Vierzehn Thesen zur Reformdebatte und den Aufgaben der Dogmatik

As part of the event "The return of the reform debate", 23.07.2019

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  1. Veränderung und Reform gehören zur Kirche wie das sprichwörtliche ‚Amen’. Denn Kirche ist – wir wissen es alle – eine ecclesia semper reformanda oder, in den Worten des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform gerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist; was also etwa je nach den Umständen und Zeitverhältnissen im sittlichen Leben, in der Kirchenzucht oder auch in der Art der Lehrverkündigung − die von dem Glaubensschatz selbst genau unterschieden werden muss − nicht genau genug bewahrt worden ist, muss deshalb zu gegebener Zeit sachgerecht und pflichtgemäß erneuert werden“ (Dekret über den Ökumenismus, Unitatis redintegratio, Nr. 6) bzw. „Das Heilige Konzil hat sich zum Ziel gesetzt, das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen, die dem Wechsel unterworfenen Einrichtungen den Notwendigkeiten unseres Zeitalters besser anzupassen, zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann, und zu stärken, was immer helfen kann, alle in den Schoß der Kirche zu rufen“ (Konstitution über die Heilige Liturgie, Sacrosanctum Concilium, Nr. 1).

 

  1. In jeder kirchengeschichtlichen Epoche war daher Reform ein eigenes Thema. Während dabei zunächst die Dynamik eher ad intra bestimmt wurde und so zumeist die Beseitigung konkreter Missstände zum Ziel hatte (vgl. ‚Reform an Haupt und Gliedern’ als Schlagwort des 13.-15. Jh.; die ‚Gravamina der deutschen Nation’ im 16. Jh.), stellt sich spätestens mit der Reformation die Frage nach Reform der Kirche fundamental neu, nämlich wie Kirche überhaupt zu sein hat, d.h. hinsichtlich der sie tragenden theologisch-inhaltlichen, dogmatisch-doktrinären Basis. Die Antwort darauf ergibt sich aus einer Doppelperspektive: zum einen durch den Blick auf das innere Wesen (der Auftrag und die Sendung) von Kirche; zum anderen mit Blick auf die ‚Außenwirkung’ in der Frage nach der angemessenen Erfüllung von Auftrag und Aufgabe der Kirche und damit auch mit Blick auf Glaubwürdigkeit und die lebenspraktische Seite von Glaube und Glaubensvollzugs als ekklesiale Grundanforderung.

 

  1. Das semper reformanda gilt indes nicht nur für die Struktur von Kirche, sondern auch für die kirchliche Lehre: Jeder kirchlichen Doktrin ist die Differenz von kontingenter Ausdrucksform und immanentem Wahrheitsgehalt unaufgebbar eingeschrieben. So bekennt sich selbst die Offenbarungskonstitution des Ersten Vatikanischen Konzils, Dei filius, mit Rückgriff auf Vinzenz von Lérins, Commonitorium primum, zur Theorie der Dogmenentwicklung (vgl. DH 3020). Das begründet die grundsätzliche ‚Relativität‘ kirchlicher Lehre und eine ihr stets innewohnende Dynamik zur Veränderung/Anpassung bzw. ein immanentes Innovationspotential. Freilich sollte man die hier sichtbar werdende Dynamisierung nicht einfachhin nur im Sinne eines Explikationsmodell verstehen, also eine simple Kern-Schale-Metaphorik zugrunde legen, wie sie die meisten Ansätze zur Dogmenentwicklung präferieren. Denn eine Reduktion des Veränderungspotenzials auf den Wandel der Sprach- und Denkformen verkürzt die Wahrnehmung der Veränderungsnotwendigkeit als unabschließbarem Aneignungs- und Lernprozess aufgrund der unaufhebbaren doppelten Kontingenz des Gegenstandes selbst, nämlich der in Geschichte ergangenen Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus samt ihrer geschichtlichen Tradierungsprozesse und des prinzipiellen ‚Konstruktionscharakters‘ von Tradition. Sie droht in eine Ideologie der Transgeschichtlichkeit bzw. Geschichtsenthobenheit abzugleiten, die jedes Kontingenzbewusstsein vermissen lässt. Das ist freilich eine Erkenntnis, die „der katholischen Tradition, insbesondere der Neuzeit, über lange Zeit verborgen“ blieb, so Georg Essen im Jahr 2015.

