Verzicht: (k)eine Utopie

Im Rahmen der Veranstaltung "Renunciation (Höffe)", 10.11.2021

Bekanntlich ist die Philosophie aus dem Thaumazein, dem Staunen, entstanden. Gemeint ist allerdings nicht das bewundernde Staunen über die großartige Ordnung und Schönheit der Welt, sondern das skeptische Staunen: dass vieles in der Welt sich nicht so verhält, wie man erwartet.

Mit einem derartigen Staunen muss ich meinen Vortrag beginnen: In der Tradition der philosophischen und der theologischen Ethik sowie in der Praxis der Weltreligionen haben verschiedene Formen des Verzichts eine erhebliche Bedeutung. Die entsprechende Praxis des Verzichts wird keineswegs nur von frommen Menschen gepflegt, sondern auch von weniger frommen Gläubigen, selbst von säkularen Zeitgenossen. Sie fasten oder spenden vor oder an christlichen oder an jüdischen Feiertagen, Muslime praktizieren beides im Monat Ramadan. Überzeugte Muslime und Juden verzichten überdies aufs Schweinefleisch, Muslime zusätzlich auf Alkohol.

 

Weltfremd?

Dennoch sucht man heute in den einschlägigen Nachschlagewerken die zuständigen Stichworte vergeblich. In erstaunlich vielen Lexika der Philosophie und der Theologie findet man keinen Eintrag „Verzicht“. Für die Theologie fehlt er beispielsweise in der mir vorliegenden Auflage des vielbändigen evangelischen Lexikons Religion in Geschichte und Gegenwart und im immerhin fünfbändigen vornehmlich katholischen Neuen Handbuch theologischer Grundbegriffe; das katholische, erneut vielbändige Werk Lexikon für Theologie und Kirche enthält zwar einen Eintrag „Verzicht“, der aber provokativ kurz ausfällt. Auch die verwandten Stichworte wie „Askese“ und „Fasten“ sucht man zum Beispiel im genannten Neuen Handbuch vergeblich. Eine Ausnahme bildet, man sehe mir diesen Hinweis nach, das von mir herausgegebene ­Lexikon der Ethik.

Tauchen wir also mit dem Thema des Verzichts in eine uns fremd gewordene Welt ein? Denn so viel Bildungswissen haben wir noch, dass wir wissen, dass das Verzichten früher durchaus eine Rolle spielte. Ist der Verzicht also eine Utopie im wörtlichen Sinn, ein Nichtort oder Nirgendland? Ist die bloße Aufforderung zu verzichten ein Zeichen von Weltfremdheit? Die entsprechenden Gesellschaftsdiagnosen kennen wir, etwa die Rede von einer Konsum- und Wegwerfgesellschaft.

Andererseits bleibt meine einleitende Beobachtung doch richtig. In den genannten religiösen Zeiten, in der Fastenzeit, auch dem Advent, früher an allen Freitagen, an denen zumindest Katholiken auf Fleisch verzichteten (und Schwaben angeblich dafür und für die Fastenzeit als Herrgottsbescheißerle die Maultaschen erfanden) und bei den Muslimen im Ramadan, wird noch gefastet und gespendet. Und wer sich schämt zu fasten, weil er sich damit als noch partiell gläubiger Christ zu erkennen gibt, verschiebt es vielleicht in andere Jahreszeiten und nennt es, obwohl kein Muslim, lieber „Ramadan“. Allerdings dessen strenge Regel, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu fasten, befolgt er lieber doch nicht.

 

Eine erste Begriffsklärung

Behandeln wir das Thema philosophisch, das heißt als erstes: gründlich und machen uns kundig, vorab im Sprachgebrauch. Um sich an die semantische und lebensweltliche Bedeutung einer Sache heranzutasten, empfiehlt sich generell ein Blick in das Deutsche Wörterbuch, das Jacob und Wilhelm Grimm begonnen haben. In ihrem bewundernswerten, der Gelehrsamkeit gewidmeten Leben tritt auch ein Verzicht zutage, den man nicht unterschätzen sollte: der Verzicht, sich von Belanglosigkeiten ab­lenken zu lassen, heute beispielsweise nicht beim Fernsehen hängen zu bleiben, wenn Sendungen nicht einmal intelligent unterhalten können.

