Die Formulierung „religiöse Virtuosen“ stammt von Max Weber. Sie betrifft im Christentum alle „Religiosen“, d. h. Mönche, Nonnen, Eremiten und Eremitinnen, Regularkanoniker und -kanonissen, Mendikanten und Mendikantinnen. Ein oder eine Religiose zu sein, fußt auf der gemeinsamen Voraussetzung, zusätzlich zu den Praecepta, den Vorschriften Gottes, die hinreichendes Richtmaß für alle Christen – Laien wie Kleriker – sind, noch die im Neuen Testament niedergelegten sogenannten „Evangelischen Räte“ zu befolgen, also in erster Linie in Gehorsam, Armut und Keuschheit zu leben.
Vorbemerkungen
Religiöse Gemeinschaften verstanden sich seit ihren Anfängen in den ägyptischen und syrischen Wüsten der Spätantike als Einrichtungen zwischen Himmel und Erde. Doch sie vermochten den Himmel nur zu öffnen, weil sie dem irdischen Leben diejenige Gestalt verliehen, die die Chance bot, den Himmel tatsächlich zu erschließen. Trainiert als „Virtuosen“ des Glaubens und – in Verallgemeinerung gesagt – der weltablehnenden Askese, stellten Frauen und Männer, die im Streben nach Selbstheiligung und Vervollkommnung der Seele die Welt verließen, um sich in eine asketische Gemeinschaft zu begeben, eine Elite auch im Umgang mit den pragmatischen Dingen des Lebens dar. Denn diese bildeten die grundlegende Voraussetzung für die spirituelle Perfektionierung. In Gestalt gemeinschaftlichen religiösen Lebens konnten sich somit wesentliche Bedürfnisse der laikalen Gesellschaft kristallisieren: Bei Investitionen ebenso der Frömmigkeit wie des weltlichen Betriebes von Wirtschaft und Politik gewährleisteten Klöster eine sichere Anlageform. Organisationsbezogene Normen religiöser Kommunitäten waren zwar an jener alienatio a saeculo (Entfremdung vom Weltlichen) orientiert, sie regelten dennoch die irdische, die materielle, die menschlich noch unvollkommene Seite der spirituellen Perfektionierung. „Le monastère est en même temps la cellule d‘une cité terrestre“, pointierte Marie-Dominique Chenu.
Diese Vorüberlegungen sind angebracht, denn die Religiosen sind nicht so klar einzuordnende Glieder der Kirche – gerade im Zusammenhang von der damaligen Kirchenreform und dem Investiturstreit, also bei Zielsetzungen, die zum einen eine grundlegende Besserung der moralischen Disziplin namentlich des Klerus und zum anderen die Unabhängigkeit der Kirche von den Laien herbeizuführen suchte – wenn man das in Verdichtung erst mal so sagen darf.
Der Kirchenlehrer Augustinus hat schon in der Spätantike eine Gliederung der Christen in drei Gruppen entworfen, bei der die Religiosen eine gesonderte Position einnahmen. Tria genera hominum (drei Arten von Menschen) sind durch Gottes Wille in die Welt gesetzt worden, wobei man typologisch dem Noe den Klerus, dem Job die Laien, und dem Daniel schließlich die Religiosen zuzurechnen habe, welche sich im Gegensatz zu den beiden Ersteren nicht in die Tumulte begaben, sondern mit innerer Ruhe Gott dienten und die – wie der Geschichtsschreiber Otto von Freising dann in der Mitte des 12. Jahrhunderts sagen sollte – „unberührt [blieben] von den […] jammervollen Wechselfällen des Weltenlaufes“.
Hier ging es nicht um eine Differenz gegenüber all jenen Christen, die nicht Religiose waren, sondern vor allem um die Abgrenzung zum Klerikerstand. In einer recht kämpferischen Abhandlung aus dem 12. Jahrhundert ist dieser Aspekt auf den Punkt gebracht worden: Drei Dinge seien es – hieß es –, was ein Mensch gemäß seinem Stand Gott geben kann: etwas von seinem weltlichen Besitz, etwas von sich selbst und schließlich sich selbst ganz. Hier werden die beiden eben genannten Modelle kombiniert und das Dreifache mit dem Zweifachen verbunden: erstens die Gabe der Laien und zweitens die Gabe des Klerus, da bei beiden die Gebote Gottes, die Praecepta Dei nicht überstiegen werden, und schließlich die Gabe des Mönchs, der auch die Ratschläge, die Consilia beachtet und der dabei eine vollständige Hinwendung (conversio) des Herzens zu Gott vollbringt.
