Über das Wesen des Lebendigen auf dem Hintergrund des Schöpfungsverständnisses

As part of the event "Understanding of nature", 14.02.2020

Wie unterscheiden wir Lebewesen oder lebendige Substanzen von leblosen Dingen oder Artefakten?

 

Robert Spaemann sagte einmal, dass die neuzeitliche Philosophie seit Descartes dem Wesen des Lebendigen nicht mehr gerecht wird: „Wo der Gedanke des Lebens undenkbar wird, da wird es afortiori der Gedanke der Person, denn Personen sind Lebewesen. die Identität der Person ist eine Funktion der Identität eines Lebewesens.“

Ausgehend von einigen Beobachtungen des Aristoteles, für den das lebende Wesen oder der lebendige Organismus das Paradigma für die Substanz bildet, möchte ich zunächst versuchen, die Eigenart des Lebendigen herauszustellen und einige Charakteristika zu benennen, die lebendige Wesen von leblosen Dingen und auch technischen Produkten unterscheiden. Kurz gesagt, treten in der schon von Aristoteles angestellten Analyse fünf Eigenschaften oder metaphysische Bestimmungen des Lebendigen hervor.

Einheit

Das physisch Seiende als Substanz bildet, anders als kombinatorisch verbundene materielle Aggregate, eine organische Einheit und wahrt im Wachstumsprozess die Form. Met. (Δ 6. 1016 a. 32–36). Was von Natur her ist, existiert aufgrund seiner Einheit in einem anspruchsvolleren Sinn als Substanz. (Met. K 12. 1069 a 7-12)  So heißt es in I 1, etwas sei „in besonderem Maße Eines, wenn es durch physis ein Ganzes und Geformtes“ sei, das in sich selbst die Ursache seiner Kontinuität besitze. (Met. I 1. 1052 a 20–25) Für alle Substanzen gilt, dass das Ganze gewissermaßen früher ist als seine Teile. (Met. Z 10. 1035 b 11–12)

Sie stellen vollständige natürliche Ganzheiten dar. Man könnte hier auf den von Michael Behe eingeführten Begriff der irreduziblen Komplexität hinweisen. Dieser Begriff besagt: Eine Anordnung von Funktionselementen, von denen jedes einzelne eine notwendige Bedingung dafür ist, dass das Gesamtsystem funktioniert, muss in einem lebenden Organismus immer schon gegeben sein. Alle Lebewesen enthalten nicht reduzierbar komplexe Systeme. Würde man ein einziges dieser Funktionselemente entfernen, stände die Gesamtfunktion des Organismus still. Solche Systeme können nicht durch graduelle Weiterentwicklung entstehen, da sie ohne das intakte Ganze eines jeden dieser Elemente nicht lebensfähig sind.  Ein Organismus kann nicht wegen Umbaus geschlossen haben, um verschiedene strukturelle Funktionsmomente gegen andere auszutauschen.

Formbestimmtheit

Als Folge der von Descartes lancierten mechanistischen Vision vom Körperlichen, nach der ein Organismus wie eine Maschine funktioniert, denken manche heute Lebendiges in den Begriffen von Teilen, die aneinander gekoppelt sind.  Auf diese Weise gelangt man hier zu der Überzeugung, ein Organismus werde durch den schrittweisen Austausch von Teilelementen, die – wenn man sie dann aufsummiert – ein anderes Funktionsgefüge ergeben, in einen anderen Organismus transformiert. Aristoteles hatte von der jedem Individuum einer „Art“ eigenen substantialen Wesensform gesprochen – Formalgrund seines Soseins sowie seiner konkreten Verwirklichung in der „Natur der Dinge“, d. h. seines Lebendigseins.  Die typologische, sich zur species fortbestimmende Gestalt wird durch die „Form“ vorgegeben.