Zurück zum Deutschen Wörterbuch: Bis weit in das 18. Jahrhundert versteht die deutsche Sprache unter dem Verzicht vor allem das in einem förmlichen Willensakt vorgenommene Aufgeben von Rechtsansprüchen. Mit diesem Verständnis ist der Verzicht, den wir heute in der Regel meinen, nur weitläufig verwandt. Er bleibt zwar ein Willensakt, aber weniger im Sinne eines Rechtsvorgangs denn als einer Lebenshaltung, als einer persönlichen Einstellung und Sinnesart. Anspruchsvoll verstanden bedeutet heute der Verzicht die zu einem Persönlichkeitsmerkmal gewordene Haltung, ein Ethos, das dann in einschlägigen Entscheidungen und Handlungen zutage tritt. Insofern bleibt ein Kernelement erhalten, die frei und bewusst eingegangene, insofern selbst auferlegte Einschränkung.

Der Verzicht entspringt also einem Willensakt, womit er keine geringere als eine anthropologische Bedeutung hat: Die Fähigkeit und Bereitschaft zum bewussten und freiwilligen, nicht etwa instinktgesteuerten Verzicht zeichnet den Menschen vor den Tieren, selbst, soweit wir sie kennen, vor den intelligentesten Tieren aus. Sie unterscheidet auch die für sich verantwortliche und zurechnungsfähige, die mündige Person, von den noch unmündigen Kindern.

 

Vorbild Antike

Wie in fast allen Bereichen unserer Kultur finden sich auch für unser Thema entscheidende Wurzeln in der griechischen Antike, verbunden freilich mit bemerkenswerten Besonderheiten. Dazu gehört diese Beobachtung: Wer heute den Ausdruck der Askese hört, denkt spontan an eine Selbsteinschränkung, die zu harter Selbstzucht gesteigert wird. Er denkt insbesondere an eine mitleidslose Zügelung der sinnlichen Begierden, der Leidenschaften des Essens, Trinkens und der Sexualität. Wörtlich bedeutet der Ausdruck aber jenes Üben und Einüben, das nicht einem verringerten, sondern einem gesteigerten Menschsein dient. Diese Askese ist das unverzichtbare Element einer Philosophie, die sich als savoir vivre, Lebenskunst, versteht. Sie zielt auf ein zur Meisterschaft gesteigertes Können, bei dem das savoir vivre, das Zu-leben-Verstehen, nicht zu einem bloßen Genießen verflacht ist. Die wahre Askese ist der Eudaimonie, dem guten und gelungenen Leben, dem Glück im Sinne von Glückseligkeit, verpflichtet.

Der wortmächtige Moralkritiker, aber auch Altphilologe und Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche bringt es auf den Punkt. Viele halten Nietzsche für einen Nihilisten, der alle Werte ablehnt. Tatsächlich nimmt er eine „Umwertung aller Werte“ vor. Dabei erhalten oft dieselben Werte eine neue Wertgrundlage. Sie besteht in einer Person, die uns durchaus willkommen sein sollte, in einem selbstverantwortlichen, souveränen Individuum. In Bezug auf die Askese bedeutet die Umwertung, wie Nietzsche schreibt, dass die „drei großen Prunkworte Armut, Demut, Keuschheit bei allen großen, schöpferischen Geistern“ zwar einer „mutwilligen Sinnlichkeit Zügel anlegen“. Dies geschieht aber, fährt er in der Genealogie der Moral, in ihrer dritten Abhandlung Was bedeuten asketische Ideale? fort, nicht um der Zügelung der Begierden selber willen. Diese Askese ist kein Selbstzweck, sondern steht in Diensten, insbesondere Diensten der Geistigkeit, beispielsweise der Gelehrsamkeit oder der Musik und Literatur. Jedenfalls soll einem gewissen Lebensideal zur Dominanz verholfen werden.