Diese Apologetik zeigt, dass es offensichtlich nicht einfach war, christliche Ordnungsvorstellungen von hierarchischen Funktionen und Ämtern des Priestertums mit einem Religiosentum in Einklang zu bringen. Eine klerikal-institutionelle Kirche stand einer monastisch-pneumatischen Kirche gegenüber, die nicht Hierarchie, sondern die brüderliche Liebe ohne Einschränkung in den Vordergrund stellte, die das Gelübde (votum) statt der Ordination (Weihe), die Weltablösung gegen Weltoffenheit, die Institution „Kloster“ mit dem Abt als Stellvertreter Christi sich zu Eigen rechnete – so ausdrücklich in der Regel Benedikts gefordert – und nicht die Institution „Diözese“ mit einem Bischof als Nachfolger der von Christus eingesetzten Apostel. Diesem Sachverhalt tat es keinen Abbruch, dass seit der Karolingerzeit die meisten Mönche auch zu Priestern geweiht wurden, denn dies diente üblicherweise dem internen Servitium Dei, nicht der Seelsorge.
Aber gerade aufgrund dieser gesonderten Position in der Kirche kamen dem Religiosentum, einzelnen religiösen Gemeinschaften wie auch größeren, halb Europa umgreifenden Verbänden und Orden ganz ausgeprägte Rollen in dem hier nun thematisierten Kampf der Römischen Kirche um innere Reform und äußere Unabhängigkeit zu. Die Kirche hatte sich in den vergangenen Jahrhunderten manchmal bis zur Unkenntlichkeit der eigenen Identität unter der Konkurrenz einer ebenso sakral verstandenen weltlichen Herrschaft gebeugt, zeigte sich nun aber wie Phönix aus der Asche emporsteigend mit dem Ziel der libertas ecclesiae, der Freiheit der Kirche, welche die Klammer säkularer Gewalt abschütteln würde – und sei es durch einen Bruch mit den wesentlichen Linien der eingelebten Ordnung und einer fast experimentellen Suche nach neuen Vermittlungen des Glaubens.
Bei diesem Prozess traten Religiosentum und Amtskirche – gerade weil jenes nicht vollends in der hierarchischen Struktur der Kirche aufging – in ein sich wechselseitig beeinflussendes Verhältnis von prinzipieller Tragweite ein. Dabei handelte es sich um drei Varianten. Variante 1: das traditionelle Mönchtum, das dort, wo es noch in voller Blüte stand, viel von dem, was die Kirche zu erreichen suchte, selbst schon errungen hatte. Variante 2: ein eremitisches Religiosentum, das sich in neuer Form und Zielsetzung, die sich teilweise von herkömmlichen Normen der Kirche separierten, ausgestaltete als spirituelle Antwort auf die Verunsicherungen, die die Reformarbeit in jener Zeit hervorgerufen hatte. Variante 3: das Religiosentum reformierter Kleriker, also der Regularkanoniker, die sich mit Hilfe von Papsttum und großen Teilen des Episkopats ganz neu konstituierte, um eine wirkungsvolle Truppe zu bilden im Kampf der Kirche um ein neues Ansehen.
Mir wird es nun um eine genauere Beschreibung und Analyse dieser drei Varianten gehen, um dann zu beleuchten, welchen Einfluss diese darauf hatten, dass aus jener Kirchenreform tatsächlich eine der entscheidenden, vielleicht sogar die entscheidende Wende des Mittelalters geworden war.
Variante 1: Das traditionelle Mönchtum
Die Wurzeln des Religiosentums liegen bekanntlich bei jenen Eremiten und Eremitinnen, die in der Spätantike ihren Gemeinden entflohen, um Gott in der Einsamkeit der Wüste näherzukommen. Schon bald – noch im ersten Viertel des 4. Jahrhunderts – entstanden ebenfalls im Orient unter der Ägide des Pachomius, dann unter Basilius die ersten klösterlichen Gemeinschaften von Männern sowie von Frauen. In Nordafrika vereinigte Augustinus und sein Schüler Alypius Priester ihrer Bistümer nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde und gaben ihnen jeweils eine Regel. Auch für fromme Frauen geschah dies. In Europa aber sprossen zwischen dem späten 4. und dem 7. Jahrhundert eine Fülle von monastischen Regeln empor. Cassian, Caesarius von Arles, Columban, Isidor von Sevilla, aber auch ein Marcarius von Lérins, ein Gregor von Tours, ein Ferreolus von Uzés oder ein Fructuosus von Braga, um nur einige zu nennen.
