Winckelmann und die Klassische Moderne

Ausgehend von den Hofgartenarkaden in München

I.

 

Der Name Johann Joachim Winckelmanns steht in Deutschland für die Anfänge des Klassizismus im 18. Jahrhundert. Die Orientierung an der Kunst und Kultur der Griechen wurde durch ihn zum Maßstab des Klassischen. Das höchste Ideal wird die Nachahmung dieser Zeit. Im 20. Jahrhundert machte Jean Cocteaus La rappel à l’ordre nach den avantgardistischen Revolutionen des Jahrhundertanfangs den Bruch mit der Vergangenheit scheinbar wieder rückgängig. Eine Art klassizistische Moderne formte sich in der Kunst von 1914 bis 1935, der selbst Künstler der Klassischen Moderne zugeordnet werde konnten, die in ihren eigenen Stilen des Fauvismus, Expressionismus und Kubismus stilbildend – klassisch – geworden waren, wie Pablo Picasso, André Derain und Henri Matisse. Ein Künstler, für den die antike Kunst sein Leben lang bestimmend blieb, und der zugleich im Zentrum der Kunst der Klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts stand, verdankt seinem Aufenthalt in München wichtige Impulse für seine eigene Form klassischen Denkens. Die bayerische Metropole war damals neben Paris eines der Zentren moderner europäischer Kunst. Er ist der klassischste Künstler der Klassischen Moderne in dessen Werk die Münchner Hofgartenarkaden eine bedeutende Rolle spielen.

Es ist die Rede von Giorgio de Chirico, dem Begründer der Pittura Metafisica. Giorgio de Chirico wurde am 10. Juli 1888 in Volos, Griechenland geboren und starb am 20. November 1978 in Rom. Als Kind italienischer Eltern verbrachte er seine Kindheit im Sehnsuchtsland Winckelmanns, in Griechenland. Nach dem Tod seines Vaters Evaristo Di Chirico (1841-1905), einem Eisenbahningenieur, kam er im Alter von 18 Jahren zusammen mit seiner Mutter Gemma Cervetto und seinem drei Jahre jüngeren Bruder Andrea de Chirico, nach kurzen Zwischenaufenthalten in Venedig und Mailand, Anfang Oktober 1906 nach München und blieb fast vier Jahre bis Ende Mai 1909. Das München der Jahrhundertwende ist ein Zentrum des zeitgenössischen Europas mit Verbindungen zur klassischen Welt. Giorgio war an der Königlichen Akademie der Künste in München eingeschrieben. Er hatte zuvor in Athen nach einer akademischen Ausbildung zum Ingenieur am Polytechnikum bereits parallel Malerei bei Georgios Jakobides studiert, der selbst in München ausgebildet worden war. Sein Bruder Andrea, der sich später Alberto Savinio nannte, studierte Komposition bei Max Reger. Nach München folgten Stationen in Mailand, Florenz, Paris, Ferrara bis er sich endgültig in Rom niederließ.

An der konservativ-klassisch ausgerichteten Münchner Kunstakademie, wo man noch nach Modellen und Abgüssen antiker Statuen und Büsten zeichnen lernte – eine Praxis, mit der Giorgio de Chirico, wie er Wieland Schmied berichtete, schon von Athen her vertraut war  –, fand er nicht, was er suchte. Entscheidend für ihn war die Begegnung mit Bildern von Arnold Böcklin (1827-1901), die er im Studio des Komponisten Max Reger erlebte. Giorgio diente seinem Bruder Andrea als Dolmetscher. Er erfuhr dabei – nach dem Vorbild Nietzsches – die erste einer Reihe von Offenbarungen, und zwar beim Blättern in einem Album von Photogravüren nach Arbeiten Böcklins. Was ihn an dessen Werken faszinierte, waren weniger Farbe und Komposition, als deren „Stimmungen“. In De Chiricos Bild Triton und Tritonin von 1908 ist diese Nachempfindung Böcklinscher Themen und Stimmungen auch Nachahmung seines Stils. Bemerkenswert ist, dass nicht die Originale diesen Impuls auslösten, sondern verkleinerte und damit vielleicht verdichtete, aber auch nur vermittelnde Grafiken. Die Originale Böcklins konnte er in den Münchner Museen, wie der Pinakothek und der Schackgalerie studieren, hier lernte er auch die Kunst Max Klingers, Hans Thomas und Moritz von Schwinds kennen.