 

Sophrosyne: Besonnenheit

Kehren wir zu den Griechen zurück. Eine Wurzel ihres Verzichtsdenkens finden wir in ihren Überlegungen zur Sophrosyne. Wörtlich bedeutet sie den gesunden Sinn, mithin jenen gesunden Menschenverstand, den common sense, über den man sich nicht erhaben fühlen sollte. Der gemeinte gesunde Menschenverstand versteht sich nämlich auf dreierlei: Er kennt sich selber, er vermag sich auch mit den Augen seiner Mitmenschen zu sehen, und er weiß um seine eigenen Möglichkeiten, einschließlich deren Grenzen.

Diese Sophrosyne hat einen festen Platz in jener volkstümlichen Moral der Griechen gefunden, die in den Spruchweisheiten der Sieben Weisen pointiert formuliert worden sind, also von ebenso lebenserfahrenen wie sprachmächtigen Personen wie dem Gesetzgeber Solon und dem Mathematiker, Naturforscher und Philosophen Thales. Diese Autoren bringen zwei Grundgefahren der Menschheit auf den Punkt, die Hybris und die Pleonexie.

Die erste anthropologische, der Tierwelt unseres Wissens unbekannte Grundgefahr, besteht in der Hybris, dem frevelhaften Übermut. Er wird schon in Literatur wie den Epen Homers und den Tragödien von Aischylos, Sophocles und Euripides gegeißelt, drängt daher diese Nebenbemerkung auf: Glücklich ist eine Kultur, zu deren von allen Bürgern geachtetem Bildungskanon eine derart große, zugleich erziehungsmächtige Literatur gehört.

Die zweite Grundgefahr kommt in Forderungen wie „Medan agan“, „Nichts im Übermaß“, zur Sprache. Sie verlangen nämlich, einer wieder typisch menschlichen, im Tierreich nicht zu findenden Neigung entgegenzutreten, die wir aus dem Märchen Der Fischer und seine Frau kennen. Leidenschaften wie die Habsucht, aber auch die Ehrsucht und Herrschsucht sind nie zufrieden; sie verlangen mehr und mehr und noch einmal mehr, ohne jede innere Grenze.

Gegen beide Grundgefahren tritt nun die Sophrosyne, die Besonnenheit, auf den Plan. Sie fordert keineswegs, alle spontan auftretenden Neigungen zu unterdrücken. Sie verlangt nicht den Rückzug in eine weltabgewandte Askese. Sie fordert nur, aber auch immerhin beides, zu überwinden, sowohl das übermütige Vertrauen in die eigenen Kräfte, den frevelhaften Übermut, die Hybris, als auch die ständige Unzufriedenheit, die von Leidenschaften wie der Ehrsucht, der Herrschsucht und der Habsucht, die Pleonexie.

Die zwei Kirchenlehrer der Philosophie: Platon und Aristoteles

Eine der gedankenreichsten, deshalb zu Recht wirkungsmächtigsten Texte des abendländischen Geistes ist Platons Dialog Politeia, zu Deutsch: Der Staat. Hier sieht der erste Kirchenlehrer meines Metiers, der Philosophie, für die Besonnenheit zwei Anwendungsbereiche, außer einzelnen Bürgern auch deren Gemeinwesen, die Polis. Beiden gegenüber übernimmt die Besonnenheit dieselbe Aufgabe, die „Mäßigung der Begierden“ (Buch IV, 430e) zugunsten derselben Leitidee, der Herrschaft des Besseren über das Schlechte.

Nur in Klammern: Es ist dieser Zweck, um dessentwillen die Führungselite der Polis auf eine eigene Familie und auf persönliches Eigentum verzichten soll. Platon weiß um das Skandalöse dieser Forderungen. Er kennt aber auch die Gefahr, dass man beispielsweise im Fall von Konflikten zwischen dem Familien- und Staatswohl zulasten derjenigen Verantwortung entscheidet, für die man doch eigentlich zuständig ist, nämlich des Gemeinwohls. Ähnliches gilt für die Versuchung des Geldes: Wer schon über enorme Macht verfügt, braucht keine weiteren, dem politischen Amt eventuell schädlichen Zusatzanreize: weder eine große Vergütung noch lukrative Nebentätigkeiten, und auch nicht, dass er nach dem Ausscheiden aus seinem politischen Amt eine hochdotierte Lobbytätigkeit übernimmt. Derartige Forderungen benötigen nicht einmal spezielle Compliance-Regeln. Eine zur Idee des ehrbaren Kaufmanns analoge Idee des ehrbaren Politikers sollte eigentlich genügen.

