,
Deine Majestät ist in seinem Inneren:
Er spricht auf Erden aus, was du bestimmt hast.

Der König verkörpert den Willen des Gottes. Alles, was der König denkt und sagt, ist eine Manifestation Gottes. Gott wohnt dem König ein, wie er seinen Tempeln und Kultbildern einwohnt. Der Leib des Königs, Herz, Mund und Lippen, ist ein Bild und Sprachrohr Gottes.

Diese innige inkarnatorische Beziehung zwischen Gottes-Wille und Königswort mag der Grund dafür sein, warum es in Ägypten keine Rechtscodices gab wie in Mesopotamien. Das im König inkarnierte Gotteswort ließ sich nicht in einem Codex exkarnieren. Darauf komme ich im Zusammenhang des Themas Verschriftung noch zurück.

In Ägypten wurde die Mittlerfunktion des Königtums als Bindeglied zwischen Götter- und Menschenwelt dadurch symbolisiert, dass der Herrscher selbst als Gott (Horus) und Sohn des höchsten Gottes (Re) galt. Auch die Jerusalemer Monarchie übernahm das Modell der göttlichen Sohnschaft des Königs (wenn auch nicht das seiner Göttlichkeit) aus Ägypten. „Du bist mein Sohn; heute habe ich dich gezeugt“, sagt Gott zum König in Psalm 2,7. Es handelt sich hier natürlich um eine Sohnschaft nicht der Zeugung, sondern der Erwählung. Gott erwählt sich den König zum Sohn, der mit der Krönung in den Bund der Sohnschaft eintritt. In Psalm 89,28 wird Gott mit den Worten zitiert: „Ich will ihn (David) zum erst(geboren)en Sohn machen, allerhöchst unter den Königen auf Erden.“ In 2 Samuel 7,14 sagt Gott zu Samuel über David: „Ich will ihm Vater sein, und er soll mir Sohn sein.“

Im Rahmen der neuen, revolutionierten Form der Bundesidee, wie sie der mythische Mose symbolisiert, tritt das Volk Israel an die Stelle des Königs. Mit der gleichen Bundesformel spricht Gott später, nach dem Untergang des Königtums, im Buch Leviticus zum Volk: „Ich will euch Gott sein und ihr sollt mir Volk sein.“ (Lev 26,12). Auch die Sohnschaft geht vom König auf das Volk über. Das Bild von Israels göttlicher Sohnschaft ist fest im Exodus-Mythos verankert, dem Gründungsnarrativ der neuen Religion. So spricht Gott zu Pharao: „Israel ist mein Sohn, ja mein Erstgeborener. Und ich sage dir: Lass meinen Sohn ziehen, dass er mir diene. Und wenn du dich weigerst, ihn gehen zu lassen, siehe, so will ich deinen Sohn, deinen Erstgeborenen, erwürgen.“ (Ex 4,22–23)

Das Bild der Sohnschaft Israels kommt zuerst beim Propheten Hosea an jener berühmten Stelle vor, die Matthäus (2,15) mit Bezug auf die Flucht nach Ägypten zitiert: „Als Israel ein Kind war, da liebte ich es und rief meinen Sohn aus Ägypten. Aber je mehr sie gerufen wurden, desto mehr gingen sie von mir weg; sie opferten den Baalim und räucherten den Götzenbildern.“ (Hos 11,1f.)

An die Stelle des Königtums als Mittler und Bundespartner Gottes tritt in der neuen Religion das Volk, auf das nun die Attribute der Heiligkeit übergehen: „Ihr sollt mir ein Königtum von Priestern und ein heiliges Volk sein.“ (Ex 19,6) Und: „Denn du bist ein heiliges Volk JHWH, deinem Gott, dich hat JHWH, dein Gott erwählt als Schatz-Volk aus allen Völkern, die auf Erden sind.“ (Dtn 7,6=14,2 vgl. 26,18f.)

Während die Sohnschaft, Gottespartnerschaft und Heiligkeit vom König (und das heißt vom Staat) auf das Volk übertragen wird, wird die Funktion des Gesetzgebers vom König auf Gott übertragen. Auf der berühmten Louvre-Stele des Hammurabi sehen wir, wie der babylonische König sein Gesetzbuch in einer Rezitationsgeste dem Sonnen- und Justizgott Schamasch überreicht. Nach dem biblischen Konzept empfängt umgekehrt Mose das Gesetz von Gott.