Wieland Schmied vermutet: „Es musste den jungen de Chirico eigenartig berühren, dass die deutsche Kultur, mit der er in Ansätzen bereits in Athen vertraut geworden war, diese Affinität zum Mediterranen besaß und sich von Winckelmann über Goethe und Hölderlin bis zu Nietzsche immer neue Idealbilder des Griechischen schuf. Indem er in die deutsche Kultur eindrang, und dabei wie von selbst in die geistigen Auseinandersetzungen der Jahrhundertwende geriet, fühlte er sich zugleich zurückversetzt in das Land seiner Geburt. Antiker und moderner Geist, wie er ihn hier in der Münchner Atmosphäre des Jahrzehnts nach 1900 erlebte, schienen nicht prinzipiell unversöhnlich.“

De Chirico faszinierte das – wenn auch nostalgisch gebrochene – Nachleben der Antike in dieser Kunst, die wie Winckelmann das „Land der Griechen mit der Seele“ sucht, so die Formulierung von Wieland Schmied. Dieselbe Sehnsucht findet er bei den deutschsprachigen Philosophen, die er liest, vor allem in Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, aber auch bei Arthur Schopenhauer und Otto Weininger. Die „herbstlichen Stimmungen“ der Turiner Briefe Nietzsches wird er lebenslang auf Deutsch aus dem Gedächtnis rezitieren, ebenso Goethe, Heine und anderen Dichtern.

In der Trennung der deutschen Künstler und Philosophen von ihrem Sehnsuchtsort und dem Mysterium Griechenlands erkennt De Chirico die Möglichkeit für die Auseinandersetzung mit der vergangenen Kultur: „Ich kenne keinen italienischen Philosophen, Dichter, Maler oder Bildhauer, den das Mysterium Griechenland aufgerüttelt hätte … Die Schranke, die zwischen Deutschland, dem Mittelmeer und dem Orient liegt, ist wirkungsvoll. Wenn seine genialen Männer tiefer in diese Welt eindringen wollen, müssen sie sich wie Gefangene hinter Gittern der hohen Fenster aufrecken, sich abmühen, sich anstrengen und das ganze komplizierte Räderwerk des Denkens und der Phantasie in Gang setzen.“ Erstaunlicherweise lernt der Italiener und gebürtige Grieche De Chirico durch die räumliche Distanz und mit Hilfe von Nicht-Italienern und Nicht-Griechen, wie Böcklin, Klinger und Feuerbach Griechenland und Italien sehen. Sicher auch deshalb ist für Wieland Schmied die „Stunde der Empfängnis“ seiner metaphysischen Bilder – auch wenn die Geburt einige Monate später in Florenz sich vollziehen sollte, eindeutig in seine Münchner Zeit zu datieren.

 

II.

 

Auf der Piazza Santa Croce in Florenz empfing Giorgio de Chirico 1909 nun seine bewusste Initiation. In einem Zustand „morbider Sensibilität“ hatte der für Nietzsche schwärmende junge Mann das Gefühl, an einem klaren Herbstnachmittag alle Dinge „zum ersten Mal“ zu erblicken. Wieland Schmied vermutet, dass De Chirico die Idee seiner Piazze d’Italia, seiner italienischen Plätze, wohl zusätzlich aus seiner Faszination für Nietzsche erwuchs. Dadurch wurde vor allem Turin mit seinen Plätzen, Palazzi und Arkaden zum Vorbild vieler früher metaphysischer Bilder, doch weniger als reale Stadt, sondern mehr als der Ort Nietzsches, durch den der exilierte Philosoph unruhig gewandert war, ehe er dem Wahnsinn verfiel. Das Bild Rätsel eines Herbstnachmittags gilt als erstes „metaphysisches Werk“. Es entstand im selben Jahr in Paris, wohin er von einer Nervenkrise genesen, mit seiner Mutter zu seinem Bruder Alberto Savinio gezogen war. De Chiricos Entwicklung von seiner klassizistisch-romantischen an Böcklin orientierten Phase zu seinen metaphysischen Gemälden wird mit diesem Bild sichtbar und zeigt auch das verbindende Element zur Antike. Sein neuer Stil hebt sich vom im selben Jahr geschaffenen und verschollenen Bild Das Rätsel des Orakels ab, wie Rätsel eines Herbstnachmittags zeigt es eine Rückenfigur in antikem Gewand.

