Winckelmanns Beschreibungen des Laokoon und die Aktualität seiner Maxime „Edle Einfalt und stille Größe“

I.

 

Wir besitzen von Winckelmann zwei Beschreibungen des Laokoon. Die erste ist 1755 in Dresden verfasst worden und findet sich in den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Die zweite ist neun Jahre später in Rom in Gegenwart des Laokoon-Originals entstanden und als Teil seiner großen Schrift zur Geschichte des Altertums abgedruckt worden.

In Dresden, wo Winckelmann 1755 in der Gemäldegalerie und Antikensammlung des sächsischen Kurfürsten angestellt war und dort in seiner ersten Beschreibung die rasch berühmt gewordene Maxime von der „Edlen Einfalt und stillen Größe“ der griechischen Meisterwerke entwickelte, gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal einen Gipsabguss des Laokoon. Es gab lediglich eine verkleinerte Nachbildung in Bronze, die allerdings in allen entscheidenden Punkten mit dem originalen Vorbild übereinstimmt, insbesondere auch in der Gestaltung des rechten Arms.

Ausgerechnet dieser Arm erwies sich jedoch als ein kritisches Phänomen. Das damit zusammenhängende Ereignis von großer Wirkung war die kaum glaubliche Wiederentdeckung des durch nahezu vier Jahrhunderte verloren geglaubten rechten, antiken Armes des Laokoon. Ludwig Pollak hat 1903 diesen, nicht wie bei der nach Montorsoli benannten Ergänzung (Abb. 2) mit nur leicht gewinkeltem und vom Körper wegführenden, sondern spitzwinklig im Ellbogen „umgebrochenen“ und mit dem Unterarm wieder zum Körper und in Richtung Kopf zurückgeführten Originalarm bei einem römischen Steinmetzen zufällig wiedergefunden. Er zeigt durch seine stärkere Brechung noch deutlicher als die „Montorsoli-Form“ des Armes, dass der Zenit des Kampfes bereits überschritten ist.

Aufgrund dieses Fundes wurde schließlich von 1957 bis 1960 die vorerst endgültige Restaurierung der Gruppe mit dem Ziel möglichst weitgehender Wiederherstellung des originalen Zustandes durchgeführt.

So erfreulich die Wiederentdeckung des antiken Originalarms durch Pollak ist, so traurig ist die daraus resultierende Konsequenz des aus dem Blick-Geratens der älteren Lösung. Denn bei der „Montorsoli-Form“ handelt es sich um nichts künstlerisch Minderwertiges. Sie bleibt nicht nur sehr nah am seit 1798 als verschollen geltenden Original des Montorsoli-Arms, wie die Vergleiche mit erhaltenen Nachzeichnungen aus der Montorsoli-Zeit zeigen, sondern die hochdifferenzierte Gestaltung des Arms entstand unter dem Einfluss Michelangelos, des unbestritten bedeutendsten Bildhauers dieser Zeit. Er war es, der 1532 als künstlerischer Berater des Papstes Clemens VII. seinen Schützling Montorsoli als den nach seinem Urteil am besten geeigneten Bildhauer für die Ergänzung des rechten Arms und die Restaurierung der Laokoon-Gruppe vorgeschlagen hatte.

Das wichtigste Kennzeichen des aus dieser Konstellation entstandenen „Montorsoli-Armes“ besteht darin, dass der Arm des mit aller Kraft gegen die Schlange ankämpfenden Laokoon noch nicht von der Schlange umwunden ist, sondern dass sie hinter dem Arm und etwa parallel dazu, hochgedrückt wird. Man sieht, insbesondere aus der Hauptansicht, dass Laokoon noch genügend physische Kraft besitzt, um sich die Schlange vom Leib zu halten. Erst der Ausdruck seines Gesichts und die Neigung des Kopfes zeigen unzweifelhaft, dass sein Untergang unaufhaltsam ist.

Die Rekonstruktion Montorsolis ist aus archäologischer Sicht also falsch. Im Sinne der erreichten Dynamik des Geschehens, ist sie aber trotz dieser Falschheit „richtig“. Auch bei Montorsolis Lösung ist der Arm ja nicht einfach nur siegreich durchgestreckt und hochgereckt. Auch hier ist er im Ellbogengelenk bereits gewinkelt und trotz höchster Kraftanstrengung „gebrochen“. Auch hier zeigt das dramatische Aufgipfeln des Abwehrkampfes, dass es sich nicht um ein leeres Pathos des Siegens – oder des Siegen-Wollens – handelt.