Die beiden Fundamente des ägyptischen Sakralkönigtums, als Sohn im Bund mit Gott das Volk zu vertreten und als Gesetzgeber dem Volk Recht zu sprechen, werden jetzt dem König entzogen und auf Gott und Volk verteilt. Während die Sohnesrolle nun auf das auserwählte Volk übergeht, wurde die Gesetzgebung Gott zugesprochen. Sie wurde aus dem Bereich einer – wie immer göttlich fundierten – Politik in den der Theologie transponiert.

Genau dies aber ist das entscheidende Kriterium, um im engeren Sinne von einer „Theologisierung des Rechts“ sprechen zu können. Dieser Schritt, der die Welt so tiefgreifend und nachhaltig verändert hat, ist in der Alten Welt einzigartig und erstmals im Frühen Judentum vollzogen worden.

Der Sakralisierung des Volkes entspricht die Ent-Sakralisierung des Königtums. Seiner Vorrechte der Sohnschaft und der Gesetzgebung beraubt, bleibt dem König nichts Besonderes mehr. Das Deuteronomium lässt von der Rolle des Königsamts à la David und Salomon fast nichts mehr übrig. Der König erscheint hier nicht mehr wie der Pharao (und wie später die gesalbten christlichen Kaiser und Könige) als der segensreiche Mittler zwischen Gott und Volk, sondern eher als ein mehr oder weniger notwendiges Übel, das in seiner Machtentfaltung durch das am Sinai gestiftete und schriftlich kodifizierte Bundesrecht so weit wie möglich eingeschränkt werden muss. Er darf weder zu viel Pferde, noch zu viel Frauen, zu viel Gold und Silber und zu viel Soldaten haben. Vor allem soll er sich nach dem Diktat der levitischen Priester eine Zweitschrift der Tora anfertigen und sie alle Tage seines Lebens studieren, um in keiner Richtung von den Geboten abzuweichen. Die Tora ersetzt das Königtum, das allenfalls noch als ein Zugeständnis an die Unmündigkeit des Volkes geduldet wird.

Im Übrigen ist der deuteronomistische Entwurf der Königsrolle eine reine Fiktion. Die neue Religion, wie sie von den exilischen Propheten und der nach Babylonien deportierten literaten jüdischen Elite ausgearbeitet wurde, entstand in einer Situation des Totalverlustes von Königtum, Staat, Tempel und Territorium und zwang die Juden, auf äußere Stabilisatoren zu verzichten. Gesetz, Staatlichkeit, Tempel, Priestertum wurden am Berg Sinai, in der Wüste und in einer radikal extraterritorialen Situation geschaffen. Dieses neue Konzept von Religion ist nicht mehr abhängig von Staat, Königtum und Territorium, es kann überall dort verwirklicht werden, wo Juden leben und das Gesetz des Bundes befolgen. In dieser Differenzierung und Emanzipation der Religion von Staat und Territorium liegt das Geheimnis des Überlebens des Judentums als einzige Nation der Antike über zwei Jahrtausende der Diaspora und Verfolgung hinweg, während alle anderen antiken Völker und Kulturen untergegangen sind.

III.

Abschließend und etwas ausführlicher möchte ich nun noch auf die Bedeutung der Schrift für das Gesetz Gottes eingehen. Die Idee des Gottesgesetzes ist nicht nur darin revolutionär, dass sie das System des Sakralkönigtums aus den Angeln hebt, sondern auch darin, dass sie – wohl zum ersten Mal in der Geschichte – geltendes Recht verschriftlicht. Diesen Schritt möchte ich unter drei Aspekten beleuchten: Kodifizierung, Veröffentlichung und Verewigung des Rechts.

Der orientalische Herrscher war im vollen Sinne des Wortes ein nomos empsychos, er verkörperte das Gesetz, er erließ die Gesetze und hob sie auf, verurteilte und begnadigte in einer von keinem Gesetzbuch eingeschränkten Souveränität. Das hat man früher nicht gesehen, weil man die mesopotamische Rechtsliteratur für Gesetzbücher, Kodifikationen geltenden Rechts hielt. Das war sie nicht. Darauf gehe ich weiter unten noch näher ein.