In diesem Kreis befand sich auch der größte und wirkungskräftigste aller mönchischen Autoren von Regeln: Benedikt von Nursia, gestorben um 547, zunächst vergessen, dann von Gregor dem Großen als Person wiederentdeckt, wobei seine verschollene Regel bis circa 625 warten musste, um erneut und dann bleibend in Gebrauch zu sein. Nach einer kurzen Zeit der Mischregeln (vor allem aus jener des Columban und des Benedikt bestehend), setzte sich die Regel Benedikts ab der Karolingerzeit nach und nach durch, bis sie den Status der einzigen Regel in Europa überhaupt (sehen wir von der Basiliusregel in Süditalien und Sizilien ab) erreicht hatte.
Das 10. und 11. Jahrhundert war der Höhepunkt des Benediktinertums. Mit seinen letztendlich kaum zählbaren einzelnen Abteien, darunter vor allem Montecassino, war es Cluny, das sich mit ihren letztendlich hunderten Töchterklöstern zur einer ecclesia (einer Kirche), wie es hieß, ausformte, die als Mönchskirche dann unter ihren großen Äbten Odilo und Hugo durchaus einen selbstbewussten Stand neben der ecclesia romana des Klerus und des Episkopats hatte. Das Benediktinertum von Cluny (gegründet 910) war dann durch seinen adeligen Stifter Wilhelm von Aquitanien von Verstrickungen weitestgehend freigesetzt worden. Aus Liebe zu Gott – hieß es in seiner Gründungsurkunde – und zur Stärkung des Bestandes und der Unversehrtheit der katholischen Religion habe er das Kloster eingerichtet. In einem Atemzug mit der Gewährung einer künftig autokephalen Abtswahl gemäß der Regel des Heiligen Benedikts legte er fest, dass das Kloster ab sofort frei sei vom Joch jeglicher weltlichen Gewalt (cujuslibet terrenae potestatis jugo) – einschließlich der seiner eigenen Familie. Gleichzeitig übergab er die Neugründung mit allem materiellen Zubehör den Aposteln Petrus und Paulus zur eigenen Herrschaft (propria dominatio) und beschwor den Papst als künftigen Schützer und Verteidiger (tutor et defensor) der Abtei, durch seine kanonische und apostolische Autorität alle zu exkommunizieren, die sich an den Gütern Clunys vergriffen.
Nachdem dann 931 von Papst Johannes XI. diese Übertragung sowie die Freiheit von jeglicher weltlichen Herrschaft bestätigt worden war und darüber hinaus das Kloster herausgelöst wurde aus der bischöflichen Kontroll- und Jurisdiktionsgewalt (Exemption), vermochte Cluny ihm übergebene oder selbst gegründete Häuser zu einem Verband (mit Zugehörigkeiten auf der iberischen Halbinsel, in Frankreich, England, Italien und in den westlichen Grenzregionen des Deutschen Reiches) von Abteien und Prioraten bzw. Filiationsgruppen von Prioraten zusammenzuschließen, welcher unter der monarchischen Leitung des Abtes von Cluny stand und gleichsam als ein „dislozierter Großkonvent“ verstanden werden konnte.
Cluny entwickelte sich nicht zuletzt durch einen regen Export seiner Gebräuche, also seiner Consuetudines zum führenden Reformzentrum des Mönchtums mit Ausstrahlung auch auf Klöster, die nicht seinem Verband angehörten (z. B. Gorze, Farfa, Hirsau usw.). Cluny band zudem den Adel in eine faktische Schützer- und Schenkerrolle bei gleichzeitigem Angebot eines umfassenden Gebetsgedächtnisses ein. Aufgrund des damit erworbenen Renommees war es führend an der Gottesfriedensbewegung beteiligt sowie an der infrastrukturellen Sicherung der Santiago-Wallfahrt.
Unter Zurückdrängung der körperlichen Arbeit entwickelte es eine weit über die Regel hinausgehende Steigerung und Prachtentfaltung der Liturgie sowie des Chorgebets zum Ruhme Gottes, die dann einhergingen mit einer Monumentalität des Kirchenbaus. Somit konnte sich Cluny während seiner Hochblüte an der Wende im 11. Jahrhundert (unter Abt Odilo und Hugo I.) als eine überaus selbstbewusste Mönchskirche (Cluniacensis ecclesia) innerhalb der Universalkirche verstehen, die ein unabhängiges Mönchtum vorlebte und damit nicht nur auf die gesamte monastische Welt ausstrahlte, sondern ebenfalls auf die großen weltlichen Mächte wie die kaiserlichen Dynastien der Ottonen und Salier oder wie das französische Königtum, dessen Vertreter Robert II. erleben musste, wie Odilo zynisch als „rex Odilo“ bezeichnet wurde.