 

  1. Jede Reform in der Kirche spielt sich im Spannungsfeld von Tradition und Innnovation ab, d.h. zwischen Identitätsvergewisserung und -sicherung auf der einen, und einer (neuen) Identitätssuche auf der anderen Seite. Innovation und Tradition sind dabei nicht einfach Gegensätze, sondern zwei Seiten ein und desselben permanenten Transformationsprozesses, dem Kirche immer ausgesetzt ist. Denn auch die (Re-) Konstruktion der Vergangenheit als Tradition ist eine kreative Aneignung, die durch zwei gegensätzliche Dynamiken gekennzeichnet ist: der Suche nach einer (gesicherten) Identität und der Dynamik von Veränderung als der Suche nach neuem. Tradition ist, so verstanden, das als historisches Narrativ formulierte Konstrukt einer Kontinuität mit dem Ziel der Identitätsstabilisierung, so wieder Georg Essen. Denn Vergangenheitsdeutung und Gegenwartsverständnis gehören unmittelbar zusammen. Jede ‚Tradition‘ und die damit verbundene Idee einer geschichtsübergreifenden Kontinuität ist letztlich eine retrospektive Konstruktion – ein historischer Sinnbildungsprozess –, der das Resultat kontingenter Auswahlprozesse aus dem Pool des Möglichen darstellt und letztlich von einem Gegenwartsinteresse gesteuert ist. Tradition als konstruiertes Narrativ ist daher doppelt kontingent (im Ereignis und im konstruierten Ereigniszusammenhang) und zugleich der Versuch, diese Kontingenzen narrativ aufzuheben. Sie entspringt in der Regel einer Brucherfahrung, die das selbstgeknüpfte Band zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu zerreißen droht. Auch in diesen Aussagen folge ich Georg Essen.

 

  1. Die Idee einer stets gleichbleibenden, zu wahrenden ‚Tradition‘ hat ihren Ursprung in der ideologischen Selbststilisierung der Katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts. Dieses Konzept der Unveränderlichkeit von Kirche und Lehre – das ‚semper idem‘ als katholischer Identitätsmarker – ist also selbst als Innovation jenem Modernisierungsprozess entsprungen. Es entspringt natürlich den Abbrucherfahrungen dieses Jahrhunderts, den Nachwehen der Französischen Revolution und den damit verbundenen politischen Umbrüchen; Entstehen einer bürgerlichen Gesellschaft samt der Rechtsauffassung von bürgerlichen Rechten wie Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit und demokratischen Grundvollzügen.

 

  1. Das instruktionstheoretische Offenbarungsmodell des I. Vatikanischen Konzils stellt dabei das zentrale Konstruktionselement dieser ‚Neu-Erfindung‘ dar. Ein voluntaristisch enggeführter Autoritätsglaube (Gott als Gesetzgeber, der die ‚Dekrete seines Willens‘ offenbart [vgl. DH 3004]; das Lehramt als autorisierte Tradentin dieses Willens [vgl. DH 3012]) begründet ein autoritär hierarchisches Kirchenbild, das die Kirche in eine ecclesia docens und eine ecclesia discens aufteilt (vgl. DH 3011). Glaube wird als Gehorsam verstanden (vgl. DH 3008), der als ‚Unterwerfung‘ unter den sich offenbarenden Gott wie unter die Entscheide der Kirche als dessen Tradentin letztlich eine äußere Gehorsamspflicht an die Stelle der innere Überzeugung in den Mittelpunkt stellt. Ein verrechtlichter, veräußerlichter Glaubensbegriff etabliert ein Verständnis von ‚Glaube‘ als formales ‚Festhaltens an…‘ , dem ein doktrinalistisch verengter Begriff der Glaubenslehre (verbunden mit einem zeitunabhängigen Wahrheitsbegriff) und ein kognitivistisches Offenbarungsverständnis korreliert. Glaubensinhalte werden als übergeschichtliche Satzwahrheiten gedeutet und quasi rechtspositivistisch begründet: auctoritas non veritas facit doctrinam. Die (traditionelle Gestalt der) infallibilitas / indefectibilitas Ecclesiae wird mit der (anti-modernistischen Form) irreformibilitas sententiarum in eins gesetzt, und somit verbindliche Glaubensbezeugung „in lehrrechtliche Kategorien überführt“, wie Michael Seewald in seinem neuen Buch Reform. Dieselbe Kirche anders denken schreibt. Dadurch wird der eigentlich notwendig stets mitlaufende Korrekturmodus unterbunden und „die für den christlichen Glauben unentbehrliche, epistemische Autorität der Kirche von einer juridischen Autorität überformt, die meint, ihre Stärke dadurch erweisen zu müssen, dass sie sich in einer Sprache des Ultimativen und Endgültigen ausdrückt“, so Seewald weiter.