De Chiricos Auseinandersetzung mit der Antike setzt sich in seinen in Paris entstandenen metaphysischen Platzanlagen, wie etwa in Melancholie von 1912-14  fort, die die antike, wohl aus dem 2. Jahrhundert vor Chr. stammende, Statue der Schlafenden Ariadne  – zu sehen im Vatikan – ein wenig verändert abbildet. Winckelmanns Idee der ästhetischen Verbindlichkeit der Antike für das eigene Zeitalter scheint hier melancholisch nachgesonnen zu werden. Dieser schreibt in seinen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst von 1755: „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu sein, ist die Nachahmung der Alten.“ Doch bei De Chirico ist der Betrachter oder Akteur verschwunden, der noch in Johann Heinrich Füsslis (1741–1825) Rötel-Zeichnung Der Künstler verzweifelnd vor der Größe der antiken Trümmer (1778/80) zu sehen ist.

Giorgio de Chirico, der ein ausgezeichnetes Gedächtnis besaß, kopierte nicht nur antike Figuren und Architektur für seine Gemälde, sondern versuchte, Erlebnisse und Ideen zu evozieren. Deshalb könnte die intellektuelle Klarheit der aufs Wesentliche reduzierten neoklassizistischen Zeit, mit Architekten wie Leo von Klenze, in München ihm sehr entgegenkommen sein. Die Ähnlichkeiten zwischen der reduzierten Architektur De Chiricos und bestimmter Münchner Strukturen aus dem 19. Jahrhundert sind an folgenden Beispielen gut nachvollziehbar: Denn nicht nur Florentiner und Turiner Plätze, sondern ganz konkret der Odeonsplatz mit der Feldherrnhalle, der Max-Joseph-Platz mit Residenz, das Nationaltheater und das Hauptpostamt, der Königsplatz mit Glyptothek, Propyläen und Antikensammlung, und vor allem der von Arkaden eingefasste Hofgarten, könnten Modell gestanden haben für seine Piazze d’Italia. Auch wenn de Chirico in seinen Lebenserinnerungen mit München sehr viel trüberen Assoziationen verbindet – anfänglich bezeichnete er die Stadt als Paradies. Deshalb könnten seine schon sehr früh als Piazze d’Italia bezeichneten metaphysischen Bilder, die er in Paris 1911-1915 malte, nach Wieland Schmied, mit gleicher, wenn nicht größerer Berechtigung „Piazze di Monaco“ heißen.

Besonders das Motiv der Arkaden, reduziert auf die klaren Formen der Nordarkaden des Münchner Hofgartens, wird zum zentralen Motiv De Chiricos. Beispielhaft zu sehen in seinem Werk Geheimnis und Melancholie einer Straße von 1914 – eine bildliche Verbindung bzw. Spiegelung der Nordarkaden des Münchner Hofgartens in ein Werk der Klassischen Moderne. Pascal Weitmann beschreibt eine weitere erstaunliche Koinzidenz von antiker Skulptur, Malerei und Arkade in den Gebäuden des Münchner Hofgartens um die Jahrhundertwende, die vielleicht auch Giorgio de Chirico angeregt haben könnte: Das Institut für Klassische Archäologie der Münchner Universität samt seiner Sammlung von antiken Gipsabgüssen war dort untergebracht (Ludwig Curtius).

Im Jahr 1865 hatte die Ludwig-Maximilians-Universität in München einen Lehrstuhl für Klassische Archäologie eingerichtet. Eine Abguss-Sammlung, heute Museum Abgüsse klassischer Bildwerke, wurde als zugehöriges Arbeitsmittel aufgebaut, die sich auch zwischenzeitlich in den nördlichen Arkaden des Hofgartens befand. Bis 1877 war die Sammlung mit inzwischen 379 Abgüssen beim Münzkabinett im ehemaligen Jesuitenkolleg bei St. Michael gelagert. Dann gelangte sie nach und nach in die Räume der nördlichen Hofarkaden der Residenz. 1944 fielen ihre 2398 Abgüsse einem Bombenangriff zum Opfer. 1976 legte man das Haus der Kulturinstitute an der Meiserstraße als neuen Standort fest. Es gehört mit seinen rund 1780 Abgüssen wieder zu den vier größten in Deutschland.