Noch war das genannte augustinische Schema der drei Stände intakt, mehr noch: fand es sich glänzend bestätigt. Allerdings bezog sich dies mehr auf den rechtlichen Status und auf die wirtschaftliche Prosperität der Klöster. Bei den Einzelabteien jenseits der großen Verbände traf dies nur in sehr beschränktem Maße auch auf die spirituelle Intensität zu.
Variante 2: Das eremitische Religiosentum
In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts trat ein Paradigmenwechsel in der westlichen Christenheit ein. Die vehementen, auch in der Öffentlichkeit geführten Diskurse der Gregorianischen Kirchenreform um die sittliche Qualität des Klerus, aber auch partiell des Mönchtums riefen verbreitet Verunsicherungen und Zweifel an der Erlangung des Heils durch die bestehenden Institutionen hervor. Die Folge war der Ruf nach einer neuen, wesentlich stärker verinnerlicht gelebten Religiosität, deren nunmehr wieder entdeckter Prüfstein das individuelle Gewissen war und ein hohes Maß auch an Selbstverantwortung eröffnete. Der Eremit und später auch Kardinal Petrus Damiani war um die Mitte des 11. Jahrhunderts einer der ersten, die den Ort eines wahren Klosters umrissen, welches in der individuellen Seele – im paulinischen Sinne den gewünschten Wohnort des Heiligen Geistes – zu errichten sei. Ein Benediktinerabt wie Guibert de Nogent beschrieb im Rückblick auf das 11. Jahrhundert als einer der ersten, wie die früher so fruchtbare Zeit der Klöster nunmehr auch vielfach am Dahinschwinden sei – um nur zwei berühmte Autoren zu nennen, die es verstanden haben, die Sache schon sehr früh auf den Punkt zu bringen.
Eine alte, jetzt allerdings erneuerte Weise des vollkommenen religiösen Lebens zeichnete sich ab – die vita eremitica – und sie schwoll vor allem in Frankreich und Italien rasch zur gewaltigen Bewegung an. Nicht mehr im benediktinischen Mönchtum, sondern im Leben der antiken Wüstenväter fand sie ihr Modell. Dadurch aber machte sie das augustinische Schema zumindest erweiterungsbedürftig. Denn Eremitentum verstand man während der unmittelbar vorausgegangenen Jahrhunderte vornehmlich im Sinne der Regel Benedikts, Kapitel 1, 1–5, als Vollendung der klösterlichen schola. Nun aber lehnte man – wie z. B. bei Stephan von Muret, dem Initiator der Grandmontenser – alle früheren Regeln ab und strebte in der verborgenen Waldwüste ein Leben ausschließlich nach dem Evangelium an. Erst nach dem Tode Stephans werden seine Jünger darangehen, selbst eine Regel nach seinen vermittelten Verhaltensnormen zu schreiben und sie „Regula Stephani“ nennen. In der Frühzeit der meisten eremitischen Gruppierungen verhielt es sich ähnlich. Man besaß deutliche Vorstellungen von einem Handeln, das zur religiösen Perfektionierung führen konnte und dessen Elemente in nahezu allen Fällen von einem charismatischen Führer vorgelebt wurden, aber man lebte zunächst ohne eine schriftlich fixierte Regel, denn es galten und reichten das Wort und die Tat des Meisters. Erst in einer späteren Phase suchte man die Kodifizierung der Normen. So schrieb Guigo, fünfter Prior der Grande Chartreuse, die Consuetudines der Kartäuser in Form von Statuten auf. Analog handelte der höchst erfolgreiche Wanderprediger Robert von Arbrissel für seine Gemeinschaft in Fontevraud – um nur zwei Beispiele zu nennen. Übernahmen der Benediktsregel blieben die Ausnahme. Der Unterschied zwischen einem religiös verinnerlichten Leben in der Freiheit des Heiligen Geistes gemäß Paulus, 2. Korinther 3, 17 „Wo der Geist des Herrn, dort die Freiheit“, wie gerade auch vonseiten der Eremiten immer wieder betont wurde, und einem klösterlichen Leben mit strengen Ritualen und formal gefassten Normen erschien zu groß. Hinzukam, dass eremitische Gemeinschaften benediktinischen Konventen durchaus kritisch gegenüberstanden, wie der schon genannte Guibert von Nogent berichtete, wie zum Beispiel Stephan von Muret seine Novizen warnte vor der irdischen Verwobenheit traditioneller Klöster, oder wie zum Beispiel um 1100 der Eremit Rainaldus in der Schrift De vita monachorum den Benediktinern vorwarf, sie mögen zwar den äußerlichen claustrales observantiae (klösterlicher Gewohnheiten) Genüge leisten, die eigentlichen Gebote des Herrn aber ließen sie nicht in das Innere ihrer Seele dringen.