Wir können davon ausgehen, dass in der klassischen Zeit des israelitischen Königtums das geltende Recht mündlich verfasst und wie in Ägypten und Mesopotamien im König verkörpert war. In der schweren Krise des späten 8. und frühen 7. Jh., als das Nordreich von den Assyrern zerstört wurde und das Südreich in assyrische Abhängigkeit geriet, wird es zu einem Verschriftungsschub gekommen sein, um die bis dahin mündlich überlieferten Traditionen vor dem Vergessen und Verschwinden zu retten. Dazu gehören vermutlich auch frühe Formen von Rechtsverschriftung. Solange das Königtum aber existierte, wird man sich diese eher nach der Art der mesopotamischen Rechtsbücher vorstellen, also nicht als Codex, sondern als Rechtsliteratur. Was bedeutet diese Unterscheidung?

Ein Codex ist eine Sammlung schriftlich fixierter Gesetze mit Rechtsgeltung. Als Sammlung strebt ein Codex eine umfassende Regelung des sozialen Lebens an. Darin unterscheidet er sich von ad-hoc Erlassen und Rechtsurteilen. Durch schriftliche Fixierung unterscheiden sich die gesammelten Gesetze von mündlicher Tradition, Gewohnheitsrecht, Sitte. Und durch das Kriterium der Geltung unterscheidet sich ein Codex von einem Rechtsbuch.

Rechtsbücher sind genau wie Codices Sammlungen schriftlich fixierter Gesetze, mit dem Unterschied, dass diese Gesetze nicht unbedingt in Kraft sein müssen. Vor allem hat die Sammlung als solche keinen normativen Geltungsanspruch. Es handelt sich um Wissensliteratur, die den Gelehrten und Regierenden die nötigen Kenntnisse der Rechtstradition bereitstellt, um sie zum Entwerfen und in Kraft setzen neuer Gesetze zu befähigen, die aber nicht den Richtern geltendes Recht vorschreibt, nach dem sie ihre Urteile zu fällen haben.

Der bekannteste Fall, der Codex Hammurapi, war zweifellos als Codex gemeint. Als solchen hat ihn Hammurapi auf einer Stele aufgezeichnet, die ihn als recht-setzenden Herrscher verewigen soll. An diese Stele sollten sich in künftigen Zeiten Rechtsuchende wenden. Diese Stele will also nicht künftigen Gesetzgebern vorbildliche Gesetze vorschreiben, sondern im Sinne geltenden Rechts künftigen Richtern, Klägern und Beklagten eine Orientierung geben. In dieser Form hat der Codex Hammurapi aber nie funktioniert. Als literarisches Beispiel guter Gesetzgebung dagegen existiert der Stelentext in vielen Abschriften auf Keilschrifttafeln.

Dass diese als Codex gemeinte Gesetzessammlung nicht als solche, sondern nur als Literatur funktioniert hat, hängt mit der Idee der Rechtssouveränität des Königs zusammen. Jeder König versteht sich als souveräner, nur dem Sonnengott als dem Gott der Gerechtigkeit verpflichteten Gesetzgeber, so wie Hammurapi sich auf der Stele dargestellt hat. Ein auch die Nachfolger bindender Codex würde die Rechtssouveränität des Königs in unerträglicher Weise einschränken.

Die Ägypter haben das offenbar ähnlich gesehen. In Ägypten existieren auch nicht einmal Gesetzessammlungen wie in Mesopotamien. An Rechtsliteratur gab es vor allem Beurkundungen von Rechtsgeschäften wie z. B. die berühmten Akten des Grabräuberprozesses und des Prozesses gegen die Beteiligten einer Haremsverschwörung unter Ramses III., die Akten über Grundstücks-, Häuser-, Ämter- und sonstige wichtigen Verkäufe, Testamente, Steuerlisten und Verwaltungsurkunden aller Art. In diese lebendige Rechts- und Verwaltungstradition hinein erließen die Könige ergänzende Edikte, die dann inschriftlich-monumental veröffentlicht bzw. promulgiert wurden. Bei diesen Texten ging es um die verbindliche Regelung besonderer, in der Rechtstradition nicht vorgesehener Fälle. Daher ist auch die Gattung der performativen Rechtsinschrift in der Form des Edikts oder Dekrets – die ägyptische Gattungsbezeichnung lautet wd njswt – reich belegt.