Auch die Malerei hatte in den Arkaden des von Maximilian I. 1613/1617 neu angelegten Hofgartens von Anfang an einen Ort gefunden. Unter ihren Bögen wurden Kartone (gemalte Vorlagen) von Peter Candid für kostbare Wandbehänge mit Szenen aus dem Leben Ottos I. von Wittelsbach angebracht. Über den nördlichen Arkadenreihen ließ Kurfürst Karl Theodor 1779/83 die öffentlich zugängliche „Hofgartengalerie“ errichten, in der bis zur Eröffnung der Alten Pinakothek unter Ludwig I. (1836) die berühmte Wittelsbacher Gemäldesammlung ausgestellt wurde.

Auch im 19. Jahrhundert blieben die Arkaden ein öffentlicher Schauplatz der Kunst: Zwischen 1816 und 1848 erneuerte Leo von Klenze Teile der Anlage. Historische Fresken wurden von Schülern des Malers Peter Cornelius zwischen 1826 und 1829 im Westen zu Seiten des Hofgartentores in den Arkadengängen angebracht. Daneben schuf Carl Rottmann Wandgemälde italienischer Landschaften (1830/33, heute im Allerheiligengang der Residenz), während seine zunächst für die Nordarkaden geplante Serie griechischer Landschaften (ab 1838) in der Neuen Pinakothek ausgestellt wurde.

 

III.

 

Als immer wiederkehrendes Motiv in De Chiricos Schaffen, das auch in seinem schriftstellerischen Werk Erwähnung findet, ist es nicht abwegig, nach einer tieferen Interpretation der Arkade zu suchen und den Bogen auch als Attribut des nach Vollendung suchenden Malers zu interpretieren. In seiner Metaphysischen Ästhetik zitiert er Weininger: „Der Kreisbogen, als Ornament verwandt, kann schön sein … Der Kreisbogen hat noch etwas, das nicht vollendet ist, aber der Vollendung bedarf und ihrer fähig ist. Er lässt Spielraum, in dem wir ahnen können …“ De Chiricos Umgang mit Formen und Räumen macht seine Malerei „metaphysisch“, wie sie zuerst 1913 von Apollinaire charakterisiert wurde. Sie will aber zugleich eine „Rückkehr zum Handwerk“ sein, wie der Titel seines berühmten Aufsatzes von 1919 festlegt. „Der haargenaue und klug überlegte Gebrauch der Flächen und Volumen ergibt die Regeln der metaphysischen Ästhetik.“ Damit macht er auf das formal-abstrakte Fundament seiner Kunst aufmerksam. Eine symbolische Deutbarkeit geometrischer Formen erschien ihm mit Weininger diesen inhärent. Seine unzähligen Arkaden als Kreisbögen werden so zum Detail von nicht geringer Bedeutung.

Eines seiner berühmtesten Bilder ist 1914 in Paris entstanden: Canto d’amore. Zu sehen sind die willkürlich wirkende Kombination des Kopfes des Apolls von Belvedere, aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., heute im Museo Pio-Clementino, mit einem Gummihandschuh, einer Lokomotive, einem Ball und natürlich mit Arkaden auf der linken Seite des Bildes. Der Kopf des Apolls ist vermutlich nicht vor dem Original gemalt worden, sondern nach Salomon Reinachs Vorlesung von 1902/03, erschienen im folgenden Jahr unter dem Titel Apollo: histoire générale des arts. Sie ist eine der ersten reich illustrierten Kunstgeschichten, die zahlreiche Auflagen erlebte. Die in Paris entstandenen Bilder De Chiricos treffen die Surrealisten um André Breton (1896-1966) und Guillaume Apollinaire (1880-1918) ins Mark. Noch Max Ernst und Yves Tanguy sind erschüttert, als sie ihre ersten Bilder von de Chirico sehen. René Magritte bricht in Tränen aus, als er Das Lied der Liebe in einer Zeitschrift sieht. Ganz im Geist des Surrealismus schreibt De Chirico in Mysterium der Kreation von 1911-15: „Wenn ein Kunstwerk wirklich unsterblich sein soll, muss es alle Schranken des Menschlichen sprengen: Es darf weder Vernunft noch Logik haben. Auf diese Weise kommt es dem Traum und dem Geist des Kindes nahe.“