Der zweite große Kirchenlehrer der Philosophie, Aristoteles, konzentriert sich bei der Besonnenheit zwar auf die persönliche Seite. Diese ist bei ihm aber Teil des „bios politikos“, des (moralisch-)politischen Lebens. Sie hat daher auch eine politische Bedeutung. Gemeinwesen, deren Bürger hinsichtlich Lust und Unlust das rechte Maß finden, deren Bürger also in Bezug auf die sinnlichen Freuden des Essens und Trinkens und der Sexualität, auch in Bezug auf die emotionale Seite des Zorns, sich weder dem Zuviel, der Zügellosigkeit, noch dem Zuwenig, der Gefühlslosigkeit, hingeben, bleiben stabil und können darüber hinaus wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch, nicht zuletzt wissenschaftlich und kulturell aufblühen.

Weil es weder ein Zuviel noch ein Zuwenig geben darf, spricht Aristoteles von Meson, einem Mittleren oder einer Mitte. Diese darf man aber nicht quantitativ verstehen. Gemeint ist vielmehr eine Vortrefflichkeit, eben eine Tugend, die die Welt der sinnlichen und emotionalen Antriebskräfte, sagt Aristoteles, nach Maßgabe der Vernunft und dessen gestaltet, was sich gehört. Das Moment des Verzichts, das man dabei praktiziert, besteht also nicht in einer Einschränkung der Gefühlswelt oder sogar deren Unterdrückung. Es kommt vielmehr auf das an, was der genannte Nietzsche später betonen wird, auf die souveräne Herrschaft des Menschen über die skizzierten Antriebskräfte.

Ein jüngerer Zeitgenosse von Platon und älterer von Aristoteles ist der Kyniker Diogenes von Sinope. Als ein begnadeter Selbstinszenierer steigert er den Verzicht zur Bedürfnislosigkeit und zelebriert diese auf eine Weise, die ihn ins Gedächtnis der Menschheit einbrennt: Er nimmt sich ein Fass zur Wohnung und wird als „Philosoph in der Tonne“ in die Weltgeschichte eingehen.

Für Verzicht setzt sich auch ein Philosoph ein, von dem man es am wenigsten erwartet. Für ihn, Epikur, zählt allein die Lust, auf Griechisch die Hedone. Deshalb zählt man ihn zu den Hedonisten. Als Philosoph ist er freilich alles andere als ein naiver Hedonist. Er vertritt vielmehr einen aufgeklärten Hedonismus. Danach besteht die nicht bloß momentane und vorübergehende, sondern die nachhaltige und wahre Lebenslust in jener Gelassenheit, jener Seelenruhe, die man am ehesten mit wenigen Bedürfnissen und leicht zu erfüllenden Wünschen erreicht. In Nietzsches Worten: „Ein Gärtchen, Feigen, kleiner Käse und dazu drei oder vier Freunde – das war die Üppigkeit Epikurs.“

Zwei christliche Kirchenlehrer: Augustinus und Thomas von Aquin

Von diesen lebensklugen Einstellungen zur Gefühlswelt weichen spätere Platon-Anhänger, sogenannte Neuplatonischen, ab. Sie nehmen eine Kluft zwischen der sinnlichen und geistigen Welt an, weshalb sie bekämpft und am Ende ganz überwunden werden müsse.

Man könnte eine derart lebensfremde und menschenfeindliche Ansicht auf sich beruhen lassen. Unglücklicherweise hat sie aber christliches Denken zum Teil stark beeinflusst, beispielsweise einen ausschweifenden Playboy, der sich später zum christlichen Asketen wandeln wird: den hocheinflussreichen Kirchenlehrer Aurelius Augustinus.

Nach eigener Auskunft hat dieser überragende Intellektuelle über viele Jahre ein ausschweifendes Leben geführt. Nach seiner Bekehrung zum Christentum will er jedoch wie ein Mönch leben, nämlich auf Reichtum, Frauen und Karriere verzichten. Er verzichtet zwar, diesen Verzicht von allen Christen zu verlangen. Tatsächlich kann man aber die Gefahr nicht leugnen, dass ein radikaler Verzicht nach dem Vorbild des Augustinus vielerorts als der in christlicher Hinsicht bessere eingeschätzt, der Verzicht auf diesen Verzicht reduziert wird. Man kann es auch schwerlich leugnen, dass leib- und lebensfeindliche Neigungen dem Christentum nicht fremd sind. Immer wieder erscheint, mit neuplatonischen Vorstellungen im Hintergrund, der der Welt abgewandte, sie nicht selten sogar verneinende Asket als christliches Ideal.