Das Wort wd njswt „Königsbefehl“ bezeichnet zugleich den Sprechakt des königlichen Machtworts und die Form seiner Verschriftung, typischerweise auf einer Rundbogenstele. Diese Form der Rechtsverschriftung lässt sich am besten mit dem von Aleida Assmann geprägten Begriff der „Exkarnation“ bezeichnen. Das Machtwort, d. h. die Gabe des Recht-setzenden, Wirklichkeit-schaffenden Wortes, ist im König inkarniert, und in der Form der das Machtwort verschriftenden Stele wird dieses Wort exkarniert. Dabei geht auch die performative Qualität des Sprechakts „Befehlen“ in die Stele und ihre Inschrift ein. Die Stele protokolliert oder beurkundet nicht den Sprechakt als ein Ereignis der Vergangenheit, sondern sie vollzieht ihn im Medium der Schrift. Das unterscheidet den verschrifteten Königsbefehl von den Formen der Rechtsliteratur.

Die Rundbogenstele mit dem in Stein gemeißelten Wort des Königs erzeugt eine Situation höchstverbindlicher Normativität. Wer dem Befehl nicht Folge leistet, macht sich strafbar und hat harte Sanktionen zu gewärtigen.

Wenn wir den Begriff Codex auf die Tora anwenden, können wir konstatieren, dass die Tora in der Tat ein Codex im oben definierten Sinne ist. Sie enthält erstens eine Sammlung von Gesetzen, die eine umfassende Regelung des gesellschaftlichen und politischen Lebens anstreben. Sie kodifiziert zweitens geltendes Recht. Und sie stellt drittens, ganz im Sinne der ägyptischen Königsedikte, eine Form performativer Schriftlichkeit dar. Man spricht von performativen Sprechakten, wenn Sprecher mit ihrer Äußerung eine Wirklichkeit oder Verbindlichkeit herstellen anstatt sich nur auf sie beziehen. Der Sinn dieser Rechtsverschriftung ist denn auch, wie oben gezeigt, in genau jenem Akt zu sehen, der im Alten Orient und in Ägypten unter allen Umständen vermieden werden soll: in der Abschaffung der königlichen Rechtssouveränität.

Der performative Charakter dieser Rechtsverschriftung kommt besonders deutlich in der in 2Kg 22f. geschilderten Geschichte von der Auffindung des vergessenen Buches zum Ausdruck. Bei Restaurierungsarbeiten im Tempel wird ein Buch gefunden, das sich als ein Buch von Mose herausstellt und das Gesetz enthält. Seine Lektüre löst bei König und Volk Trauer und Entsetzen aus, denn die Gesetze sind in Unkenntnis dieses Buches nicht befolgt worden und die Strafe ist unausweichlich. Man stelle sich einmal vor, die Auffindung des Codex Eschnunna oder der Stele des Hammurapi hätte in Mesopotamien ähnliche Reaktionen ausgelöst. Das ist unmöglich, so reagiert man nur auf geltendes Recht.

Die Tora ist aber noch sehr viel mehr als ein Codex. Den Kern sowohl der Gesetzesidee als auch ihrer Verschriftung bildet das Konzept des „Bundes“, hebr. b’rît, der zwischen dem Gott Yahweh und seinem erwählten Volk Israel geschlossen wird. Die Schrift beurkundet diesen Bund im Sinne eines Vertragstexts. Der Gesetzeskodex, die Sammlung von dadurch in Kraft gesetzten Gesetzen, ist in diesen Bündnisvertrag eingebettet. Auf seine Urform, die ungefähr den Kapiteln 20–23 des Buches Exodus entspricht, wird als „das Buch des Bundes“ Bezug genommen. So heisst es etwa in Ex 24, 7: „Und er [Mose] nahm das Buch des Bundes (sefær habbəreît) und las es vor den Ohren des Volkes“.

Das Modell des politischen Vertrags, und zwar sowohl des hethitischen paritätischen Staatsvertrags als auch des assyrischen Vasallenvertrags sowie der assyrischen Loyalitätsvereidigung ist so gut erforscht und so vielfältig nachgewiesen, dass ich mich hier kurz fassen kann. Meine Frage ist nun, welche Impulse für die Verschriftung und welche Art von normativer Schriftlichkeit sich aus diesem Aspekt des Bibeltextes ergeben, über den Aspekt eines Codex hinaus. Das Neue, das mit der Vertrags- oder Bundesidee in die Tradition der israelitischen Rechtsverschriftung hineinkommt, ist in meinen Augen die Theologisierung sowohl des Rechts als auch der Geschichte. Auch die Verkoppelung von Gesetzeskorpus und Geschichtserzählung scheint sich mir aus der Idee des Gottesbundes zu ergeben.