Diese positive Bewertung wird in der gegenwärtigen Laokoon-Forschung nicht generell bejaht. In dem 2017 von Susanne Muth herausgegebenen Buch Laokoon – Auf der Suche nach einem Meisterwerk wurden dazu einige fragwürdige Behauptungen aufgestellt. Muth meint, Montorsoli zeige den rechten „Arm des Laokoon nicht … angewinkelt, sondern steil in die Höhe gestreckt.“ Montorsoli habe damit Laokoon zwar „eine Geste von hoher pathetischer Signalwirkung [verliehen, aber] im Kontext der konkreten Kampfhandlung entbehrt die Gebärde jeder Plausibilität.“

Dass aber ein „gestreckter Arm“ anders aussieht als Montorsolis Laokoon-Arm, ist unzweifelhaft. Ein Vergleichsblick auf J. L. Davids Bild Schwur der Horatier von 1765, das als Paradebeispiel klassizistischer Kunst im Zusammenhang mit Winckelmanns europäischem Einfluss bewertet wird, kann dies belegen. Dass in der Armgebärde der Horatier-Brüder darüber hinaus die erste Verkörperung des Hitlergrußes vorliegt, zeigt an, dass bei den Fragen von „gestreckt“ oder „gewinkelt“ nicht nur eine vernachlässigbare Formalfrage vorliegt.

Die Folge der Negativurteile Muths gipfelt in der These, dass Montorsoli, aller künstlerischen Schwäche zum Trotz, mit seinem „schmerzlich in die Höhe sich streckenden Arm eine kaum zu schlagende Pathosformel gelungen sei.“ Diese „Pathosformel“ habe Winckelmann jedoch missverstanden und deshalb in seiner ersten Beschreibung eine „Pathosdämpfung“ eingefügt. Diese „Pathosdämpfung“ sehen Muth – und ebenso ihr wichtigster Mitautor Giuliani – in der von Winckelmann formulierten Maxime zur „Edlen Einfalt und stillen Größe“ verkörpert.

Die Ursache für die von Winckelmann angeblich aus Missverstehen entwickelte „Pathosdämpfung“ soll in seiner 1755 noch fehlenden genaueren Kenntnis des Laokoon-Originals zu finden sein. Das sieht auch Giuliani so: „Es gab in Dresden auch keinen Gipsabguß [des Laokoon]. Vorhanden war … in der Dresdner Sammlung hingegen eine verkleinerte Bronzenachbildung … Diese Bronze ist (abgesehen von weit verbreiteten Kupferstichen) der einzige Gegenstand, der als konkrete Vorlage für die Beschreibung in den „Gedanken…“ in Frage kommt. Von der originalen Skulptur liefert sie allerdings nicht mehr als ein schwaches Echo“, so Muth.

 

II.

 

Entgegen der von Muth und Giuliani suggerierten Vorstellung, dass Winckelmann etwas Unähnliches, Verfälschendes oder Ungenaues – eben nur ein schwaches Echo des Laokoon – vorgelegen habe, sieht man, dass ihm eine recht getreue Nachbildung des Laokoon montorsolischer Form zur Verfügung stand. Sie ist immerhin 67 Zentimeter hoch und bildet den „Montorsoli-Laokoon“ in allen Details ebenso getreu ab, wie in der Anordnung der Großformen. Differenzen gibt es lediglich bei dem frei hinzugefügten Tuch, das der jüngere Sohn hochhält und bei dem leicht vergrößerten Abstand zwischen Laokoon und dem zum Vater zurückblickenden älteren Sohn. Beides beruht auf gusstechnischen Bedingungen.