Eine weitere nicht lebensfreundliche Quelle frühchristlicher Überzeugungen sind die damals im Mittelmeerraum verbreiteten Gestalten der Askese. Sie pflegen außer dem Fasten auch den Verzicht auf Schlaf, praktizieren sexuelle Enthaltsamkeit und generell eine Bedürfnis- und Anspruchslosigkeit. Mit der ursprünglichen Bedeutung der Askese, dem Einüben eines gesteigerten Menschseins, hat diese Haltung wenig, recht eigentlich gar nichts zu tun. Gleichwohl werden einige Elemente „christlich getauft“ vom Christentum übernommen. Ein Beispiel: Das Muster eines Mönchslebens, das Zölibat, ist bekanntlich zum (Fast-)Alleinstellungsmerkmal der katholischen Priester geworden, auch wenn sie keine Ordensleute sind. Und vielerorts gilt das zölibatäre Leben als dem Ehe- und Familienleben geistlich überlegen.

Bei der zweiteiligen Hauptquelle des Christentums sieht es anders aus. Das Alte Testament ist reich an Texten zur Sinnenfreude; das Judentum kennt kein Zölibat, insbesondere kein Pflichtzölibat. Und vom Neuen Testament kann man wohl schwerlich behaupten, es sei von Sinnenfeindschaft durchdrungen.

Vor allem darf eine faire Beurteilung dies nicht unterschlagen: Nach Matthäus, Kap. 6, Vers 16, darf christliches Fasten nicht „mit finsterem Gesicht“ erfolgen. Daher erklärt selbst der zum Mönchsleben konvertierte Augustinus mit Nachdruck, es sei „ganz und gar gleichgültig, wie viel einer esse“. Entscheidend sei allein, „mit welcher Leichtigkeit und Heiterkeit des Herzens er darauf verzichten könne, wenn Not oder Sollen es erfordern“.

Augustinus steht, wie gesagt, dem Neuplatonismus nahe. Für den zweiten großen Kirchenlehrer, Thomas von Aquin, ist hingegen der zweite Kirchenlehrer der Philosophie, Aristoteles, das herausragende Vorbild. Von ihm angeregt tritt Thomas der damals verbreiteten, mancherorts auch heute vertretenen Ansicht entgegen, Fasten sei etwas Außergewöhnliches. Bei Fasten dränge sich die Vorstellung eines Asketen, vielleicht auch die eines Heiligen auf. Tatsächlich sei es nicht einmal eine wahrhaft religiöse Praxis. Denn es werde von der Lex naturae, dem natürlichen Sittengesetz, geboten. Es gründe also in einem allgemeinmenschlichen Sollen. Deshalb leuchtet eine Tugend wie die Besonnenheit, von Thomas temperantia, „Maß“ genannt, auch einem religionsunabhängigen, rein säkularen Denken ein: Für die Forderung, Maß zu halten, kann man sich auf das fraglos vorchristliche Gebot „Nichts im Übermaß“ berufen. Eine Belehrung durch die Bibel, das Alte oder das Neue Testament, sind hier unnötig. Handlungen wie ein Fasten, sagt Thomas, seien wie ein Arzneimittel, das man gegen den „Aufruhr der Sinnlichkeit“ immer wieder zu sich nehmen solle.

Von Aristoteles her drängt sich dagegen ein Einwand vor. Wie die anderen Charaktertugenden, so erwirbt man nach Aristoteles die Besonnenheit durch ein ständiges Einüben. Besonnen wird man nämlich durch ein besonnenes Handeln, sofern man es so oft praktiziere, dass es nach einiger Zeit zu einem Charaktermerkmal werde. Wer seine Triebe und Bedürfnisse immer wieder vernünftig kontrolliert, der bildet die Tugend der Besonnenheit aus, so dass bei ihm ein Übergewicht der Triebe und Bedürfnisse nicht mehr droht.