Das Rätselhafte fasziniert De Chirico. Schon in seinem ersten bekannten Selbstbildnis von 1911 setzte der dreiundzwanzigjährige De Chirico in der Inschrift dies programmatisch fest: „Et quid amabo nisi quod aenigma est?“ (Was sonst soll ich lieben, wenn nicht das Rätsel?). Sein Porträt wiederholt den Melancholie-Gestus einer Fotografie von Nietzsche, der das Rätsel wie er liebte und in sich in „Jenseits von Gut und Böse“ für die rätselschaffende Verkleidung ausspricht: Alles, was tief ist, liebt die Maske. Nietzsches Denken verbindet das Rätsel mit Künstlertum und Griechentum in Die fröhliche Wissenschaft: „wir glauben nicht mehr daran, dass die Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht … Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Rätsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat … Oh, diese Griechen! Sie verstanden sich darauf zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut zu bleiben, den Schein anzubeten … Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe! Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehen haben, die wir von da aus hinabgesehen haben? Sind wir nicht eben darin – Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum – Künstler?“

De Chirico führt die von Nietzsche gesehene Verbindung fort: „Ich nehme drei Worte für mich in Anspruch: Pictor classicus sum. Mögen sie das Siegel jedes meiner Werke sein.“ Mit diesem Fazit beschließt Giorgio de Chirico seinen berühmten Aufsatz Rückkehr zum Handwerk aus dem Jahre 1919. Sein neun Jahre später folgendes Selbstbildnis (München, Pinakothek der Moderne) mit Devisentafel, das er im folgenden Jahr malt, wirkt wie die Auslegung dieses Anspruchs: „ET. QUID. AMABO. NISI. QUOD. RERUM. METAPHYSICA. EST“ (Und was werde ich lieben, wenn nicht das, was die Metaphysik der Dinge ist).

Giorgio de Chirico, der Metaphysiker, so hat er sich selbst gesehen und dargestellt, als Künstler im Gefolge Friedrich Nietzsches, dem die Kunst zur „eigentlich metaphysischen Tätigkeit dieses Leben[s]“ geworden ist, die aber nichts Göttliches sucht, sondern auf einer immanenten Ebene bleibt. In seinem ersten Selbstporträt von 1911 nahm De Chirico die Denkerpose Nietzsches ein und bekundete seine Liebe zum Rätsel. In seinem Selbstbildnis von 1920 legt er die Art des Rätsels genauer fest. Es geht um das Rätsel der Metaphysik, der Frage nach dem, wie es gelingt die Dinge neu zu sehen, ihr Rätsel im Bild sichtbar zu machen, dafür braucht er die Verbindung zur Antike. Mit De Chirico – dem pictor classicus – erlebte  die Kunst der Antike einen weiteren Klassizismus in der Kunst der Klassischen Moderne – im Sinne Panofskys eine weitere  „Renaissance der Renaissancen“ –, oder ist es mehr eine weitere fragmenthafte Reflexion über die Antike, die schon von Winckelmann nur fragmentiert vorgefunden wurde.

Die Brüche und Fragmentierungen der Moderne entsprechen den nicht rekonstruierten antiken Fragmenten, die Winckelmann in der Realität der Ausgrabungen sehen konnte. Das vollkommene Ideal blieb auch damals unsichtbar. Die Kunst der Renaissance nimmt die Entdeckung der Antike als Möglichkeit zur tieferen Erkenntnis und Darstellung der Realität. Winckelmann dagegen sucht die Nachahmung der Antike auf das antike Ideal hin – nicht auf Realität – sondern auf eine nicht abbildbare Idealität, der auch der Schönheits- und Freiheits-Gedanke inhärent ist.

 

IV.

 

Die Frage von Original und Kopie – Vorbild und Nachahmung –, die sich durch Winckelmanns Orientierung an der Antike stellt, ist bei De Chirico selbst mit der Werkgenese verbunden. In späteren Jahren arbeitete er oft in seinem im Kunsthandel erfolgreichen „metaphysischen“ Stil und datiert selbst manche seiner Werke in seine erfolgreichste Zeit 1909-19 zurück. Gleichzeitig gilt er als einer der meist gefälschten Künstler. Dass er in dieser Hinsicht Humor besaß, zeigt ein Foto von Erika Schmied, auf dem man ihn 1970 lächelnd neben einer Nachahmung seines Stils durch den Maler Oscar Dominguez (1906–1957) in Melancholie einer Straße vor 1946 stehen sieht. Ein Bild natürlich mit Arkaden.