Nicht zu Unrecht spricht man heute von einer „Krise des Mönchtums“ in jener Zeit, als das Monopol der Benediktsregel zerbrach und – um das allegorische Bild des Augustinus noch einmal aufzugreifen – sich im Sektor des Daniel weitere, nunmehr eremitische Formen einnisteten, die Zönobitentum ganz anders verstanden, nämlich weltabgewandter, kontemplativer und zugleich spontaner, stärker auf das Innere des Menschen ausgerichtet und damit für viele Christen, die den wahren Glauben suchten, auch authentischer.
Am Wechsel vom 11. und 12. Jahrhundert und immer noch mitten im Investiturstreit und in der noch keineswegs beigelegten Kirchenreform bahnte sich jedoch bereits eine entscheidende Wende hinsichtlich der Geschichte der Religiosen an – und sie wird speziell dem Problem der organisatorischen Gestaltungsfreiheit in bislang nicht geahntem Maße eine besondere Bedeutung geben: Mit den Zisterziensern, die ursprünglich der neuen eremitischen Bewegung entstammten, aber auf einem strikten, wörtlichen Festhalten an der Benediktsregel bestanden, erwuchs in jener Zeit eine völlig neue Form des Religiosentums. 1098 zog ein Teil des eremitisch gegründeten Konventes von Molesme mit ihrem Abt Robert in eine Einöde namens Cistercium bei Dijon und gründeten dort ein Kloster mit dem programmatischen Namen novum monasterium („Neukloster“). Sie beriefen sich auf die Freiheit des Heiligen Geistes – und sie waren nicht die ersten, die das damals taten –, um ein Kloster einzurichten, wo sie ihr Gelübde über strikte Armut einhalten konnten. Ihre Hoffnung, die sie letztlich nicht trog, richtete sich auf weitere Klostergründungen, die sie in ganz neuer Weise gleichberechtigt behandeln und sich in Liebe künftig verbunden wissen wollten. 1115 bis 1119 schrieben sie den ersten Verfassungstext des Mittelalters, die Carta Caritatis, in der sie die neue Organisationsstruktur festschrieben. Möglich war dies nur, weil sie die Form eines prospektiven Rechts, eines Rechts mit hypothetisch-generellen Rechtsätzen, einführten und damit ein gestaltungsoffenes Normensystem schufen. Auch hierin beriefen sie sich auf die Hoheit des Heiligen Geistes: „Man darf auf keinem Fall glauben, dass unser heiliger Orden eine Erfindung (adinventio) von Menschen ist: Sie ist wahrlich durch die Unterweisung des Heiligen Geistes uns übergeben worden“. hieß es. Trotz ihrer Klosterflucht, trotz ihres Freiheitsbewusstseins gab es kein Abweichen vom Glauben – im Gegenteil, sie fühlten sich konform mit dem Heiligen Geist, der sich zwar über geltendes Kirchrecht hinwegsetzen ließ, nicht jedoch über ein durchaus selbstbewusstes Vertrauen in Gott.
Variante 3: Das Religiosentum reformierter Kleriker
Die Amtskirche bedurfte jener Zeloten, die das christliche Leben gleichsam von unten radikal reformieren wollten, weil sie in jenem Moment selbst radikale Reformen anstrebte. Auf eben diesen Bedarf war schon jener Wunsch zurückgegangen, die charismatisch geleiteten und in vielerlei Hinsicht an der Schwelle zur Heterodoxie stehenden Gemeinschaften der Eremiten und Wanderprediger wieder in die Institutionalität der Kirche integriert zu sehen. Genau hier lag aber auch der Nutzen der aufkeimenden Bewegung sich neu definierender Kleriker. Sie konnten zum herausragenden Instrument der Kirchenreform werden – die allerdings nun nicht von unten, sondern von oben ausging. Eine erste Pflanzstätte hatte sie schon im Kloster Saint-Ruf bei Avignon gefunden, das aus Sehnsucht nach einem eremitischen Leben 1039 von Klerikern gegründet worden war.