Eigenbewegung

Man muss nach Aristoteles auf das Woher der primären Bewegung reflektieren, die in jedem kraft physis existierenden Seienden als solchen vorhanden ist. Zwar wird nicht jede Bewegung von dem betreffenden Organismus selbst initiiert, doch gilt: „Zur Selbstbewegung fähig sind nur Dinge, die eine Natur besitzen.“

Dagegen wird die „Selbstorganisation“ in Artefakten extern induziert – durch die Intelligenz des Menschen. Die entelechialen Vollbringungen von Organismen (Wachstum, Stoffwechsel, Selbstorganisation) sind „Wechsel an etwas“.  Wachstum Eigenbewegung, die der Organismus unter Integration von Materie als dem „Woraus“ des Wachstums vollzieht. Die physis überführt seine aggregative Körpermaterie in Einheit und Identität als ein bestimmtes „Dieses“. Bei den Tieren sehen wir eine deutlichere Selbstbewegung, z.B. wenn der Hund sich zur Futterquelle hinbewegt.

Der erste Akt des Lebendigen ist auch das „Lebensprinzip“ (Seele) genannt worden.

Physische Spontaneität

Im Unterschied zu den technischen geplanten und gemachten Gegenständen gehen lebendige Wesen für Aristoteles durch physis hervor. Sie besitzen eine physische Spontaneität. Sie werden generiert durch ein anderes Lebendiges, das mit dieser Soseinsbestimmtheit bereits in Wirklichkeit ist und ein neues Wirkliches als Individuum hervorbringt. Dabei wird das jeweilige materielle Substrat zu seiner Wesensbestimmtheit überformt. Ohne dass die substantielle Bestimmtheit schon von Anfang an irgendwie da wäre, würde keine Entwicklung des neuen Individuums anheben.  Diese Form des Entstehens (bei der Erzeugung eines Lebendigen) ist dann gegeben, wenn die substantielle Form in eine neue Materie eintritt, um sie sich anzueignen.

Immanente Teleologie

Die endgültige Form von etwas, seine typologische Bestimmtheit (Wesensbestimmtheit), das Gestaltmuster und die innere Entelechie ist die entscheidende Instanz für naturhafte Abläufe. Sie setzt dem jeweiligen Ablauf, der Eigenbewegung, ein natürliches Ziel (Zweck) und löst die partiellen Prozesse aus. Typ und Verlaufsgesetz der Veränderung werden von der Natur desjenigen, was sich verändert, bestimmt.

Jedes Lebewesen sucht der Wirklichkeit nach das zu sein, was es der Möglichkeit nach schon ist. Das Prinzip seiner Eigenbewegung ist in ihm selbst anwesend. Daher wird es sich zu seiner Vollgestalt hin entfalten, die das Ziel der eigenen Entwicklung bietet. Somit ist der Organismus beständig beides: das wirkliche Lebendige, da er durch sein immanentes Prinzip schon ist, und auch selbst die Möglichkeit davon. Wo die Möglichkeit weiterer Entfaltung aufhört, erlischt auch seine Lebenskraft.

 

Die unterschiedliche Betrachtungsweise von Naturwissenschaft und Philosophie

 

Biologen, Philosophen und Theologen betrachten gleichermaßen das Auftreten der unter-schiedlichen Formen des Lebendigen auf der erdgeschichtlichen Zeitachse; sie tun es aller-dings unter einem verschiedenen Blickpunkt.

Den realen Zusammenhang zwischen früheren und späteren Formen des Lebendigen so zu erforschen und zu formulieren, dass er eine zeitliche, von natürlichen Ursachen gelenkte Bewegung darstellt, ist Sache der Naturwissenschaft. Sie muss aufgrund ihres Formalobjektes mit erforschbaren natürlichen Ursache-Wirkung-Schemata auskommen. Der Rekurs auf höhere ontologische Ursachen ist von ihrem Selbstverständnis her – empirische Wissenschaft zu sein – nicht erlaubt. Es wäre abwegig, wollte der Naturwissenschaftler bei seinen diversen Erklärungsnöten ständig metaphysische Faktoren heranziehen, die die empirische Wirkursächlichkeit ersetzen. Er wird im Gegenteil darauf bestehen, dass er auf der Ebene seines Forschens mit natürlichen, naturgesetzlichen Zusammenhängen, die durch Beobachtung (z. B. der chemischen Polykondensation von langen Molekülketten, auch des Fossilmaterials) erhärtet werden müssen, auszukommen hat. Naturwissenschaft ist gehalten, innerhalb der Grenzen ihres Gegenstandsbereichs zu bleiben und nicht zu extrapolieren oder auf metaphysische Erklärungen auszugreifen.