Aus der Bundesidee folgt logisch die Identität von Vertragsgeber und Gesetzgeber. Gott bietet den Kindern Israel einen Bündnisvertrag an, der wie bei Verträgen üblich eine Reihe von Vereinbarungen enthält, auf deren Einhaltung sich die Vertragspartner verpflichten, mit dem einen Unterschied, dass diese Vereinbarungen auf Seiten Gottes Verheißungen implizieren, wie sie nur ein Gott gewähren kann, und auf Seiten des Volkes das gesamte individuelle, soziale, politische und sogar religiöse Leben auf eine gesetzlich geregelte Grundlage stellen, die in ihrem Skopus und Geltungsanspruch weit über alles hinausgeht, was jemals an Recht im Alten Orient verschriftet wurde.

Die zehn Gebote, die Quintessenz des Gottesgesetzes hat Gott mit eigener Hand auf zwei Tafeln geschrieben. Diese Tafeln haben typischerweise die Form der ägyptischen Rundbogenstelen, die auf ägyptisch „Königsbefehl“ heißen.

Was in Ägypten auf solchen Stelen steht, regelt aber immer nur spezielle Fälle wie z. B. eine Grenze setzen, eine Stiftung schützen, eines Sieges oder einer sonstigen königlichen Großtat gedenken, bestimmte Regeln von lokaler Geltung, z. B. für einen Tempel festsetzen. Die beiden Rundbogenstelen, auf die Gott die zehn Gebote schreibt, beziehen sich dagegen im Sinne einer basic structure auf das Ganze der Lebensordnung des Gottesvolkes in seiner Beziehung zu Gott und in seinen Beziehungen untereinander. Die weiteren von Gott dem Mose diktierten 613 Gebote und Verbote führen diese Grundstruktur im Einzelnen aus und enthalten, anders als die mesopotamische und ägyptische Rechtsliteratur, nicht nur Gesetze (hebr. mišpatîm, lat. iudicialia), sondern auch Moralvorschriften (hebr. miṣvôt, lat. moralia) und Kultgesetze (ḥuqqîm, lat. caeremonialia).

Die Tora insgesamt stellt das Gesetz in das Zentrum einer Geschichte, die es als ein Instrument der Befreiung determiniert: der Geschichte des Auszugs Israels aus Ägypten und des Einzugs JHWHs in das Heiligtum, darin er „in der Mitte seines Volkes“ wohnen will: JHWH befreit die in Ägypten versklavten Israeliten, erwählt sie sich als Gottesvolk, schließt am Sinai einen Bund, offenbart ihm die Gesetze als eine unverrückbare, ewige Grundlage, um in diesem Bund zu verbleiben, und stiftet eine auf Glauben und Treue gegründete Religion, die zum Vorbild der Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam geworden ist.

Mit der Tora als verschriftetem Gesetz Gottes verbindet sich das Motiv der Veröffentlichung und allgemeinen, zumindest die männliche Hälfte des Volkes umfassenden Partizipation. Die Tora ist eben nicht nur Gesetz, sondern auch Vertrag. Zum orientalischen Begriff des Bündnisvertrags gehören nicht nur die Verschriftung, sondern auch mnemotechnische Vorkehrungen gegen das Vergessen. Schon zu hethitischen Verträgen gehört die Anordnung, den Vertragstext in regelmäßigen Abständen zu verlesen. Esra liest vom ersten bis zum letzten Tag des Laubhüttenfests dem Volk die Tora vor und lässt sie Satz für Satz von den Leviten kommentieren (Neh 8,1 und Neh 8,18).

Aus der turnusmäßigen öffentlichen Verlesung des Vertragstexts entwickelt sich die synagogale Toralesung, bei der im Jahreszyklus einmal in 54 Wochenabschnitten die gesamte Tora vorgetragen wird. Der Wortgottesdienst auch der christlichen Kirchen steht in der Nachfolge einer Institution, die als Organ der kollektiven Erinnerung gedacht war. Das Gedächtnismahl der Seder-Nacht beim Pessachfest lebt in der christlichen Eucharistie weiter.