Doch analog zu den Verbänden der Eremiten und Wanderprediger konnte eine solche Option nur angestoßen werden, indem man sich nicht scheute, sich durchaus polemisch vom Bestehenden abzusetzen. Schon die von Papst Nikolaus II. abgehaltene Lateransynode von 1059 hatte unter der Wortführung Hildebrands, des späteren Papstes Gregor VII., herbe Vorwürfe gegen den laxen Umgang von Klerikergemeinschaften, aber auch von Kanonissen mit Privatbesitz und den üppigen Lebenswandel formuliert. Scharf wurden die alten, von der Aachener Synode (816–819) gefassten Bestimmungen zum kanonikalen Leben kritisiert. Gefordert wurden Zusammenschlüsse von Klerikern zu mönchischen Gemeinschaften, die das apostolische Leben der Urgemeinde in Jerusalem zum Vorbild nahmen. Von dieser könne man in der Apostelgeschichte (4, 32) lesen, sie sei „ein Herz und eine Seele“ gewesen. Mit der Verwirklichung solcher Leitlinien glaubte man, einen erneuerten Klerikerstand zu schaffen, dessen Integrität und Frömmigkeit das Unabhängigkeitsstreben der Kirche auch im Erscheinungsbild legitimierte.
Dieser Anstoß war erfolgreich. Unbesehen von eremitischen Anfängen, die durchaus noch eine lange Fortwirkung hatten, verlagerten sich die Schwerpunkte der Pflanzstätten des regulierten Kanonikertums, der Regularkanoniker (wie man sie nannte) auf Domkapitel und mehr noch auf neu gegründete Niederlassungen, die „dicht bei den Menschen gesetzt wurden“, wie es hieß, und die somit dem apostolischen Auftrag in Form von Seelsorge nachkommen konnten. Gefördert wurden sie von Bischöfen, die vor Ort die Reform der Amtskirche im römischen Sinne unterstützten. Der Anstoß zu Gründungen kam vor allem im Deutschen Reich ebenfalls vom Adel, welcher die Unabhängigkeit suchte und seine gestifteten Häuser lieber dem Papst übereignete als der königlichen Gewalt. Die Initiative ging gerade im 11. Jahrhundert aber oft noch direkt von Klerikern aus, von denen zumeist wenig überliefert ist und die nicht unbedingt die großen Charismatiker darstellten – wie zum Beispiel jener sonst nahezu unbekannt gebliebene Adam, der südlich vom oberitalienischen Novara am Ort Mortara zu jener Zeit eine Kirche gründete und eine Gemeinschaft von Klerikern um sich scharte. Damit war dort der Grundstein gelegt worden für einen durch das Papsttum stark geförderten großen Klosterverband von Regularkanonikern, der sich wie Cluny als „Kirche“, als ecclesia Mortariensis, bezeichnete.
Überall in Europa bildeten sich Klerikergemeinschaften, die ein Leben führten, wie es früher nur die Mönche getan hatten. Sie standen zwar nicht auf der Schwelle zwischen Rechtgläubigkeit und Häresie, wohl aber zwischen reaktionären, reformfeindlichen Kräften und der Avantgarde des Neuen. So war auch die Klerikerbewegung zunächst geprägt von der Suche nach dem besten Weg, vom Experiment, das Gefährdung und Rückfall ins Alte als Möglichkeit stets in sich trug.
Dies lässt sich an einer der Speerspitzen der Kirchenreform, an Bischof Altmann von Passau (1065–1091) deutlich zeigen. Er war ein überzeugter Anhänger des Reformpapsttums, ein echter Anhänger Gregors VII., dem seine Diözesankleriker schwer zu schaffen machten, indem sie im Widerstand gegen das Verbot der Priesterehe verblieben. Altmann wagte nun ein solches Experiment: Er gründete bei seiner Bischofsstadt um 1067/73 ein klösterliches Stift mit dem Patrozinium Sankt Nikola, das er mit regulierten Klerikern besetzte. Damit war der Grundstein gelegt für eine zunächst außergewöhnliche Erfolgsgeschichte. 1071 reformierte Altmann sein traditionsreiches Eigenkloster Sankt Florian bei Linz, 1073 wirkte er an der Gründung des Stiftes Rottenbuch im Pfaffenwinkel mit, das er mit Chorherren aus Sankt Nikola besetzte. Rottenbuch wurde zum Zentrum eines eigenen Reformkreises sowie zum Zufluchtsort vieler papsttreuer Kirchenmänner.