 

  1. Diese Konstruktion des Katholischen ist – so wieder Michael Seewald – ein als Tradition getarnter Innovationsversuch, eine „Modernisierungserscheinung“, eine „im strategischen Sinne modernitätssensible Konstruktion des Lehrens“. Sie hatte das Ziel, „die Lehre der Kirche in Form einer dogmatischen Lehre darzustellen, das heißt sie endscheidungsförmig und autoritätssanktioniert vorzutragen“, und veränderte somit das strukturelle Gesamtgefüge von Kirche ebenso wie ihr doktrinäres Selbstverständnis. Diese Selbststilisierung zeichnet sich durch eine als programmatisch behauptete Innovationsintoleranz bzw. Innovationsverweigerung aus (Anti-Modernismus). Dazu ‚erfindet‘ das Lehramt der Kirche auf verschiedensten Felder häufig eine ‚feste‘, immer gleichbleibende und eindeutige ‚Tradition‘, die letztlich nur dazu dient sich gegen die in der Brucherfahrungen sichtbar werdenden Kontingenzerfahrungen der eigenen Lehre und Struktur abzuschotten und so deren Störungspotential wie auch das Mehrdeutigkeitspotential unterschiedlicher ‚Traditionen‘ zu eliminieren. Die Kirche des 19. und beginnenden 20. Jh. steht unter einem Vereindeutigungszwang und entwickelt eine ausgeprägte Ambiguitäts-Intoleranz. Dazu bedient sie sich einer ideologiegetränkten Geschichtspolitik.

 

  1. Freiheit, Pluralität, Geschichtlichkeit, oder gar Veränderlichkeit werden zu Ab- und Ausgrenzungsbegriffen gegenüber einer dem Eindeutigen, ja Identitären zugeneigten katholischen Selbstdefinition. Überlieferung/Tradition stilisiert sich als ewig- unveränderliches depositum des ein für allemal Geoffenbarten, das nur noch von der zuständigen Autorität des Lehramts expliziert werden muss, und im Konfliktfall um der Eindeutigkeit willen von ebendiesem höchsten Lehramt mit der ihr allein zukommenden potestas autoritativ entschieden und unfehlbar festgelegt werden kann. „Die Unfehlbarkeit des Papstes in dogmatischen Fragen wurde derart seinem Primat in rechtlichen Fragen untergeordnet, dass der lehrende Papst lediglich als ein Modus des gesetzgebenden Papstes erschien, der den weltlichen Souveränen in nichts nachstand und in seinem im Kontext der Moderne erlittenen Autoritätsverlust mit dem Anspruch auf die plenitudo potestatis zu begegnen versuchte“, formuliert Michael Seewald. Damit verabschiedet die Katholische Kirche des 19. Jahrhunderts die katholische Fähigkeit zur Ambivalenz und die sie bisher auszeichnende Ambiguitätstoleranz (das „solus / sola“ war eigentlich nie katholisch sondern immer das „et … et“). Sie legt die darin gründende Fähigkeit zur Selbstkritik (Fehlertoleranz) wie zur Autokorrektur still und sichert das Ganze durch eine monarchisch-ständische Ordnung ab, die sie zugleich als Sakralinstitution überhöht. Diese Selbstimmunisierungsstrategie des 19. Jh. kommt indes spätestens dann in eine unauflösliche Aporie und damit an ihr Ende, wenn das, so Seewald, „Konstitutionsmittel epistemischer Autorität … Glaubwürdigkeit ist und die Glaubwürdigkeit einer Person oder einer Institution sich darin erweist, wie diese mit eigenen Fehlern umgehen“. Wie sehr daher eine solche Konstruktion von der Bereitschaft zu ihrer Akzeptanz abhängt, zeigt das Jahr 1968. Mit der Enzyklika Humanae vitae Pauls VI. läuft letztlich eine autoritative Lehrentscheidung ins Leere, die nicht auf Gründe rekurriert; sie desavouiert sich selbst, weil sie unglaubwürdig wird.