Die Metaphysik betrachtet denselben naturgeschichtlichen Realzusammenhang von ihrem eigenen Formalobjekt her – unter einem überzeitlichen Aspekt. Sie fragt nach den Konstitutionsprinzipien der Dinge und öffnet sich dabei ontologischen Faktoren, die allerdings nicht in jene Ursachenfolge einzubrechen haben, mit denen es die Naturwissenschaft zu tun hat. Letztere hat – innerhalb ihrer Grenzen – autonom zu bleiben. Es steht der Metaphysik nicht zu, ontologische Faktoren einzuführen, die nur „getarnte Kausalfaktoren“ sind.  Umgekehrt muss sich eine metaphysische Erklärungsweise ihres transempirischen Gesichtspunktes vergewissern. Sie hat – genauso wie die Theologie – die von den Naturwissenschaften gesicherten Fakten zur Kenntnis zu nehmen und kann in der ihr eigenen Fragestellung daran anknüpfen. Für den Ontologen, der die materiellen wie nichtmateriellen Konstitutionsprinzipien der wirklichen Dinge in den Blick nimmt, ist es entscheidend, den Naturwissenschaften ihre Eigenständigkeit im Hinblick auf die Untersuchung von materiell bestimmten Abläufen, die den Naturgesetzen (mit den durch die Quantenmechanik eröffneten „Freiheitsspielräumen“) gehorchen, zu belassen. Er darf nicht in die Domäne der Naturwissenschaften einbrechen, um dort metaphysische Kausalzusammenhänge als Deus ex machina einzuführen, wo materielle Wirkursachen für eine Erklärung hinreichend sind oder auch an eine Grenze stoßen.

 

Die Frage nach der Konstitution des Lebendigen

 

Auf philosophischer Ebene bedarf es zur Erklärung eines Lebewesens, das keine Anhäufung von Makromolekülen und auch keine funktionierende Maschine, sondern ein Gebilde ganz eigener Art mit immanenten Zwecken (telos) ist, zweier die Materie transzendierender Konstitutionsprinzipien: Zu einem lebendigen Wesen gehören notwendig das Wesen als allgemeines Formprinzip und die Seele (Entelechie) als individuelles Gestaltprinzip.

Das Formprinzip wird von Hans-Eduard Hengstenberg in verschiedene Momente unterteilt, die der Materie als dem anderen Konstituens gegenüberstehen:

Das Zueinander von formierendem Prinzip und Materie heißt „Konstitution“. Hengstenberg nennt das Vitalitätsprinzip auch „Prinzip der Einfachheit“, sofern dadurch die Einfachheit des Lebendigen als solchen repräsentiert wird. Den Gestaltungsfaktor nennt er „Prinzip der Einheit“, denn er hält die Vielheit der Konstituentien in der Einheit.

Die Form ist nur Form, sofern sie Ordnung an die materiellen Teilgebilde, z. B. die Organe, mitteilt; diese sind nur organische Teilgebilde eines höheren Ganzen, sofern sie Ordnung von der Form empfangen. Die Einheit des menschlichen Leibes oder des tierischen Organismus wiederum ist nur eine solche Einheit, sofern sie diese Ordnung ständig empfängt. Dies ermöglicht den ontologischen Ausdruck, der in jedem selbständig Seienden vorliegt. Er wird anschaulich bei der konkreten menschlichen Person in der Relation von Geist und Leib. Der personale Geist drückt sich in der Leibesmaterie aus und konstituiert so den Leib zu seiner Einheit und Ganzheit. Das konstitutive Zueinander von Form und Materie ist um des ontologischen Ausdrucks willen da: „Erst unter dem Begriff des ontologischen Ausdrucks lässt sich das dynamische Sich-selbst-transzendieren des Lebendigen fassen, in dem es sich jeden Augenblick „schöpferisch“ selbst vorweg ist.“

Es widerspricht dem Wesen des Lebendigen, von diesen Konstitutionsprinzipien abzusehen und im Ganzen seiner Gestalt nur die Summe von (vorgängigen) Teilen – eine additiv zusammengefügte Menge einzelner Moleküle und Teilfunktionen – zu erblicken.