Letztlich aber war es Papst Urban II., der der jungen, schwach institutionalisierten Bewegung der Regularkanoniker ein wirklich tragendes Fundament gab. Er schrieb im Jahre 1092 in eine (mittlerweile recht berühmte) Urkunde für das Kloster Rottenbuch in Oberbayern, das damals eines der bedeutendsten Zentren der Bewegung der Regularkanoniker im Süden des Deutschen Reiches war, das Verbot, – wie es wörtlich hieß – „unter dem Anreiz einer Erleichterung des Lebens oder unter dem Deckmantel strengerer Lebensform“ aus diesem Kloster „ohne Erlaubnis des Vorstehers und des ganzen Konvents auszutreten“. Zudem dürfen solche Personen von keinem Bischof oder Abt aufgenommen werden. Dies fixierte die Regularkanoniker zwischen den Säkularklerikern auf der einen Seite und den Mönchen auf der anderen und sicherte sie zugleich in dieser derartig unangreifbaren und eigenständigen Position ab. Hier liegt wohl die Antwort auf meine oben gestellte Frage hinsichtlich der Aufsprengung des augustinischen Schemas und damit auch hinsichtlich der Schaffung einer spezifischen Identität der Regularkanoniker. Jene Formulierung Urbans II. leistete einem solchen Aufbau von Identität Vorschub. Sie wurde von ihm formularartig auf Häuser der Regularkanoniker in ganz Europa (unter anderem auch z. B. auf das schon erwähnte Saint-Ruf) angewandt und fand sogar ihren Platz in den führenden Rechtssammlungen jener Zeit (Ivos von Chartres und dann auch Gratians).
Besonders auffällig war in diesem Zusammenhang, dass offensichtlich bis in die ersten Jahre des 12. Jahrhunderts hinein die eben entstandenen Gemeinschaften der Regularkanoniker wie auch die meisten der eremitischen Gruppierungen noch ohne schriftliche Regel lebten. Zwar war oftmals von einer regula beati Augustini, gemäß der sie angeblich lebten, die Rede, aber jeglicher Regeltext von Augustinus war seit Jahrhunderten verloren. Erst während der Jahre 1107/1108 lässt sich überhaupt zum ersten Mal der tatsächliche Gebrauch eines augustinischen Regeltextes nachweisen – nämlich in den Klöstern Springiersbach, Hamersleben (bei Halberstadt) und Saint-Victor in Paris. Es verhielt sich dabei aber nicht so, dass die Regularkanoniker wie viele Eremiten generell glaubten, keiner Regel zu bedürfen, vielmehr verstanden sie es – dies wiederum analog zu den Eremiten –, zunächst nur mit einer Idee zu leben und diese im ideellen Sinne wie eine Regel zu handhaben. In ihrem Falle waren es bekannte Äußerungen des Augustinus über die Apostelgemeinde, verbunden mit dem Text der biblischen Apostelgeschichte, deren zentrale Aussage das Bekenntnis zum „ein Herz und eine Seele sein“ in der gelebten Form einer vita comunis war, wo alle Güter allen Mitgliedern gemeinsam sein sollten.
Eine solche Adaptation von Normen, die textlich nur auf ihre Leitideen reduziert waren, bot im Vergleich zur elaborierten Benediktsregel kaum Orientierungen im Detail und verlangte deshalb eine intensive Exegese durch eine reflektierte Praxis des Lebens. Sie war jedoch nur erreichbar – wie wir es schon bei den Eremiten sahen – mittels der Stärke eines individuell verinnerlichten Glaubens – sei er durch einen Charismatiker unterstützt oder nicht. Von der Wichtigkeit dieses Aspektes zeugt die Fülle an paränetischen Texten, die gewissermaßen eine kontinuierliche conversio in den einzelnen Individuen zu erzeugen suchten – und dies generell ohne Bezug auf eine bestimmte Regel. In jener Zeit sind sie erstmals mit großer Verbreitung angefertigt worden und kursierten insbesondere in kanonikalen und eremitischen Gemeinschaften, einschließlich zisterziensischen.