 

  1. Aus diesen historischen Entwicklungen heraus ergeben sich nun die Aufgaben der Dogmatik in den Reformdebatten. Sie bestehen zum einen in der Stärkung der dogmengeschichtlichen Perspektive auf Lehre und Struktur der Kirche als Innovationspool und zur Erhöhung der Ambiguitätstoleranz: Indem die Dogmengeschichte die Kontingenz getroffener Entscheidungen aufdeckt, ihre Geschichtlichkeit rekonstruiert, legt sie das Konstrukt einer immer nur gebrochenen Identität offen und macht Tradition als eine konstruierte Kontinuität sichtbar. Sie hält auch die theologiegeschichtlichen Alternativen im Bewusstsein, erweitert das Spektrum der Möglichkeiten und eröffnet so Wege der Selbstkritik und Autokorrektur. Dogmengeschichte pflegt so den „produktiven Umgang mit Mehrdeutigkeitspotentialen in der Kirche“, wie es Essen ausdrückt, indem sie die traditional vollzogenen Sinnbildungsprozesse aufdeckt, damit eine kritische Analyse dieser Prozesse und ein ‚kritisches Erzählen‘ möglich wird. Als ‚Erinnerung an das Gewordensein‘ macht sie deutlich, dass es „Identität nur in der Weise der geschichtlichen Verwandlungen“ gibt, wie Joseph Ratzinger 1966 in seinem Werk Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie schreibt. Dazu gehört die Kompetenz, diese ‚Erinnerungen‘ zum Erneuerungspotential werden zu lassen (Wilhelm Damberg, Freiburg 2015), ihren Gehalt als ‚gefährliche Erinnerung‘ im Sinne eines „Beitrags zur Ambiguitäts- und damit Innovationstoleranz“ (Essen) fruchtbar zu machen.

 

  1. Die im 19. Jahrhundert als Antagonismus gepflegten Begriffe ‚Modernismus‘ und ‚Antimodernismus‘ stehen exemplarisch für eine veränderungsresistente Grundorientierung von Kirche – mitsamt dem vertrauten Narrativ des Niedergangs „einer von Gott gesetzten und der Kirche anvertrauten christlichen Lebensordnung in der Welt, der das Lehramt durch ein konsequentes Festhalten am überzeitlichen theologischen status quo der Glaubenswahrheiten in der Kirche zu begegnen hatte“, so wieder Wilhelm Damberg. Das ist der „Kampf zwischen Kirche und Moderne“, der bis heute eine grundlegende Reform der Katholischen Kirche blockiert. Die Aufgabe der Dogmatik besteht daher zum zweiten darin, die Zeitbedingtheit sowie die dadurch aufgeworfenen Aporien der Entscheidungen des 19. Jahrhunderts offenzulegen und den systemimmanenten Anti-Modernismus zu verabschieden. So kann die Fähigkeit wiedergewonnen werden, jene dramatischen Umbruchsituationen des 20. Jahrhunderts zum entscheidenden Ausgangspunkt der Frage zu nehmen, wie die Kirche angesichts dieser unaufhaltsamen Veränderungen sein muss.