 

Die christliche Relativierung der säkularen Tugenden

Ob leibfeindlich oder sinnenfroh – der christlichen Gestalt der gewöhnlichen Verzichte liegt ein außergewöhnlicher Verzicht, ein Tiefenverzicht, zugrunde. Die Verzichte sind nämlich als Nachfolge des alles entscheidenden Vorbilds, des Reformjuden Jesus von Nazareth, und „um des Himmelreichs willen“ zu üben. Aus diesem Grund braucht es in sachlicher Hinsicht vorab einen tiefer reichenden Verzicht. Ohne Zweifel ist es ehrenwert, dass christliche Organisationen sich in Caritas und anderen Formen der Nächstenliebe engagieren. Allerdings gibt es dafür längst andere, säkulare Motivationen, beispielsweise das dritte Prinzip der nachdrücklich antikirchlichen Französischen Revolution, die Fraternité, die Brüderlichkeit. Und in anderen Kreisen herrscht dafür die geschlechtsneutrale Bezeichnung, die Solidarität. Spezifisch christlich wird es jedenfalls erst, wenn man eine Forderung ernst nimmt, die in unseren längst säkularen Gesellschaften als rundum utopisch erscheinen muss: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“

Der Frage, wie man diese Forderung des Näheren zu leben hat, müssen nicht Philosophen, sondern christliche Theologen nachgehen. Als Philosoph kann ich mich aber kundig machen, welche Folgerungen die großen christlichen Kirchenlehrer gezogen haben. Sie bestehen in einer nachhaltigen Entmachtung der weltlichen Tugenden. Sie bleiben zwar, so darf man vermuten, wichtig, gewiss. Sie verlieren aber ihr Eigenrecht. Die weltlichen Tugenden suchen den Lebenssinn, die Glückseligkeit, auf Griechisch die Eudaimonia, auf Latein die Beatitudo, in diesem dann irdisch genannten Leben. Vom wahrhaft christlichen Standpunkt, dem des Himmelreiches, sinken sie jedoch zu Voraussetzungen, wenn es sie überhaupt braucht, des eigentlichen Glücks herab. Für dieses werden nämlich drei neuartige Tugenden eingeführt. Und sie, nicht die bisherigen weltlichen Tugenden, gelten als glücksentscheidend.

Der für eine säkulare Gesellschaft zutiefst provokative Charakter liegt nun darin, dass es genau genommen nur noch auf sie, die religiösen beziehungsweise theologischen Tugenden ankommt. Es sind die Tugenden des Glaubens, der fides, der Hoffnung, der spes, und der Liebe, der caritas, aber in einem von der Organisation der Caritas grundverschiedenen Sinn. Mit Hilfe des Glaubens befreit man sich vom Verhaftetsein an das Irdische und wird für den Gedanken eines vor allem jenseitigen vergänglichen Lebens offen, das freilich schon hier, im Diesseits, beginnen kann. Die Liebe zielt auf das, worauf es letztlich ankommt, auf die erneut insbesondere im Jenseits mögliche Schau Gottes. Und die Hoffnung lässt erwarten, dieser Schau einmal tatsächlich teilhaftig zu werden.

Die Provokation dieser neuartigen Tugenden, das sollte man weder unterschlagen noch kleinreden, ist enorm. Die christlichen Tugenden drohen den weltlichen „heidnischen“ Tugenden, wie schon gesagt, ihr Eigenrecht zu nehmen. Die temperantia beispielsweise muss auf den Anteil des eigenen Willens verzichten, der in Konkurrenz zum Glauben, nämlich zum Abfall von Gott führen könnte. Ähnliches gilt für die Liebe und für die Hoffnung: Wer Gott nicht liebt oder auf die Schau Gottes nicht mehr hofft, der handelt seinem Verlangen nach dem wahren Glück zuwider.