Muths Behauptung eines „nachdrücklichen Missverständnisses“ durch Winckelmann ist demnach unhaltbar. Vielmehr konnte Winckelmann fast alles, was ihn an Laokoon interessierte, genauestens studieren. Aber man ahnt aus seiner Kurzformel zur „Edlen Einfalt und stillen Größe“, dass die Beschreibung des quantitativ Möglichen nicht sein Ziel sein konnte. So spricht er z.B. erst in dem Moment, in dem die genaueste Beobachtung des Gesichts möglich wurde, in seiner römischen Beschreibung von 1764 davon, dass das eigene Leiden des Vaters Laokoon „weniger zu beängstigen scheint, als die Pein seiner Kinder …“

Jetzt bleibt zu fragen, was Winckelmann in der uns besonders betreffenden ersten Beschreibung des Laokoon wichtig war. Gleich zu Anfang seiner Gedanken zur Nachahmung der griechischen Werke …, also noch vor den Erklärungen zur Unübertreffbarkeit der griechischen Kontur, noch vor seinen ausführlichen Begründungen, warum nur mit Hilfe der Griechen der Naturalismus des bloßen Abbildens in der Kunst überwunden werden könnte, und vor allem noch vor der eigentlichen Beschreibung, stellt er eine Extremforderung auf: „Der einzige Weg für uns groß … zu werden, ist die Nachahmung der Alten … Laokoon war den Künstlern im alten Rom eben das, was er uns ist; des Polyklets Regel; eine vollkommene Regel der Kunst.“ (Alle nachfolgenden Zitate sind ebenfalls aus der Ausgabe „Johann Joachim Winckelmann Kleine Schriften und Briefe“, Weimar 1960, entnommen)

Laokoon soll also die vollkommene Regel für alle frühere, gegenwärtige und zukünftige Kunst enthalten. Aber wie sollen wir verstehen, dass angesichts dieser Skulptur, die mitten in einem Bewegungsvorgang gezeigt wird, wo also überhaupt nichts stillsteht, von „Stiller Größe“ gesprochen wird. Und was soll die Rede von „Edler Einfalt“, angesichts eines aussichtslosen Kampfes, bei dem der jüngere Sohn bereits tödlich umwunden ist und der ältere Sohn entsetzt zu seinem Vater zurückblickt, weil er erkennen muss, dass dieser bewundernswert starke Vater, trotz seines gewaltigen Abwehrkampfes, bereits verloren ist.

Aus dem Fortgang des Textes ist zu erkennen, dass Winckelmann unsere Bedenken geläufig gewesen sein dürften. Ich gebe den ersten Teil seiner ersten Beschreibung deshalb in den Hauptpunkten: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.

Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoon, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdeckt, und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubt; dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei … Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen … Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke verteilt und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktetes: sein Elend geht uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu können.
Der Ausdruck einer so großen Seele geht weit über die Bildung der schönen Natur: der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte …“

Weiter unten heißt es dann, nahe an die Begriffe seiner Maxime heranreichend: „Kenntlicher und bezeichnender wird die Seele in heftigen Leidenschaften; groß aber und edel ist sie in dem Stande der Einheit, in dem Stande der Ruhe. Im Laokoon würde der Schmerz, allein gebildet, Parenthyrsis gewesen sein [Parenthyrsis als „falsche Übertreibung“]; der Künstler gab ihm daher, um das Bezeichnende und das Edle der Seele in eins zu vereinigen, eine Aktion, die dem Stande der Ruhe in solchem Schmerze der nächste war. Aber in dieser Ruhe muß die Seele durch Züge, die ihr und keiner anderen Seele eigen sind, bezeichnet werden, um sie ruhig, aber zugleich wirksam; stille, aber nicht gleichgültig oder schläfrig zu bilden …“

Bemerkenswert erscheint, dass Winckelmann seine Maxime von der „Edlen Einfalt und stillen Größe“, nicht, wie am ehesten zu erwarten gewesen wäre, am Apoll vom Belvedere entwickelt hat, sondern ausgerechnet an Laokoon. Dass darüber Erstaunen berechtigt ist, wird deutlich, wenn die soeben vorgetragene Laokoon-Beschreibung mit derjenigen des Apoll für einen Augenblick zusammengesehen wird: „Ein ewiger Frühling der Jugend bekleidet die vollkommene Männlichkeit dieses Körpers … Keine Anstrengung der Kräfte und keine lasttragende Regung der Glieder spürt man in seinen Schenkeln, und seine Knie sind wie an einem Geschöpfe, dessen Fuß niemals eine feste Materie betreten hat. Weder schlagende Adern, noch wirksame Nerven erhitzen und bewegen diesen Körper …“ An Laokoon dagegen sind alle Kennzeichen der „Anstrengung der Kräfte, der lasttragenden Regung der Glieder“, der „schlagenden Adern und wirksamen Nerven, die seinen Körper bewegen“, so unübersehbar, dass man erneut fragen muss, wieso Winckelmann gerade an Laokoon seine berühmt gewordene Formel entwickelt hat.