Summary
Die Struktur dieser Abgrenzungskonflikte, die schon im 11. Jahrhundert begannen und weit ins 12. Jahrhundert fortgeführt worden sind, gleicht frappierend jener, die – wie wir sahen – auch weitverbreitet das Verhältnis zwischen Eremiten und Mönchen bestimmten. Sowohl hier wie dort ging es, wenn auch von unterschiedlicher Richtung her, um ein Hineindringen in den Sektor des Monastischen und um ein Bezweifeln der Monopolstellung des Benediktinischen (mit Ausnahme seitens der Zisterzienser). Es war eine Auseinandersetzung zwischen Altem, Eingewurzeltem, und Neuem, Wurzel Schlagendem, um die metaphorische Ausdrucksweise aus dem damaligen Schrifttum aufzugreifen. Denn noch herrschten im späten 11. Jahrhundert zwangsläufig ebenso im Eremitentum wie in der vita canonica ungefestigte Verhältnisse, gab es in großen Teilen noch labile Identitäten, die sich mehr noch im Flusse als schon im Zustand institutioneller Perseveranz befanden. Erkennbar war dies mancherorts zum Beispiel anhand eines anfänglichen Schwankens zwischen eremitischen oder kanonikalem Leben bzw. an Versuchen, beides miteinander zu verbinden, nachdem man die Foren der Welt verlassen und sich an einen Ort einsamer Abgeschlossenheit zurückgezogen hatte. Die anfänglichen Gemeinschaften von Saint-Ruf oder zum Beispiel auch Springiersbach in der Pfalz könnten als signifikante Fälle unter vielen genannt werden. Ein Indiz für ein durchaus noch unfestes Bild äußerlicher Zugehörigkeiten, die beobachtende Zeitgenossen noch nicht eindeutig zu bestimmen vermochten, ist auch die eindringliche Warnung des Ordericus Vitalis, eines sorgfältig seine Zeit beobachtenden Benediktiners, vor der großen Zahl von weit und breit schwer zu entlarvenden religiösen Heuchlern.
In dieser sehr bewegten Epoche des Religiosentums konnten wir dennoch drei Formen in den Fokus nehmen: die klassischen Mönche in cluniazensischer Ausformung, die „neuen“ Eremiten und die Regularkanoniker. Alle drei standen tatsächlich in einem jeweils ganz eigenen Wechselverhältnis zur Kirchenreform jener Zeit.
Die Cluniazenser führten eine in sich noch gefestigte Mönchskirche von höchstem Renommee vor, die dem Papsttum auch im Investiturstreit mit dem Kaiser, der Patenkind des Abtes Hugo war, eine zuverlässige Stütze bedeutete. Die Anwesenheit ihres Abtes Hugo in Canossa spricht für sich. Vor allem aber wies Cluny eine Freiheit vor, die den römischen Reformern ein Muster darstellen konnte. Ein konkretes Modell für die Reform aber war Cluny nicht, allenfalls wirkte die durch Cluny vermittelte Erfahrung von Freiheit bei einigen Biographien der Reformer nach. Man sollte auch nicht übersehen, dass Cluny letztendlich einer der Verlierer der Umwälzungen in der westlichen Christenheit war. Cluny bedurfte der Harmonie zwischen weltlicher und geistlicher Macht als ein Fundament der göttlichen Ordnung. Nach dem Tode Hugos begann – trotz des großen Petrus Venerabilis – der langsame Übergang hin zu einem „Cluny après Cluny“.
Die Eremiten waren die eigentlichen Gewinner. Sie waren nach ihrer eigenen Überzeugung vom Heiligen Geist durchweht und damit auf den Weg der Freiheit sowohl zu Gott wie auch zu sich. Obgleich sich erhebend aus einer tiefen Verunsicherung, begründeten sie ganz aus dem Inneren ihre Seele, aus einem claustrum animae heraus, ein neues und starkes Religiosentum, das innovative, ja experimentelle Formen religiösen Lebens schuf, deren Rationalität seinen Fortbestand sicherte und sogar zur Reform des althergebrachten Mönchtums führen konnte. Auch das „Cluny après Cluny“ nahm dann wesentliche Ordnungselemente der Zisterzienser an. Die Eremiten waren sowohl die Nutznießer der Kirchenreform als in vielem auch deren spiritueller Motor.
Die Regularkanoniker deckten einen dringlichen Bedarf der Kirchenreform ab. Sie stellten das neue Personal an Klerikern dar, das den religiös-sittlichen Kriterien entsprach. ‚Vermönchte‘ Kleriker war eine stupende Lösung, die noch dadurch sublimiert wurde, als die Anfänge der Kirchengemeinschaft damit in Verbindung gebracht wurde und eine heilsgeschichtliche Legitimation gewonnen war. Dass sie im Ganzen nicht den totalen Erfolg brachte, lag vielleicht an der wirklichkeitsnahen Stärke jenes augustinischen Dreier-Schema, das eine strikte Tennung von clericus und monachus festgeschrieben hatte.
Summa summarum aber kann man wohl mit Berechtigung sagen, dass die Geschichte der Kirchenreform ohne den Einbezug der Religiosen nicht rekonstruierbar ist.