 

Schöpfung als Sinn-Urhebung

 

Man wird es Aristoteles nicht zum Vorwurf machen können, die radikale Kontingenz der Dinge, die in ihrem Geschaffensein begründet ist, nicht bedacht zu haben. Der Schöpfungsgedanke war dem griechischen Denker, der sich auf natürliche Vernunftgründe, nicht auf Offenbarung stützte, unbekannt. Das Einblenden der Offenbarung in die Frage nach dem Hervorgehen lebendiger Wesen bringt einen weiteren, neuen Gesichtspunkt ein. Aus der Sicht der Schöpfungstheologie fordert die Entstehung von lebenden Systemen aus vorgängigen chemischen Verbindungen ein schöpferisches Wirken und Urheben Gottes als einer höchsten Ursache, die das naturgesetzliche Wirken von Physik und Chemie transzendiert.

Lebende Organismen stellen gegenüber der unbelebten Materie ein solches Novum dar, dass sie aus dem Wirken der naturgesetzlich festgelegten Kausalität von materiellen Wirkursachen allein nicht erklärt werden können. Sie bedürfen – theologisch gesprochen – einer neuen Sinnurhebung als schöpferischer Formgebung, aus der die auf Information basierende innere Architektur sowie der Funktionsplan des jeweiligen lebenden Systems wie überhaupt das Sein des Lebendigen entspringen.

Der Theologie, die um die urbildhafte Präsenz der Wesenheiten der Dinge im schöpferischen Intellekt Gottes weiß, wird in den wesenhaft unterschiedenen Ordnungen des Lebendigen einen je eigenen, ihnen mitgeteilten und in ihnen verwirklichten Schöpfungssinn erblicken. Jedes Novum im Bereich des Lebendigen ist im göttlichen Intellekt vorgedacht und findet in dessen eigenem Wesen sein Urbild, bevor es als schöpferisches Sinngebilde im Geschaffenen präsent wird.

Freilich wird darauf zu achten sein, dass das Wirken der naturimmanenten Zweitursachen – für sich genommen – intakt bleibt und ohne „Intervention“ der göttlichen Schöpfermacht (causa prima) auf gleichem Wirkniveau wie die naturimmanenten Ursachen auskommt. Im Falle von ständigen Interventionen Gottes auf dem Niveau von innerweltlichen, natürlichen Ursachen hätten wir es mit einer Verendlichung des transzendenten Schöpferwirkens zu tun, da Gott in dem Fall selbst zu einem Glied innerhalb eines naturimmanenten Kausalnexus würde. Gottes Schöpferhandeln ist aber immer transzendent und überzeitlich. Gott kann in seinem schöpferischen Tun nicht in eine geschöpfliche Ursachenkette – auch nicht als deren „erstes Glied“ – hineinverspannt werden.

 

Verfehlte Vorstellung über die Entstehung von endlichen Wesen, Mensch und Geist

 

Panentheismus

Der Panentheismus, den man zur Denkform der Postmoderne  erklärt hat, stellt eine holistische Weltsicht dar. Er zählt das Sein der Welt ontologisch zum Wesen Gottes, ohne Gott mit dem Sein der Welt vollends zu identifizieren – eine Nuance, durch die er sich vom Pantheismus unterscheidet. Er sieht die Welt als in Gott aufgehoben, hält aber dafür, dass Gott „mehr“ sei als die Welt. Damit will er aus den „Aporien“ des „Theismus“ herausführen. Wie in jeder holistischen Grundoption gibt es nur das ein sich stetig wandelnde oder sich entwickelnde Sein. Alles ist Natur oder Prozess: Deus sive natura.

Es gehört zur Logik des Gedankens der gegenseitigen Verschränkung von Endlichem und Absolutem, dass der Schöpfungsgedanke zu verwinden ist. Dieser vermag keine philosophisch zufriedenstellende Verhältnisbestimmung von Absolutem und Endlichem zu bieten. Der Holismus lässt mit der Aufhebung der Differenz zwischen endlichem und ewigem Sein Schöpfung obsolet werden. Außerdem ist es im Panentheismus um das Eigensein und den Selbststand der endlichen Dinge schlecht bestellt.