Schönheit fällt für Winckelmann „nicht unter Maß und Zahl“, sondern „das Schöne besteht in der Mannigfaltigkeit im Einfachen; dieses ist der Stein der Weisen, den die Künstler zu suchen haben, und welchen wenige finden; …“ Damit eng zusammengehörend betont er im Fortgang seiner Überlegungen zum Begriff der Schönheit dann die Schwäche bestimmter neuerer Künstler seiner eigenen Zeit, die im „Vielerlei“, das unterschieden wird vom „Mannigfaltigen“, ihre Armut verbergen würden. Dagegen sei es die Absicht der alten Künstler gewesen, das „Viele mit Wenigem“ auszudrücken. An der gleichen Stelle nennt er in einem Atemzug die beiden Kriterien, auf die es ihm ankommt: Das „Viele im Wenigen“ und die „Stille Einfalt“: „Aber du mußt dieselbe mit großer Ruhe betrachten; denn das Viele im Wenigen, und die stille Einfalt wird dich sonst unerbaut lassen.“ (S. 129) – Damit schließt sich der Kreis und wir sind nahe an der so oft zu banal verstandenen Formulierung von der „Edlen Einfalt und stillen Größe“ angelangt. Trotz aller Kennzeichen des leidenschaftlich Erregten, trotz aller schlagenden Adern usw. sieht Winckelmann an Laokoon, dass das ins „Mannigfaltig-Viele“ Verteilte der Komposition der Laokoon-Gruppe in einer alles zusammenbindenden Einheit, zu einer stillen Einfalt, d.h. einer Einheit, zusammengefügt ist. Das ist im Kern der meist übersehene Sinn seiner Maxime.

 

III.

 

Damit stehen wir gewissermaßen vor einem neuen Rätsel. Glücklicherweise besitzen wir aber einen Helfer in den Schriften Goethes zu Laokoon, soweit sie auf Winckelmann aufbauen. Sie präzisieren und verdeutlichen da, wo er schwer zu verstehen ist. In seinem Aufsatz über Winckelmann (1805) kritisiert er auf sublime Weise dessen Art über Kunst zu sprechen: „Er sieht mit den Augen, er faßt mit dem Sinn unaussprechliche Werke, und doch fühlt er den unwiderstehlichen Drang, mit Worten und Buchstaben ihnen beizukommen … Er muß Poet sein, er mag daran denken, er mag wollen oder nicht“, so Goethe. (Dieses und alle weiteren Zitate zu Goethe sind den „Schriften zur Kunst“, Hamburger Ausgabe Bd. 12, München 1981, entnommen.)

Goethe selbst beginnt dagegen seine eigene Beschreibung zu Laokoon von 1798 mit einer entsprechenden Einschränkung: „Ein echtes Kunstwerk bleibt wie ein Naturwerk, für unseren Verstand immer unendlich; es wird angeschaut, empfunden; es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden.“ Wenig später bezeichnet er die komplexen Aufgaben, die die Bildhauer des Laokoon beim Hervorbringen ihres Werks zu leisten hatten. Eine dieser Aufgaben ist diejenige der Symmetrie. Aber nicht im Sinne von Achsen- oder Spiegel-Symmetrie, die es ja bei der Kompositionsordnung der Laokoon-Gruppe nicht gibt, sondern in der Bedeutung von „Symmetria“, als dem von Vitruv her bekannten, richtigen „Zusammenklang“ zwischen den Teilen eines Werks.