 

  1. Eine zentrale Aufgabe der Dogmatik ist daher – drittens – eine angemessene Hermeneutik des II. Vatikanischen Konzils, die das Innovationspotenzial dieses Konzils wachhält und es nicht wieder in die Antagonismen des 19. Jahrhunderts aufzulösen versucht. Die Dogmatik hat dabei die Aufgabe, die in den historischen Narrativen dieses Konzils konkurrierenden Interpretamente aufzudecken und auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen. Erkenntnisleitende und kriteriologisch in Anschlag zu bringende Denkform dafür kann aber nur das grundlegend veränderte Offenbarungsverständnis sein: Offenbarung ist nicht mehr als satzhaft offenbarte ‚Dekrete‘ des göttlichen Willens zu verstehen, sondern als Geschehen der Selbstmitteilung Gottes in Jesus von Nazaret: „In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1, 15; 1 Tim 1, 17) aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde (vgl. Ex 33, 11; Jo 15, 14-15) und verkehrt mit ihnen (vgl. Bar 3, 38), um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen“, heißt es in der Konstitution über die göttliche Offenbarung, Dei verbum, Nr. 2. Offenbarung ist kommunikativ-partizipatorische Teilhabegewährung an der Gemeinschaft mit Gott. Glaube ist Beziehung, lebendiges Miteinander von Mensch und Gott. Glaube ist die ganzheitliche, vertrauensvoll zu vollziehende ‚Antwort’ auf die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus von Nazaret. Das existentielle Sich-Selbst-Verstehen des Menschen gehört ebenso dazu, wie der Gegenwartsbezug und die Kontextgebundenheit, ja geschichtliche Vermittlung und kulturelle Kodierung, samt der darin begründeten Zweideutigkeit, Kontingenz. Geschichte und Welt sind Erkenntnisorte der Offenbarung. Ein kommunikationstheoretisches Offenbarungsverständnis und ein ihm entsprechendes dialogisches Glaubensverständnis erfordern ganz neue Strukturen der Vergewisserung. Seine Gewissheit und damit seine Bewahrheitung können nur in einem personalen Akt des Zeugnisses geschehen, das im Prinzip zwei Ausrichtungen in sich birgt. Man kann sie am besten mit den Stichworten Authentizität und Freiheit umschreiben und dabei zwei Grundbewegungen rekonstruieren. Ein Geprägtsein vom Ereignis, das einen gepackt hat und das man nun bezeugen will; und ein absolutes Engagement für die Leute, denen man dieses Gepacktsein und seinen Inhalt so vermitteln will, dass es auch sie packt. Ein solcher Glaube hat durchaus etwas mit Wissen zu tun, freilich mit einem Wissen, das mir durch ein Du, ein Gegenüber zugänglich wird. Das so ‚Erkannte’ kann sich zwar ausdrücken in Sätzen, die Überzeugungen formulieren. Der entscheidende Akt ist freilich ein Akt der Anerkennung, der freien Zustimmung. Glaube und Glaubensgewissheit sind ein Geschehen von Freiheit. Nicht mehr einzelne Lehrsätze, sondern Gottes personale Selbstoffenbarung ist das zu Überliefernde und damit die eigentliche Grundbewegung von ‚Tradition’ (vgl. DV 8). Daher bestimmt das II. Vatikanum die Aktualität dieser Heilsgemeinschaft mit Gott in Leben und Dasein der ganzen Kirche, und damit die gesamte Lebenspraxis aller als Medium der Überlieferung. Tradition ist zu einem hermeneutischen Auslegungsbegriff geworden, das funktionale Prinzip der Vergegenwärtigung der Selbstmitteilung Gottes im Christusereignis durch den Hl. Geist im Leben der Gemeinschaft der Glaubenden, der Kirche, in all ihren Vollzügen. Identität und Kontinuität sind ekklesiale Phänomene und nicht lehramtlich-richterlich-autoritative Entscheidungsprozesse. Aus der inhaltlichen Verschiebung folgt die Notwendigkeit einer kritischen Hinterfragung des Kommunikationsstils und mit dieser eine notwendige Revision ihrer strukturellen Bedingungen. Denn ein solches Verständnis des Miteinanders von Gott und Mensch duldet nun nicht jeden Stil und legitimiert nicht jede Struktur der Vollmachtsausübung in der Kirche (s. nebenstehenden Kasten).

