Die innerorthodoxen Auseinandersetzungen schmerzen auch uns!“ Mit dieser Aussage hat Bischof Feige gestern geschlossen, ich möchte damit heute beginnen. Denn die innerorthodoxen Auseinandersetzungen schmerzen auch uns, die Lutheraner. Und ich kann das auch für mich ganz persönlich sagen.
Dogmatisches Bekenntnis zur Einheit
Im Laufe der Zeit meiner Beschäftigung mit der Welt der orthodoxen Kirchen habe ich vieles kennen und schätzen gelernt. Dazu gehörte insbesondere auch das klare Bekenntnis zur Einheit, wie Sie es in jeder orthodoxen Dogmatik finden können: Die orthodoxe Kirche versteht sich als die im Nizänum bekannte „Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche“ oder jedenfalls, wie es der orthodoxe Theologe Liverij Voronov leicht relativierend formuliert hat, als „ihr reinster und vollkommenster Ausdruck auf Erden“. Einheit ist damit nach orthodoxem Verständnis kein theologisches Nischenthema, Gegenstand abständiger Ökumenediskurse. Einheit gehört vielmehr zu den zentralen Glaubenswahrheiten, die theologisch zu durchdenken und kirchlich zu verantworten sind.
Das grundlegende Einheitsmodell hebt sich dabei erkennbar von Modellen ab, wie sie sich in westkirchlicher Tradition etabliert haben: als dezentrales Modell, in dem die Einheit der Kirche in der Vielfalt orthodoxer Lokalkirchen wie umgekehrt die Vielfalt in der Einheit repräsentiert wird. Dieses Modell leuchtete mir nicht nur theoretisch ein, es schien sich vielmehr auch historisch bewährt zu haben – über Jahrhunderte hinweg, bis in die Gegenwart hinein. Auch wenn mir die innerorthodoxen Spannungen nicht verborgen geblieben sind, so hatte ich dennoch den Eindruck, dass die orthodoxe Kirche eine Gemeinschaft darstellt, die beispielsweise für uns Lutheraner, die wir uns erst Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, auf der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Curitiba 1991, als „Gemeinschaft von Kirchen“ (und nicht mehr nur als „freie Vereinigung von lutherischen Kirchen“, wie 1947) zusammengefunden haben (und bis heute diskutieren, was das eigentlich heißt), ein Vorbild sein kann: als eine Gemeinschaft, die einerseits aus lauter selbständigen, „autokephalen“ Kirchen besteht, die die historische, nationale, kulturelle Vielfalt orthodoxen Glaubens widerspiegeln, die andererseits jedoch auf einem starken Fundament gemeinsamer dogmatischer, rechtlicher und liturgischer Tradition ruht und in dem Konzil eine Instanz hat, um gesamtorthodox bindende Entscheidungen zu treffen.
Reale Gefahr eines Schismas
Dieser sehr positive Grundeindruck wurde durch die Ereignisse des Jahres 2016 rund um das „Große und Heilige Konzil“ revidiert, und zwar gründlich. Von da an setzte ein Prozess der Ernüchterung ein, der bis heute andauert.
Die zuvor stattfindenden, sich über Jahrzehnte hinziehenden Vorbereitungen auf das „Große und Heilige Konzil“ blieben zwar auch hinter mancher Erwartung zurück, aber sie ließen doch darauf hoffen, dass hier wenigstens einige der brennenden Fragen endlich einer Klärung zugeführt und dass vor allem auch jene Kritiker belehrt würden, die ein Zustandekommen des Konzils unter Beteiligung aller Lokalkirchen von vorneherein für aussichtslos hielten. Wie die kurzfristige Absage von gleich vier Lokalkirchen (darunter mit der Russischen Orthodoxen Kirche der zahlenmäßig größten Kirche!) jedoch aller Welt vor Augen führte, sollten die Kritiker Recht behalten.
Was das „Große und Heilige Konzil“ betrifft, so hat dieses zwar in mancher Hinsicht – z. B. zur Frage der Verleihung der Autonomie oder auch zum Verhältnis der Orthodoxen Kirche zur Ökumenischen Bewegung – zukunftsweisende Entscheidungen getroffen. Insofern wird man das Konzil nicht in Gänze als gescheitert bezeichnen wollen. In anderer Hinsicht jedoch geriet das Konzil zu einem absoluten Fiasko: Es machte offenkundig, dass die orthodoxen Kirchen trotz ihrer vielbeschworenen Einheit nicht in der Lage sind, sich zu einem Konzil zu versammeln und hier angesichts oft beklagter Missstände zu gemeinsamen und verbindlichen Entscheidungen zu gelangen.
Dieses Scheitern fand seine Fortsetzung und seinen vorläufigen Höhepunkt in den Entwicklungen in der Ukraine, die wir hier gestern ja intensiv behandelt haben: Die Entstehung paralleler „kanonischer“ Strukturen durch Verleihung der Autokephalie an die neu gegründete „Orthodoxe Kirche in der Ukraine“ (OKU) und die Aufkündigung der Kommunionsgemeinschaft seitens des Moskauer Patriarchats mit dem Ökumenischen Patriarchat und jetzt auch mit Teilen der Griechischen Orthodoxen Kirche und dem Patriarchat von Alexandrien bedeuten zwar noch kein gesamtorthodoxes Schisma, aber sie beschwören doch die reale Gefahr eines solchen Schismas herauf. Die Zeichen stehen weiterhin auf Konfrontation, eine Entspannung zeichnet sich nicht ab.
Konsequenzen in ökumenischer Hinsicht
Was bedeutet diese Situation manifester innerorthodoxer Konflikte – mit einer, wie es jedenfalls im Moment aussieht, unumkehrbaren Dynamik hin zu einem gesamtorthodoxen Schisma – für die Ökumene? Welche Konsequenzen zeichnen sich hier ab?
Es gab gestern dazu bereits einige Überlegungen, und ich war erfreut zu hören, dass es hier doch auch sehr zuversichtliche Auffassungen gibt. Ich selbst würde die
Situation kritischer bewerten.
Für die Ökumene insgesamt stellt sich die Frage, wie sich die orthodoxen Kirchen in Zukunft in den Ökumenischen Rat der Kirchen einbringen werden: Die orthodoxen Kirchen waren ja eine der treibenden ökumenischen Kräfte im 20. Jahrhundert. Sie haben dem Ökumenischen Rat der Kirchen allein zahlenmäßig Bedeutung verliehen, besaßen aber auch in theologischer Hinsicht eine eigene und gewichtige Stimme. Gerade der an die Zeit der frühen Kirche zurückgebundene, auf dem Nizänum fußende Einheitsgedanke hatte in den orthodoxen Kirchen seinen entschiedenen Fürsprecher. Was wird aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen werden, wenn die orthodoxen Kirchen selbst nicht mehr die Einheit
repräsentieren, die sie dogmatisch bekennen?