Zu diesem ursprünglichen Begriff von Symmetrie gehören der Zusammenklang von Maßen und Proportionen, aber auch der Zusammenklang von Elementen und Größen, die von vornherein dem mathematischen Messen entzogen sind und sogar die Disproportion. Als zweiten Begriff, neben demjenigen der Symmetrie, hebt Goethe denjenigen der „sinnlichen Schönheit oder Anmut“ hervor. Er nimmt ihn so wichtig, dass er deshalb ausdrücklich betont, dass die Verwendung dieses Begriffs angesichts des Laokoon „manchem paradox scheinen“ mag, „Anmut. Der Gegenstand [z.B. Laokoon] aber und die Art ihn vorzustellen, sind den sinnlichen Kunstgesetzen unterworfen, nämlich der Ordnung, Faßlichkeit, Symmetrie, Gegenstellung etc., wodurch er für das Auge schön, d.h. anmutig wird (…) Jedes Kunstwerk muß sich als ein solches anzeigen, und das kann es allein durch das, was wir sinnliche Schönheit oder Anmut nennen. Die Alten, weit entfernt von dem modernen Wahne, daß ein Kunstwerk dem Scheine nach wieder ein Naturwerk werden müsse, bezeichneten ihre Kunstwerke als solche durch gewählte Ordnung der Teile; sie erleichterten dem Auge die Einsicht in die Verhältnisse durch Symmetrie, und so ward ein verwickeltes Werk faßlich … Ich getraue mir daher nochmals zu wiederholen: daß die Gruppe des Laokoons, neben allen übrigen anerkannten Verdiensten, zugleich ein Muster sei von Symmetrie und Mannigfaltigkeit, von Ruhe und Bewegung, von Gegensätzen und Stufengängen, die sich zusammen, teils sinnlich teils geistig, dem Beschauer darbieten.“

Im Straßburger-Münster-Aufsatz von 1772 entwickelt Goethe sogar die Maxime, dass „wahre Kunst“ auch „ohne Gestaltsverhältnis“ und „aus den willkürlichsten Formen“ bestehend, zusammenstimmen kann; nämlich dann, wenn sie „aus inniger, einiger, eigner, selbständiger Empfindung [hervorgebracht worden ist].“ „Da mag sie aus rauher Wildheit oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz und lebendig.“ Als Beispiel nennt er dafür nicht nur Erwin von Steinbach, den Architekten des Straßburger Münsters, sondern – wie in einem Vorgriff auf die Künstler der Moderne und ihre Beziehung zur Kunst der sogenannten Primitiven – auch den „Wilden, [der] mit abenteuerlichen Zügen, gräßlichen Gestalten, hohen [grellen ] Farben seine Kokos, seine Federn und seinen Körper [modelt].“ Goethes Hauptsatz lautet: „Die Kunst ist lange bildend, eh‘ sie schön ist, und doch so wahre, große Kunst, ja oft wahrer und größer als die schöne selbst.“

Für Goethe – ebenso wie für Winckelmann – besteht demnach einesteils das „Schöne in der Mannigfaltigkeit im Einfachen“, aber anderenteils gibt es einen entscheidenden Unterschied. Aus Winckelmanns Kunstdenken ist nicht nur der Wilde und seine Kunst, die zwar „aus rauher Wildheit“, aber eben nicht aus „gebildeter Empfindsamkeit“ hervorgebracht worden ist, sondern auch die Kunst seiner eigenen Gegenwart sehr weitgehend ausgeschlossen. Hier sieht er zur schönen Kunst der Antike das Gegenteil: „Das diesem entgegenstehende äußerste Ende, ist der gemeinste Geschmack der heutigen, sonderlich der angehenden Künstler …“, so wieder Winckelmann.

Diese Wendung gegen Kunst und Künstler seiner eigenen Zeit ist ein folgenschwerer Einbruch. In der Früh- und Hochrenaissance war das anders. Das bekannteste Beispiel liefert Vasaris Zeitalter-Lehre. Höhepunkt ist darin Michelangelo, der nach Vasari sowohl die Natur als auch die vorbildliche Kunst der Antike übertraf. Nach allem, was wir wissen, darf man annehmen, dass nicht nur Michelangelo, sondern die Renaissancekünstler ganz allgemein, so „naiv“, also so vom eigenen Zentrum eingenommen waren, dass sie die Antike mit Begeisterung nachahmen konnten, ohne in die Rolle eines Liebhabers zu geraten, der verlassen am Ufer des Meeres sitzt, während seine Geliebte bereits davongesegelt ist und nur noch der unerreichbare Gegenstand seiner Sehnsucht sein kann. Würde man Schillers Kunstbegriffe aus dem Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung in Anwendung bringen, müsste man Winckelmanns Kunstdenken als „sentimentalisch“ bezeichnen. Umso bewundernswerter bleibt, dass er den Laokoon, dem es ja in nichts an Ur-Wildheit fehlt, an die Spitze seines Systems gesetzt hat, so dass Goethe bis auf den einen wichtigen Ausnahmepunkt daran anknüpfen konnte.