Die mnemotechnischen Vorkehrungen, mit denen Mose das Bündnis absichert, gehen in der Darstellung des Deuteronomiums nun aber weit über alles hinaus, was die altorientalischen Traditionen gegen die Gefahr des Vergessens aufbieten. Ich habe die deuteronomische Mnemotechnik mehrfach ausführlich behandelt und will das hier nur stichwortartig in Erinnerung rufen:

1. Auswendiglernen: Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen dir ins Herz geschrieben sein (6.6 vgl. So schreibet euch nun diese meine Worte ins Herz und in die Seele 11.18).

2. Weitergabe an künftige Generationen: Vers 7: Und du sollst sie deinen Kindern einschärfen und sollst davon reden, wenn du in deinem Hause sitzest und wenn du auf den Wegen gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst (6.7 vgl. 11.20)

3. Denkzeichen, am Körper: Du sollst sie zum Denkzeichen an deine Hand binden und sie als Merkzeichen auf der Stirne tragen (6.8 vgl.11.18) und am Haus: Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses schreiben und an deine Tore (6.9 vgl.11.21)

4. Öffentliche Verschriftung: Und dann, wenn ihr über den Jordan in das Land ziehet, das der Herr, dein Gott, dir geben will, sollst du dir große Steine aufrichten und sie mit Kalk tünchen und sollst, wenn du hinüberziehst, alle Worte dieses Gesetzes darauf schreiben. (27.2–8)

5. Erinnerungsfeste: vor allem Sukkot – das Laubhüttenfest, in dessen Verlauf alle sieben Jahre der gesamte Text des Buches verlesen werden soll (s.u.8).

6. Mündliche Überlieferung, das Lied (Ha-Azinu), das Mose dichtet und dem Volk beibringt und das die Heilstat Gottes, die Verpflichtung des Volkes und die Strafen bei Untreue besingt.

7. Als siebtes Verfahren folgt dann die Kanonformel „nichts wegnehmen, nichts hinzufügen“, also die Schließung des Vertragswerks.

Aus dieser Transposition eines politischen Modells, des Bündnisvertrags, auf die Beziehung zwischen Gottes- und Menschenwelt entsteht etwas ganz Neues, eine neue und völlig einzigartige Form von Religion, die dann später zum Modell der modernen Weltreligionen werden wird. Mit diesem Schritt tritt Israel aus den herkömmlichen Ordnungen des religiösen und politischen Lebens heraus, und es gibt kein passenderes Symbol für diesen Auszug als den Exodus, die Erzählung vom Auszug aus Ägypten.

Da Gott ewig und universal ist, könnte man mit der Theologisierung des Rechts vermuten, dass auch das ius divinum, das Gottesrecht universal, für alle Menschen gültig und allem zeitlichen Wandel enthoben gedacht ist. Das ist es aber nicht. Das Gesetz Gottes hat trotz seiner Zeitenthobenheit einen sozial bzw. politisch klar umgrenzten Geltungshorizont: Es gilt nur für das Volk, das Gott sich erwählt und aus der ägyptischen Sklaverei befreit hat. Es besteht ursprünglich weder der Auftrag noch das Interesse, seine Geltung auf andere oder gar alle Menschen auszudehnen. Dieser Geltungshorizont ist zwar national, aber nicht territorial bestimmt, wie es sonst bei Rechtsordnungen üblich ist. Das Gottesrecht endet in seiner Geltung nicht wie ägyptisches, assyrisches, babylonisches, attisches, spartanisches, römisches usw. Recht an Landesgrenzen, es ist explizit und emphatisch exterritorial.

Es wurde gestiftet am Berg Sinai und in der Wüste, und nicht im Gelobten Land, und es wurde als Gottesrecht konzipiert in einer Situation, in der es Staat und Territorium nicht mehr gab, im babylonischen Exil und unter persischer Herrschaft. Sein Geltungshorizont wird bestimmt von einem Prinzip, das es in anderen Ländern und auch im vorexilischen Israel selbst nicht gab: dem Prinzip „Glaube“. Das Gesetz gilt für die, die es angenommen haben und an ihm festhalten, weil sie Gott, seiner Bundestreue und seiner Verheißung Glauben schenken.