Teilhardismus

Eine Spielart des Panentheismus stellt die kosmologische Vision Pierre Teilhard des Chardins dar. Im Evolutionismus Teilhards sind alle hören Seinsarten wie Psyche, Leben und Geist schon hereingenommen in den „Anfangsstoff“ der Welt. Sein System unterscheidet sich einmal dadurch, dann aber auch durch die „Hypothese Gott“ von dem des dialektischen Materialismus. Dieser Gott soll allem evolutiven Werden eine Richtung geben (Orthogenese) und alle Dinge durch die kosmischen Stufen in diesem Prozess auf sich selbst als den Punkt Omega hinlenken. Alles Höhere ist dabei eine graduelle Potenzierung dessen, was auf niederer Stufe bereits vorhanden war. So gehören auch Leben, Psyche, Bewusstsein (=Geist) zu den extensiven Eigenschaften der Materie. Daher ist das, was wir „tot“ nennen, seinsmäßig gar nicht tot.

Teilhard unterscheidet eine „tangentiale“ und eine „radiale“ Energie. Diese beiden Energien sind die beiden Aspekte einer einheitlichen Weltgrundenergie. Sofern die „Teilchen“ sich äußerlich berühren und „Gerüste“ aufbauen, wobei geringere Komplexionen von höheren absorbiert werden, im Bereich der „tangentialen“ Energie also, sind sie materiell, sofern sie aber zentrisch aufeinander bezogen sind, gewinnen sie eine Innerlichkeit, stellen sie „radiale Energie“ dar. Materielles und Geistiges sind lediglich zwei verschiedene Aspekte ein und desselben.

Dem Geschehen liegt als treibendes Prinzip die fortschreitende Komplexion zugrunde. Die „qualitativen Sprünge“ gibt es nicht zwischen niederen und höheren kategorialen Stufen, sondern nur zwischen den Graden der Komplexität, indem Zentrierung und Innerlichkeit gradweise fortschreiten. Seinsmäßige Unterschiede gibt es dabei nicht mehr.

Wie es im vorpersonalen Bereich bei Teilhard eine Auflösung aller Selbstände gibt, so kann es auch keine individuelle Geistseele geben. Das Formative ist es ja, was die einzelnen Seinsarten zueinander in die Differenz bringt; und fällt diese aus, so können auch die Individuen einer Art nicht mehr voneinander unterschieden werden. Alle selbständig seienden Substanzen verschwimmen zu einem einzigen kollektiven Sein. So sagt Teilhard denn auch, die ganze Welt sei „eine in Umwandlung befindliche Masse“.

 

Gottes fortgesetzte und gestufte Schöpfung (creatio continua)

 

Nach katholischem Dogma schafft Gott das gesamte Sein des Geschaffenen mit allen seinen Gründen. Es ist danach zu fragen, ob das auf der Zeitskala sich auswirkende weitergehende Schaffen, das sich am Hervortreten neuer Formen des Lebendigen zeigt, Gottes schöpferische Tätigkeit nicht verzeitlicht. Es muss ferner gefragt werden, wie sich der schöpferische Einfluss Gottes auf die Entstehung von neuen Typen des Lebendigen auswirkt.

Die Biologie konstatiert einen „naturgeschichtlichen Realzusammenhang“ (Hengstenberg) zwischen den Lebensformen. Späteres weist eine Übereinkunft mit Früherem auf und hängt von diesem ab. Von einem schöpfungstheologischen Ansatz her liegt es nahe, dass Gott an die früheren Lebensformen und ihre Wirkweise, d.h. den  natürlichen Tradierungsvorgang anknüpft, wenn ein neuer Typus von Lebewesen (etwa in der taxonomischen Ordnung der Familie) hervortritt, und nicht an die ungeformte Materie als Nullpunkt.

Man hat von „fortgesetzter Schöpfung“ gesprochen. Fortgesetzte Schöpfung kann nicht bedeuten, dass Gott zu jeder neuen Stufe des Lebendigen jeweils einen neuen Entschluss fassen muss, der zu neuer Aktivität führt, denn dies würde der Schöpfungstätigkeit Gottes, die immer transzendent ist, ihren überzeitlichen Charakter nehmen. Die geschaffenen Dinge entstammen indes dem überzeitlichen, zugleich wesen- und seingebenden Schöpfungsakt Gottes, der ihnen ständig neu ihr Eigensein verleiht, das auf ihre Wesensfülle abgestimmt ist und sie in ihre substantielle Selbständigkeit entlässt. Das Schöpfungshandeln übersteigt die vier Genera der Kausalität. Deshalb werden dabei geschöpfliches Wirken und geschöpflich/zweitursächliche Ursächlichkeit nicht desavouiert.