Die Einengung des Kunstbegriffs, allein auf das vorbildlich Schöne der antiken Kunst bei Winckelmann, erinnert an die einengenden Vorstellungen, die J. G. Sulzer, als ein Vertreter des Akademischen Klassizismusin seiner Theorie der schönen Künste verbreitete. Sulzer hatte 1772 einen Auszug daraus in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen abgedruckt, den Goethe dort besprochen hat: Herr Sulzer „will das unbestimmte Prinzipium: Nachahmung der Natur, verdrängen und gibt uns ein gleich unbedeutendes dafür: die Verschönerung der Dinge.“

Sulzer hatte nämlich behauptet: „In der ganzen Schöpfung stimmt alles darin überein, daß das Aug‘ und die anderen Sinnen von allen Seiten her durch angenehme Eindrücke gerührt werden.“ Goethe fragt daraufhin: „Gehört denn, was unangenehme Eindrücke auf uns macht, nicht so gut in den Plan der Natur als ihr Lieblichstes? Sind die wütenden Stürme, Wasserfluten, Feuerregen … und Tod in allen Elementen nicht ebenso wahre Zeugen ihres ewigen Lebens als die herrlich aufgehende Sonne … und duftende Orangenhaine? Was würde Herr Sulzer zu der liebreichen Mutter Natur sagen, wenn sie ihm eine Metropolis, die er mit allen schönen Künsten … erbaut und bevölkert hätte, in ihren Bauch hinunterschlänge? … Wäre es [aber] auch wahr, daß die Künste zur Verschönerung der Dinge um uns wirken, so ist’s doch falsch, daß sie es nach dem Beispiel der Natur tun. Was wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt; nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel.“

 

IV.

 

Von dem jetzt erreichten Punkt können wir zurückblicken auf unseren Anfang und die Behauptung, dass Winckelmann den Laokoon missverstanden habe. Die Aussagen Goethes zu Laokoon bestätigen Winckelmann nahezu in allem. Was an seiner Maxime fehlte, hat Goethe hinzugefügt. Nicht Winckelmann hat die „Pathosformel“ der Haltung des Arms des Laokoon missverstanden, sondern es wurde missverstanden, was Winckelmann und Goethe zu der an Laokoon verwirklichten „Einheit im Mannigfaltigen“ gedacht haben.

Nun fragt es sich, ob diese Bestimmung des Schönen in der Kunst nur alter Kram ist oder ob daraus eine aktuelle Nutzanwendung zu gewinnen ist. Ich gebe dazu wenigstens ein Beispiel aus vielen. In der FAZ vom 29. Mai 2013 wurde die Rekonstruktion des Kopfes desKriegers A der „Helden von Riace“ im Zusammenhang mit der Ausstellung „Zurück zur Klassik“ gefeiert. Besonderer Stolz der Urheber und des Berichterstatters war die Wiederherstellung der angeblich „raffiniert geformten Augenwimpern“. Wie griechische Wimpern aus der Zeit der griechischen Klassik aussehen, kann man am „Wagenlenker von Delphi“ prüfen.

Dagegen bleiben die Wimpern des rekonstruierten Kopfes alle gleichmäßig flach, alle gleichmäßig gekrümmt, alle gleich lang, alle haben etwa gleiche Abstände zueinander. Obere und untere Wimpernreihe sind austauschbar. Statt „raffiniert geformter Augenwimpern“ sehen wir maschinell gestanzte Wimpernbleche. Was fehlt, ist Mannigfaltigkeit und Einheit zugleich, denn jedes Teilelement ist beliebig mit dem nächsten austauschbar. Was fehlt ist erst recht „Edle Einfalt und stille Größe“.

Jeder kann daraufhin die auch in Regensburg zunehmenden Fälle von Raster-Fassaden bei neueren Gebäuden betrachten und er wird bemerken, dass Winckelmanns Maxime, trotz ihrer Mängel, durchaus aktuell ist.