 

  1. Zur Benennung konkreter Kriterien für die heute notwendigen Veränderungsprozess ist auf die Grunddefinition von Kirche zurückzugreifen, wie sie das Konzil formuliert hat: „Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit.“ (LG 1). Darum „geht“, wie die Pastoralkonstitution betont, „diese Kirche, zugleich ‚sichtbare Versammlung und geistliche Gemeinschaft’ […], den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt“ (GS 40). Das bedeutet aber, dass die sakramentale Grunddimension von Kirche auch und gerade zur Folge hat, dass Selbstverständnis und strukturelles Gefüge der Kirche auch stets entlang der geschichtlichen Entwicklungen verlaufen. In der Moderne wird diese Beziehung zwar komplexer, kann aber nicht einfach abgebrochen werden. Ein prinzipieller Widerspruch zur Moderne, gar ideologisch überhöht als Widerspruch um des Evangeliums willen, verwechselt die von Gott geschenkte Zeichenhaftigkeit (Sakramentalität) mit Sakralisierung ihrer vorläufigen weltlichen Erscheinungsform. So hat die Dogmatik zunächst die Frage zu stellen: Wie verhält sich Kirche zu den ‚demokratischen Lektionen’ der Moderne: allgemeine Teilhabe an der Macht, Machtkontrolle und prinzipielle Begrenzung von Macht?

 

  1. „Strukturfragen reflektieren Glaubensinhalte – oder sie sind nicht evangeliumsgemäß. Das größte pastorale Missionshindernis überhaupt ist eine Kirche, deren äußere Gestalt permanent ein Zeugnis wider das Evangelium darstellt, weil sie in ihrer alltäglichen ‚Körpersprache‘ (Bischof Hermann Glettler von Innsbruck) der jesuanischen Frohbotschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft (und eben nicht: Männer- oder Klerikerherrschaft) widerspricht“. So schreibt Christian Bauer in Kirchenreform jetzt! Der katholische Mainstream begehrt auf: https://www.feinschwarz.net/kirchenreform-jetzt-der-katholische-mainstream-begehrt-auf/ (Abruf: 24.9.19). Die daraus abzuleitende, grundlegende Aufgabenstellung für die Dogmatik in der Reformdebatte ist daher, eine Antwort auf die Frage nach Partizipation und Kommunikation und der Schaffung dazu notwendiger, rechtlich verbindlicher Repräsentationsstrukturen einzufordern. Hilfreich dazu ist eine kritische Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Denken anstelle von Verfallsnarrativen und ekklesialer Selbstimmunisierung. Pflege der Zeitgenossenschaft und Dialogfähigkeit beschreiben damit die sechste Aufgabenstellung der Dogmatik für die Reform der Kirche, um nämlich gerade daraus auch Wissen und Orientierung für die Reform zu gewinnen und so einer schon latent bis pathologisch gewordenen kognitiven Dissonanz zwischen Kirchenerfahrungen und Welterfahrung entgegenzusteuern.

 

  1. Wer jetzt noch meint, in der Kirche die Dinge auf die lange Bank schieben zu können, synodale Wege o.ä. dazu zu benutzen, um am Ende doch alles unverändert zu lassen, dem sei mit einem Plakat von den ‚Fridays for Future‘-Demos gesagt: „Die Dinosaurier dachten auch, sie hätten noch Zeit… “. Diese Zeitansage, dass uns nämlich die Zeit ausgeht, ist die letzte und wohl die entscheidende Aufgabenstellung der Dogmatik.

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