Wenn auf der erdgeschichtlichen Zeitskala neue Typen von Lebewesen auftreten, so ist dies – schöpfungstheologisch – als eine im fortgesetzten Schaffen Gottes begründete neue Sinn-Urhebung, die an bereits Vorhandenes anknüpft, zu interpretieren. So ergibt sich eine gestufte Schöpfung.

Konkret heißt dies, dass Gott bei dem, was bereits in der Natur existiert und bei jenen natürlichen Kräften und Mechanismen ansetzt, die in ihrem aktualisierten Vollzug für gewöhnlich  – bei den höheren Species – zu einer neuen Keimzelle führen, die sich zu einem voll ausgebildeten Organismus entfaltet. Die neu auftretenden Formen des Lebens entstehen „aus“ den schon existierenden, indem das Erbgut jeweils eine Umprägung und die genetische Information eine wesentliche „Anreicherung“ erfahren. Dass überhaupt ein Novum im Bereich des Lebendigen entsteht, verdankt sich dem Anschluss an bereits bestehende organische Materialien, Formen und Bauplänen des Lebens. Insofern habe wir es mit einer Abhängigkeit des Späteren (und Formenreicheren) vom Früheren zu tun, wie es von der Evolutionstheorie aufgewiesen wird.

Um Gottes Handeln als Schöpfer aller Dinge nicht zu verendlichen, kann die Umprägung der Erbinformation nicht einfachhin Gott als nächster Ursache zugeschrieben werden. Eine vermittelnde Rolle kommt hier dem wesenhaften und dem individuellen Gestaltungsfaktor zu. Fortgesetzte Schöpfung muss so verstanden werden, dass Gott unmittelbar in das bereits vorgeprägte genetische Material hinein den jeweils neuen wesenhaften und – beim Menschen – auch den individuellen Gestaltungsfaktor (Seele) einschafft, und zwar so, dass der Prozess der von den natürlichen Kräften getragenen Fortpflanzung in der Ordnung seiner Ursächlichkeit intakt bleibt. Es sind diese geschaffenen Prinzipien, die diese Umprägung der Erbinformation leisten, während sie sich dabei auf das aktuierende Wirken Gottes stützen. Gottes Wirken ist ein gestaltschaffenden und seingebendes.

Zu Recht betont etwa Martin Rhonheimer, dass der Rekurs auf übernatürliche planende Eingriffe Gottes im Bereich der Natur nichts erklärt. Ein solcher Interventionismus würde jede Zweitursächlichkeit zerstören.

Mit der Neuordnung des Genbestandes durch den neu geschaffenen Gestaltungsfaktor (Art-logos), zu dem sich ein individuelles psychisches Prinzip zu gesellen hat, kann aber ein Individuum eines neuen Typs von Lebewesen entstehen, was evolutionsbiologisch einen gewissen „Sprung“ (Schuster) voraussetzt, ohne dass dabei der Kausalnexus im Bereich der molekularen Chemie durchbrochen werden müsste. In einer Diskussion zwischen Theologen und Evolutionsbiologen wurde dies von Peter Schuster zugegeben: „Es gibt in der Welt Phänotypen, die praktisch kontinuierlich sind, zum Beispiel die Körpergröße, aber bei vielen anderen Eigenschaften ist dies nicht der Fall. Es ist ein Fortschritt der Wissenschaft, dass man diese kleinen Schritte heute nicht mehr als Muss empfindet. Die können hin und wieder auftreten, aber im Prinzip gibt es eine Quantisierung der Merkmale.“

Die in den Stammzellen komplex differenzierte Materie (die die Information tragenden DNS-Abschnitte) erfährt beim Auftreten eines Novums im Bereich des Lebendigen eine andere Anordnung – das „Programm“ für das nachkommende Individuum. Man spricht von einer geänderten Genfrequenz, die den Morphotypus codiert.