More media by the author / Topic: Art | Culture

I.   Der Name Johann Joachim Winckelmanns steht in Deutschland für die Anfänge des Klassizismus im 18. Jahrhundert. Die Orientierung an der Kunst und Kultur der Griechen wurde durch ihn zum Maßstab des Klassischen. Das höchste Ideal wird die Nachahmung dieser Zeit. Im 20. Jahrhundert machte Jean Cocteaus La rappel à l’ordre nach den avantgardistischen…
I.   Wir besitzen von Winckelmann zwei Beschreibungen des Laokoon. Die erste ist 1755 in Dresden verfasst worden und findet sich in den Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Die zweite ist neun Jahre später in Rom in Gegenwart des Laokoon-Originals entstanden und als Teil seiner großen Schrift zur…
I.   Als Kronprinz Ludwig mit dem Sammeln antiker Kunst begann, hatte die Wirkung Winckelmanns ihren Zenit bereits überschritten: Sein Freiheitspathos war von den Folgeentwicklungen der Französischen Revolution kompromittiert, sein aufgeklärter Deismus wurde von einer empfindsamen Frömmigkeit abgelöst, und mit der griechischen Kunst als Vorbild begannen die altdeutsche, altflämische und altitalienische als gleichursprüngliche zu konkurrieren.…
I.   Denkmäler sind in aller Regel gesellschaftliche und soziale Orte, sie ziehen Menschen an. Sie eignen sich denn auch besonders gut als Treffpunkte, denn sie stehen in der Regel im Weg, man muss ihnen – wie es Robert Musil so treffend formuliert hat – „täglich ausweichen“. Man „würde augenblicklich verwirrt stehen bleiben, wenn sie…
Am 4. Oktober 1770 erließ der bayerische Kurfürsten Max III. Joseph (reg. 1745-1777) ein Generalmandat in puncto concurrentiae zu den Kirchen- und Pfarrhöfbau. Der zwölfseitige Erlass wurde unter der Regie des kurfürstlichen geistlichen Rats in München erstellt, einer landesfürstlichen Behörde, die den Gesamtkomplex der Beziehungen zwischen Staat und Kirche im Kurfürstentum Bayern zu administrieren hatte.…
Ist Winckelmanns Kunstideal ein klassisches?   Johann Joachim Winckelmanns hat sein Kunstideal bekanntlich in der klassischen Epoche Griechenlands als verwirklicht angesehen. Sollte da nicht angenommen werden, es sei auch seine bekannte Formulierung dieses Ideals – das vielzitierte Wort von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ wahrer Kunst – ganz im Geist des alten Hellas gesprochen?…
Kein Archäologe hat jemals eine so breite Wertschätzung erfahren wie Johann Joachim Winckelmann, der Sohn eines Flickschusters aus Stendal. Das kommt schon in Goethes Schrift Winckelmann und sein Jahrhundert von 1805 zum Ausdruck, wonach in Winckelmann ein neues Kunstideal und die Wissenschaftsauffassung eines ganzen Saeculums kulminierten. Anlässlich der Einweihung einer kolossalen Büste, die er bei…
„Und wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel fiel die Nachricht von Winckelmanns Tod zwischen uns nieder.“ Mit diesen Worten nahm Johann Wolfgang von Goethe den Tod Johann Joachim Winckelmanns am 8. Juli 1768 auf. Der 19-jährige Goethe fiel in Leipzig von einer Aufregung in die andere. Kurz zuvor noch hatte das intellektuelle Deutschland die Nachricht…
In den Gedancken über die Nachahmung Griechischer Wercke in Mahlerey und Bildhauer-Kunst von 1755, seiner Erstlingsschrift, hatte Winckelmann den Künstlern die Einfachheit und Natürlichkeit der Griechen als Vorbild empfohlen, weibliche griechische Statuen beschrieben, deren Körper sich unter der fließender Gewandung frei bewegen konnten und sichtbar vor Augen blieb. Er stellte die griechische Gewandung der eigenen…
Nach einem erfolgreichen Auftakt am 22. Oktober 2024 mit Frau Prof. Anke Doberauer und einigen ihrer Studierenden wurde das Format Abends im Schloss U20 am 8. April 2025 weitergeführt. Der „Leistungskurs Geographie“ des Maximiliansgymnasiums München und die „Umweltscouts“ des Edith-Stein-Gymnasiums, insgesamt ca. 25 Schüler:innen (in Begleitung mehrerer Lehrkräfte), lauschten im Rondell von Schloss Suresnes den Ausführungen von…

Current events on the topic: Art | Culture

Das Schloss Suresnes wartet auf Sie!
Sunday, 14.09.2025
Wikimedia Commons
Literatur als Therapie
Erich Garhammer trifft Rilke-Biograf Manfred Koch
Thursday, 04.12.2025