Thomas jedoch, obwohl ein Dominikanermönch, der sein Leben beinahe vollständig den Wissenschaften der Philosophie und der Theologie widmet, ist lebenserfahren und lebensoffen genug, bei den weltlichen Tugenden ihren Eigenwert zu betonen. Bei der temperantia blickt er weniger auf die negative Seite, den Verzicht, als auf die positive Funktion. Wer in der Welt der Sinnlichkeit Maß hält, wer die Freuden des Essens und Trinkens und der Sexualität genießt, dem dienen sie letztlich den beiden natürlichen Leitzwecken des Menschen, der Selbsterhaltung und der Arterhaltung. Wer dabei jedoch das Maß verliert, der erfährt bei einem Zuviel eine Abstumpfung und sinkt bei einem Zuwenig auf ein gefühlsarmes Wesen herab.

 

Ein kaum beachteter Verzicht: die Arbeit

In der modernen Philosophie taucht ein Verzicht auf, den so gut wie alle Menschen in ihrem Leben praktizieren. Merkwürdigerweise spielt er aber, soweit ich es übersehe, weder in der Sozialethik noch in den Sozialwissenschaften eine Rolle. Selbst die Theorie, die sich gern zur kritischen Theorie adelt, die der Frankfurter Schule, geht darauf nicht nachdrücklich ein. Das mag erstaunen, da den Gedanken einer der geistigen Vorfahren dieser Schule, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, entwickelt. Er findet sich in einer der berühmtesten Werke der Philosophiegeschichte, der Phänomenologie des Geistes. Zudem steht er dort nicht an entlegener Stelle, sondern in dem prominenten Herrschaft-Knechtschaftskapitel.

Hegel bringt hier eine für den Menschen spezifische, überdies lebensnotwendige Tätigkeit, die Arbeit, auf den Begriff: Wer arbeitet, setzt sich mit der Natur – oder, bei Dienstleistungen, mit seinen Mitmenschen – auseinander. Insofern verzichtet er auf einen unmittelbaren Genuss der Früchte seiner Arbeit. Mit diesem Verzicht befreit er sich von einem bloß naturhaften Vorhandensein, worin ein humaner Gewinn liegt. Nicht derjenige, der den Knecht zur Arbeit zwingt, der anfängliche Herr, sondern der anfängliche Knecht erscheint bei dieser näheren Betrachtung als der eigentliche Herr. Er ist es nämlich Herr über das unmittelbare Genießen.

 

Einige Zusatzbemerkungen

Eine erste Bemerkung zum größten Moralphilosophen der Neuzeit, Immanuel Kant. Viele halten ihn für einen gefühlsarmen Pedanten. Tatsächlich war er in den Salons von Königsberg als ein charmanter Gast beliebt. Überdies veranstaltete er selber großzügige Mittagstafeln. Und vor allem fordert er in Bezug auf alle Tugenden, auch die des Verzichts, sie nicht „mit umwölkter Stirn“, sondern Leichtigkeit und Heiterkeit zu üben.

Eine zweite Bemerkung zu zwei früher viel gelesenen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Zunächst zu Nicolai Hartmann. Er versteht die Tugend des Verzichts, die Besonnenheit, vornehmlich positiv, als ein seelisches Maß und Ebenmaß, das das „zerstörend Unmäßige“ eindämme. Weil er die Affekte als die „Wurzel des emotionalen Lebens und der seelischen Kraft“ einschätzt, hält er die Forderung, die Affekte auszurotten, für naturwidrig. Dem habe ein christlicher Gedanke Vorschub geleistet, die Ansicht von der „wurzelhaften Sündhaftigkeit der menschlichen Natur“, also das Dogma der Erbsünde. Beim „Heiden“ Aristoteles schätzt er, dass er die „Stumpfheit des Gefühls“ für ein Laster hält. Generell spricht sich Hartmann für eine „Steigerung der Genußfähigkeit im Sinne des ethischen ‚guten Geschmacks‘ (der sapientia)“ aus.