Sechzehn Jahre später zeigt Gerhard Merz 1987 in seinem Werk Elfenbeinschwarz eine abstrakt-räumliche Reminiszenz an Giorgio De Chiricos und die Münchner Hofgartenarkaden. Bestehend aus zweimal elf quadratischen Tableaus im oberen Bereich der Längswände des ockerfarbenen Saals III der Kunsthalle Baden-Baden erinnert es an die obere Fensterreihe der Münchner Nordarkaden. Merz hatte ein Jahr zuvor im Münchner Kunstverein in den Hofgartenarkaden ausgestellt und mit seinen Arbeiten kritische Fragen bezüglich des Klassizismus und seiner Fortführung im Nationalsozialismus aufgeworfen. Die schwarzen Quadrate umrahmen in Baden-Baden eine Genealogie von sechzehn Künstlern des 20. Jahrhunderts. In Großbuchstaben sind sie auf einer Wand vereint: von Boccioni über de Chirico und Savinio bis zu Mies van der Rohe und Donald Judd. Im Katalog zur Ausstellung fühlt sich Zdenek Felix an die metaphysischen Architekturen von Giorgio de Chirico erinnert.

Eine klarere Verbindung zu Giorgio de Chiricos Kunst zeigt sich in den Arbeiten der italienischen Bewegung Arte povera. Sie wird oft verkürzt durch ihre Hinwendung zu einfachen Materialien charakterisiert, den „armen“, rohen Materialeigenschaften. Ihre Werke sind aber der Kunst vergangener Zeit verbunden, die sie nicht ignorieren, sondern thematisieren.

Jannis Kounellis, einer ihrer Hauptvertreter wurde 1936 in Piräus in Griechenland geboren und verstarb im vergangenen Jahr in Rom. In seiner Arbeit „Senza Titolo“ von 1978 kombiniert er ein Objekt aus zwei Fragmenten von Gipsabgüssen: Der schwarz gefasste Kopf und die violett gefassten linken Hand sind mit einer Kordel zusammengebunden. Es handelt sich um Gipsabgüsse römischer Marmorkopien griechischer Bronzeoriginale aus dem 4. Jahrhundert vor Chr. Die Hand stammt vom Hermes Farnese, der Kopf vom Apoll vom Belvedere, den wir schon von De Chiricos Canto d’amore aus dem Jahr 1914 kennen, in welchem er mit einem roten Gummihandschuh, einer Kugel und einer Lokomotive verbunden wurde.

Paolo Paolini, ein weiterer Künstler aus der Gruppe, geboren 1940, vereint in den 1970er und 1980er Jahren zwei Gipsabgüsse mit dem Titel Mimesis. Er beschreibt sie selbst als „zwei identische Kopien, einer antiken Skulptur, die jeweils gegenüber einander platziert wurden, um die Distanz, die sie trennt und die Leere, die das Werk um sich selbst herum erschafft, zu zeigen, und uns von unserem Recht befreit, ihren undurchdringlichen Blick zu besitzen“. Helmut Friedel schreibt hierzu: „Der griechische Götterhimmel wird zitiert, antike Bilder in klassizistischer Tradition werden aufgegriffen, Themen antiker Autoren geben den Stoff zu neuen Bildern ab. Die ausgeprägte Kenntnis dieser alten Vorstellungen sowie der alltägliche Präsenz der bildnerischen Überreste der Antike sind in Italien zudem ausschlaggebend dafür, dass es zu einer fast selbstverständlichen Neubearbeitung dieser Bilder kam.“

Kounellis und Paolini sind vor dem Hintergrund einer Neubewertung des antiken Mythos in den 1970er Jahren in Italien zu sehen, die bei den Künstlern der Arte povera zu einer ausgeprägten Antikenrezeption führte. Während Kounellis die Antike in fragmentarischer Form bildnerisch neu kombiniert, zitiert Paolini den antiken Kanon, um grundsätzliche Probleme der Kunst zu erörtern, wie das Verhältnis von Original und Kopie, Nachahmung und das Sehen an sich. Bis heute wird der „Winckelmannsche … Faden“ (Goethe) der Griechenlandbegeisterung in der Kunst weitergesponnen, vielleicht nicht wie in Goethes Zitat in ihrer stilgeschichtlichen Bedeutung gemeint, aber doch in Kontinuität mit Winckelmanns Fragestellungen und seinem Ringen mit der, nicht nur für ihn, exemplarischen Epoche der griechischen Kunst und Geschichte.

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