„Glauben“ heißt hebräisch he-emîn, Hiphil, also Kausativ vom Stamm aman, „stützen, tragen“ (der uns in dem Wort „amen“ vertraut ist), und heißt so etwas wie „sich festmachen, sich gründen in“; konstruiert mit der Präposition be heißt es „jemandem glauben, vertrauen“. Dafür gibt es zwei Schlüsselstellen in der Hebräischen Bibel. Die eine bezieht sich auf Abraham und steht in Gen 15,6: „und er glaubte JHWH (w ehe´emīnu b eyhwh) und der rechnete es ihm als Gerechtigkeit an.“

Gott hatte Abraham, den er aus Harran in Mesopotamien nach Kanaan gerufen hatte, verheißen, er würde mit Sarah, seinem Weib, einen Sohn zeugen und in seinen Nachkommen dereinst zu einem großen Volk werden, zahlreicher als die Sterne am Himmel. Nichts war unwahrscheinlicher als das, denn beide, Abraham (99) und Sarah (90), waren in hohem Alter. Daher war Abrahams Glaube ein Akt gegen jede Evidenz und dadurch so verdienstvoll. Abrahams Glaube bezieht sich also auf eine gewaltige und in jedem Sinne unwahrscheinliche Verheißung.

Die zweite Schlüsselstelle steht im Buch Exodus 14,31: „Und Israel sah die große „Hand“ (=Tat), die JHWH an Ägypten getan hatte, und das Volk fürchtete JHWH und glaubte JHWH (wayya´amînû b eyhwh) und Mose, seinem Knecht.“

Auch hier geht es, wie in der Abraham-Erzählung, um Berufung und Verheißung. Wie Abraham aus Harran, führte Gott Israel aus Ägypten heraus, und wie Abraham verheißen wurde, zum Stammvater eines großen Volkes zu werden, hatte er nun den inzwischen zum Volk gewordenen Israeliten das Gelobte Land verheißen, in dem sie im Bund mit Gott wohnen sollten.

Auch dies war eine Verheißung gegen alle Wahrscheinlichkeit. In der ersten Stelle geht es um den unerschütterlichen Glauben Abrahams, in der zweiten um den durchaus erschütterlichen Glauben des Volkes Israel, der ständig erneuert werden muss.

Diese beiden Stellen beziehen sich auf den Ursprung dessen, was die Tradition unter Heilsgeschichte oder historia sacra versteht. Das ist die Geschichte Gottes mit seinem auserwählten Volk. Sie steht im Gegensatz zur historia profana, der Geschichte der Völker, die nicht im exklusiven Bund mit Gott stehen, und zur historia divina, der Geschichte der Götter miteinander und mit den Menschen, von der die Mythen erzählen. Im Unterschied zu den anderen beiden Formen von Geschichte verläuft die historia sacra linear: Sie hat einen Anfang und ein virtuelles Ende, das dann eintritt, wenn das Volk den Bund bricht und die Verheißung verspielt. Später entwickelt sich aus der Vorstellung des Endes die Apokalyptik, die das Weltende mit dem Weltgericht verbindet. Innerhalb der linearen historia sacra herrscht ein strenges Zeitregime, in dem alles menschliche Tun Folgen hat nach Maßgabe des göttlichen Zorns oder seiner Gnade. Das wird im Buch Exodus zweimal von Gott selbst an sehr prominenter Stelle erklärt: „Denn ich, JHWH, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott, der die Schuld der Väter heimsucht an den Kindern, an der dritten und vierten (Generation) von denen, die mich hassen, der aber Gnade erweist an Tausenden (von Generationen) von denen, die mich lieben und meine Gebote halten.“ (Ex 20 = Dtn 6)

„Der da Tausenden Gnade erweist und vergibt Missetat, Frevel und Sünde; der aber keine (Schuld) folgenlos sein lässt und die Missetat der Väter heimsucht auf Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied.“ (Ex 34,6–7)

Sogar Mose, auf den Gott sein Projekt der Heilsgeschichte gegründet hat, verfällt diesem Verdikt, weil er es in einem Fall an Glauben fehlen ließ. Ich möchte diese Stelle in extenso zitieren, weil sie die Bedeutung des Glaubens beleuchtet und als eine dritte Schlüsselstelle gelten kann. Als die Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste einmal wieder dem Verdursten nahe sind und sich gegen Mose auflehnen, wendet sich dieser am Begegnungszelt an Gott.