Der Bauplan eines neuen Typs von Lebewesen muss – ausgehend von dem eingeschaffenen wesenhaften Gestaltfaktor – als Information – in eine veränderte Sequenz der Basenpaare auf der DNS-Kette umgesetzt werden. Das Ablesen der Information gehorcht dann wieder wirkursächlichen Faktoren, die den Prozess der Informationsübertragung regulieren. Mit der Neuordnung des Genbestandes kann durch den geschaffenen Gestaltfakor, zu dem sich im Anfang der Embryonalentwicklung ein individuelles psychisches Prinzip gesellt, ein Individuum entstehen, das diesen neuen Typ von Lebewesen repräsentiert.

Es ist allerdings vorauszusetzen, dass durch die Umordnung des Genmateriales unter der Leitung eines neu geschaffenen Gestaltprinzips in Verbindung mit einem neuen Seinsakt und einer differenten Wesensstruktur ein ganz neues ontologisches Sinnganzes zustande kommt. Dies rückt freilich erst durch die metaphysische Betrachtungsweise in den Blick.

Dieser Vorgang besitzt eine Analogie mit der Entstehung eines lauthaften Sprachgebildes: Mit dem gleichen Energieaufwand und den gleichen Kausalreihen können die Schallwellen dazu dienen, entweder ein sinnvolles oder sinnloses Lautgebilde zu übertragen. Auch das menschliche Wort ist ein schöpferischer Ausdruck, der „oberhalb“ dieser Art von Wirkursächlichkeit angesiedelt ist. Es entstammt einer schöpferischen Sinn-Urhebung.

Materie und Form sind, wie schon ausgeführt, Konstitutionsprinzipien des Seienden. Daher können weder die alten und neuen materiellen Bestandteile den Gestaltungsfaktor der neuartigen Zygote hervorbringen, noch können diese Prinzipien ihrerseits die neuen Bestände an Materie, die sie ja kausal ordnen, autonom erzeugen. Der neue Gestaltungsfakor ist nicht das Produkt der wirkenden Materie oder der früheren Form. Doch können die neuen Prinzipien „wesenhafter Gestaltfaktor“ und „Lebensprinzip (= individueller Gestaltungsfaktor) nur in Existenz treten und wirken, wenn zugleich altes und neues biochemisches Material vorhanden ist, das entsprechend wirkt.

Wo Gott in seinem Schaffen an schon Bestehendes anknüpft, dort geschieht dies nicht im Sinne einer additiven Dazugaben, sondern so, dass die Eigentätigkeit der alten und neuen materiellen Prozesse dabei aufgerufen wird und zum Einsatz kommt. Was aber die Materie der erstmalig entstandenen Zygote eines neuen Typs von Lebewesen als ganze angeht, so muss man wohl sagen, dass sie in ihrer Ganzheitlichkeit neu ist.

Gottes Wirken – immer transzendent in Relation zu den geschöpflichen Ursachen – ist ein den wesenhaften Sinngehalt in seinem Denken eidetisch vor-gebendes und sein-stiftendes. Dabei ist die Materie ein Ausdrucksmedium für den Gestaltungsfaktor, der seine eidetische Sinnhaftigkeit aus dem göttlichen Schöpfungsplan ableitet. Dass Gott sowohl die wesenhafte Struktur vorgibt und den Seinsakt zuwirkt, darin sind die beiden Momente seines überzeitlichen Schöpfungsaktes gegeben. Ich komme nun zum Menschen, genauer gesagt, zur Bedeutung seiner Kreatürlichkeit als Antwort, die er seinem Schöpfer gibt.

 

Die Leib-Geist-Person des Menschen als Novum im Bereich des Lebendigen

Zur Phänomenologie und Metaphysik des menschlichen Leibes

Ein markanter Wendepunkt in der Betrachtung des menschlichen Lebens ist sicherlich Descartes. Die sich aus dem cartesianischen Dualismus (res cogitans – res extensa) ergebenden Folgetheorien gabeln sich in eine spiritualistische und eine materialistische Richtung. Diese Theorien vermögen dem Leibe nicht gerecht zu werden. Die materialistischen paradoxerweise gerade deshalb nicht, weil ihnen ein ontologischer Monismus zugrunde liegt, indem sie aus der Materie alles andere Sein erklären und ableiten wollen. Die Materie wird dadurch selbst zu einem Amalgam des Lichtlosen und Irrationalen. Für die idealistischen besitzt das Materielle kein gleichursprüngliches Eigensein. Materie ist gefrorener Geist.