Offensichtlich lässt sich hier ein Ethos des Verzichts schwerlich anschließen. Josef Pieper, der andere, übrigens dezidiert christliche Philosoph des 20. Jahrhunderts, findet respektable Gründe für ein Fasten. Bei dem noch nicht zur Vollkommenheit gereiften, gewöhnlichen Menschen sei nämlich die innere Ordnung der sinnlichen Antriebskräfte gefährdet. Dagegen empfiehlt Pieper etwas, das er, für heutige Ohren nicht ganz glücklich, „Zucht“ nennt. Er meint ein Erziehungsmittel und zählt dazu das Fasten. Der durchschnittliche Mensch müsse, um sein wahres Wesen zu verwirklichen, sich „etwas kosten lassen“. Um eine „sich selbst besitzende, freie sittliche Person“ zu werden, müsse er immer wieder Verzichte leisten, sich beispielsweise Zeiten des Fastens unterwerfen. Wenn man sich, erlauben Sie mir diese Bemerkung, spezielle Zeitschriften anschaut, so findet man dort immer wieder Diät- und andere Fastenkuren. Dass sie immer wieder beschrieben werden, könnte man als Bestätigung von Josef Pieper verstehen, aber auch als Hinweis, dass diese Arzneimittel entweder nicht helfen oder einen utopischen Charakter haben, denn sie werden gar nicht oder nicht hinreichend erfolgreich praktiziert.

Ausblick und Bilanz

Vielleicht sind heute ganz andere Arten von Verzichten aktuell. Die Gründe hängen ohne Zweifel nicht nur mit der Frage zusammen, die ich heute in den Mittelpunkt gestellt habe: Wie kann der Mensch den beiden Grundgefahren, dem frevelhaften Übermut und dem Nimmersatt zum Trotz, wie kann er trotz Ehrgier, Herrschgier und Habgier versuchen, eine moralisch rechtschaffene, souveräne Persönlichkeit zu sein. Vermutlich könnte es aber auch ausreichen, unsere Rechtschaffenheit auf Lebensbereiche zu erweitern, die Hartmann, Pieper und andere Philosophen noch nicht in den Blick genommen haben.

Die Bereiche sind allseits bekannt und werden vielstimmig diskutiert. Deshalb genügt es für diesen Vortrag, sie zu benennen. Es sind Themen, die nicht nur die Subjekte betreffen, die in diesem Vortrag im Mittelpunkt standen, wir Einzelmenschen, sondern auch unsere Gesellschaften und Gemeinwesen betreffen: die facettenreich und tiefgreifende Überbeanspruchung der Natur, verstärkt durch die immer noch wachsende Weltbevölkerung, ferner die immer tiefer reichenden Eingriffe in das menschliche Erbgut und in den natürlichen Sterbeprozess, weiterhin die Eingriffe in unser Privatleben, die wir teils mitverantworten, die teils hinter unserem Rücken stattfinden. Schließlich dürfen wir zwei Problemfelder nicht verdrängen: die zahllosen, autoritär regierten Staaten und die zahllosen Kriege und Bürgerkriege in beinahe allen Teilen der Welt. Für diesen Vortrag bleibe ich aber bei dem Themenbereich, der in der seit langem von Sozialethik dominierten philosophischen und theologischen Moralphilosophie vernachlässigt wird, bei der vornehmlich personalen Verantwortung. Zu ihr gehören nicht nur Pflichten gegen andere, ­
sondern auch Pflichten gegen sich.

Vermutlich kennen Sie den Titel eines Buches von J.B. MacKinnon: Der Tag, an dem wir aufhören zu shoppen: Wie ein Ende der Konsumkultur uns selbst und die Welt rettet. Die Frage, ob die Welt, die dieser Haltung entspringt, lebenswert ist, lasse ich dahingestellt, auch die Frage, wem von uns die radikale Umstellung leichter fällt, den Männern oder den Frauen, den Jungen oder den Älteren, denn die Gegenstände des Shoppens bestehen ja nicht nur aus Kleidung.

Stattdessen ziehe ich eine Bilanz entlang meines Titelbegriffs: Will die moderne Zivilisation trotz der angedeuteten Probleme menschenwürdig überleben, muss sie die in ihr schlummernden Kräfte von Hochmut und Übermut und von einer Niezufriedenheit eindämmen, besser noch beherrschen. Daher darf sie die Aufgabe nicht für eine lebensfremde Utopie, sie muss sie für eine realistische Vision halten. Die dafür nötigen Heilmittel liegen auf der Hand: Wir benötigen ein enormes Maß sowohl an einer persönlichen als auch an einer wirtschaftlichen, gesellschaftspolitischen, nicht zuletzt an einer global wirksamen Besonnenheit. 

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