Und der HERR redete zu Mose und sprach:

Nimm den Stab und versammle die Gemeinde, du und dein Bruder Aaron, und redet vor ihren Augen zu dem Felsen! Dann wird er sein Wasser geben; und du wirst ihnen Wasser aus dem Felsen hervorbringen und die Gemeinde tränken und ihr Vieh.

Und Mose nahm den Stab [von dem Ort] vor dem HERRN, wie er ihm geboten hatte. Und Mose und Aaron versammelten die Versammlung vor dem Felsen; und er sagte zu ihnen: Hört doch, ihr Widerspenstigen! Werden wir für euch Wasser aus diesem Felsen hervorbringen? Und Mose erhob seine Hand und schlug den Felsen mit seinem Stab zweimal; da kam viel Wasser heraus, und die Gemeinde trank und ihr Vieh.

Da sprach der HERR zu Mose und zu Aaron: yáº`an lo’-he’emantem bî Weil ihr mir nicht geglaubt habt, mich vor den Augen der Söhne Israel zu heiligen, darum sollt ihr diese Versammlung nicht in das Land bringen, das ich ihnen gegeben habe. (Num 20, 5–12)

Auf Bund und Glauben beruht ein Zeitregime, nach dem auch das „deuteronomistische Geschichtswerk“ (1 Sam–2 Kön) verfährt, das die Könige Israels und Judas nach dem Maßstab ihrer loyalen oder vertragsbrüchigen Haltung zum Gesetz beurteilt und dessen strengen Kriterien kaum ein König in der langen Reihe der Könige von Israel und Juda genügt. Der Untergang zuerst des Nordreichs Israel durch die Assyrer und dann des Südreichs Juda durch die Babylonier erscheint so als die unausweichliche Folge der von den Königen aufgehäuften Sünden. Die Idee der Heilsgeschichte verkoppelt Erwählung, Offenbarung, Glaube, Geschichte und Gesetz.

Nun ist aber „Offenbarung“ kein biblischer Begriff, sondern gehört zur theologischen Metaspreche. Er trifft auch die Sache nicht völlig. Hier wird nichts Zukünftiges enthüllt, kein Schleier von dem verborgenen Weltende abgezogen, wie es das griechische Wort apokálypsis, lateinisch revelatio, ausdrückt, die wir mit Offenbarung übersetzen. Hier wird vielmehr etwas gestiftet, der Bund oder Vertrag, den Gott in einem gewaltigen Eingriff von außen mit den von ihm durch Mose aus der ägyptischen Sklaverei herausgeführten Kindern Israels schließt. Diesem von außen kommenden Stiftungsakt Gottes entspricht von Seiten der Menschen Glaube, hebräisch emunah, griechisch pistis, was zunächst so viel wie Bündnistreue heißt. Glaube und Bund gehören untrennbar zusammen. Dieser neue Begriff des Glaubens entsteht erst mit dem ebenso neuen Begriff eines Bundes zwischen einem Gott und einer Gruppe, den Juden, den Christen und Muslime übernommen haben.

Dieser neue Begriff des Glaubens, der zu der ebenso neuen Idee eines Bundes zwischen Gott und Volk gehört, scheint mir viel geeigneter, das weltverändernd Neue der Religion zu bezeichnen, die hier entsteht und unseren Religionsbegriff bis heute bestimmt, als der überstrapazierte Begriff des Monotheismus – auch dies ein metasprachlicher Terminus aus den ­kontroverstheologischen Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts. Monotheismen gibt es viele, und entsprechend zahlreich sind die Differenzierungen zwischen inklusivem und exklusiven, evolutionären und revolutionärem usw. Monotheismus sowie zwischen echtem Monotheismus und Monolatrie und Henotheismus.

Die Monotheismus-Debatte dreht sich seit Jahrhunderten im Kreise und füllt ganze Bibliotheken. Der Monotheismus, der sich mit dem Namen Mose verbindet, folgt logisch im Sinne einer Funktion aus der Bundesidee. Einen Bündnisvertrag kann man nur mit einem Herren schließen, treu kann man nur einem Herren sein; deshalb betont das Deuteronomium im Schema die Einzigkeit Gottes – Jahweh elohenu Jahweh echad. Worauf es ankommt, ist nicht, zu wissen, wieviel Götter es gibt, sondern „was gut ist und was der Herr von (uns) fordert“ (Micha 6,5), d. h. worin das Gesetz besteht und wie man es halten kann, um mit Gott im Bund zu bleiben.

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