Mutatis mutandis gilt dasselbe vom weltanschaulichen Evolutionismus. Das basierende, wie immer geartete Sein, aus dem alles Höhere abgeleitet werden soll, trägt den Charakter des Mythischen, auch dann, wenn man diesem Sein alle auszubildenden Formen und Qualitäten schon in actu beilegt, wie es bei Teilhard geschieht.

Geist und Leib stehen indes in einem koexistentiellen und koessentiellen Bezug zueinander. Sie verhalten sich nicht einfach wie Akt und Potenz, sondern wirken in einem beide gemein-sam umgreifenden Seinsakt ontologisch zusammen. Das constituere meint ein aktives Sich-zueinander-Stellen.

Dem aus Gliedern und Organen konstituierten Leib fehlt beim Menschen ein Abschluss nach oben. Er ist „inkomplete Form“, wie es die frühe Franziskanerschule ausdrückt. Die Aufgipfelung der materiellen Entitäten nach oben ist hier abgebrochen. Erst der dem Leib transzendente Geist macht den Leib ganz, er teilt den Organen und Gliedern eine Ordnung mit – analog jener Ordnung, die er beim Sprachwort der Lautmaterie, die als Ausdrucksmedium dient, mitteilt. Der Geist hat eine ontologische Souveränität gegenüber dem Leib, so dass er an ihm auch einen schöpferischen Ausdruck realisiert. Der Leib fügt dem Geist ein positives Element der Sinn- und Seinserfüllung hinzu, indem er ihm zu Ausdruck und Offenbarung dient. Seine höchste Würde lässt sich darin zusammenfassen, dass er metaphysisches Wort des Geistes ist.

Die Personalität des Menschen als Antwort-Sein

Gott teilt dem Menschen wie den anderen Geschöpfen das Sein mit. Damit ermächtigt er ihn zugleich zum Vollzug dieses Seins in sich selbst. Er ist nichts anderes als der Vollzug seines individuellen Seinsaktes. Das ins-Sein-Treten und dieses Sein als eigenes Vollziehen ist bereits das erste Antwort-Sein, das der Mensch Gott gibt.

Aufgrund seines personalen Geistes und seiner ihm eigenen Vitalität vollzieht der Mensch eine über sich selbst hinausgehende Aktivität: eine actio transiens. Sie ist eine natürliche Antwort auf die Begegnung eines anderen in seiner Lebenswelt, sei es eines anderen, nicht-personalen Geschöpfs oder einer anderen Person. Dadurch kommt es zu einem Anruf an seinen Willen, auf sie wirklichkeitsgemäß einzugehen. Im Naturreich ist der Mensch allein das Wesen, das sich einem anderen Seienden um dessen selbst willen zuwenden kann, indem er von allem vitalen „Nutzen“ absieht. So antwortet er auf die Selbstzwecklichkeit und immanente Teleologie des Begegnenden, darauf, dass die in seiner Lebenswelt vorkommenden und von Natur her seienden Pflanzen, Tiere, Menschen – vor aller funktionalen Inanspruchnahme durch Kommerzialisierungen, Verwertung und medialer Reproduktion – zunächst um ihrer selbst willen da sind.

Die Kreatürlichkeit des Menschen zeigt sich zuerst und vor allem darin, dass er als Person vor Gott steht, der ihn in seinem Wort zur Antwort ruft und dem er Antwort gibt, indem er vor Gott hintritt. Aus Gottes Hand hervorgehend, ist er in seiner ganzen Existenz auf Gott verwiesen. Dies ist theologisch darin begründet, dass der Mensch in Unmittelbarkeit zu Gott oder in der Relationalität seines Seins zu ihm hin erschaffen wurde. Der Mensch ist das Wesen der Transzendenz, das sich auf Gott hin übersteigt. Weil Geschöpf, schuldet der Mensch Gott Antwort, die er nicht nur in Gebet und Kult gibt, sondern genauso in der verantwortlichen Lebensführung und der Übernahme der ethischen Verpflichtung und der Realisierung seiner Selbsttranszendenz.

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