“Dein wahrhaft sorgfältiger Vatter”

Leopold Mozart on the 300th Birthday

As part of the event "Leopold Mozart on the 300th anniversary of his birth", 28.11.2019

Die Musik, die gerade vor dem Beginn des Vortrags erklang, stammt aus der Feder eines Komponisten, von dem wir heute nicht mehr viel wüssten, wenn er nicht der Vater seines Sohnes gewesen wäre. Und das, obwohl er laut eigenem Bekunden hunderte von Werken geschrieben hatte. Leopold Mozart, 1719 in Augsburg geboren, gab 1757 eine Art zusammengefasstes Werkverzeichnis zu Protokoll, das da lautete:

„Von des Hrn. Mozards in Handschriften bekannt gewordenen Compositionen sind hauptsächlich viele contrapunctische und andere Kirchensachen zu merken; ferner eine große Anzahl von Synfonien theils nur à 4. theils aber mit allen nur immer gewöhnlichen Instrumenten; ingleichen über dreißig große Serenaten, darinnen für verschiedene Instrumente Solos angebracht sind. er hat ausserdem viele Concerte, sonderlich für die Flötraversiere, Oboe, das Fagott, Waldhorn, die Trompete etc. unzählige Trios und Divertimenti für unterschiedliche Instrumente; auch zwölf Oratorien und eine Menge von theatralischen Sachen, sogar Pantomimen, und besonders gewisse Gelegenheits=Musiken verfertiget, als: ein Soldatenmusik mit Trompeten, Paucken, Trommeln und Pfeiffen, nebst den gewöhnlichen Instrumenten; eine türkische Musik; eine Musik mit einem stählernen Clavier; und endlich eine Schlittenfahrtsmusik mit fünf Schlittengeläuth; von Märschen, sogenannten Nachtstücken, und vielen hundert Menuetten, Opertänzen, und dergleichen kleinern Stücken nicht zu reden.“

Für Violoncello war nichts dabei. Julius Berger hat ein Trompetenkonzert von Leopold Mozart für sein Instrument bearbeitet, und das wäre durchaus im Sinne des Komponisten gewesen. Denn Bearbeitungen dieser Art waren an der Tagesordnung zu einer Zeit, da nicht jedes Instrument zu jeder Zeit verfügbar war, und da Musik, die nicht selber gemacht wurde, auch nicht zu hören gewesen wäre. Leopold Mozart hat, wie wir eben hören konnten, eine durchaus ernst zu nehmende Musik geschrieben. Wir kennen ihn freilich nur als den allzu gestrengen Vater eines hochbegabten Sohnes. Allzu gestreng? Dieses Bild bedarf, so meine ich, einer deutlichen Korrektur. Zumindest war sein Selbstbild ein anderes, wie der Glückwunsch zeigt, den er am 23. Oktober 1777, eine gute Woche vor dem Namenstag seines Sohnes formulierte, einen Gruß aus Salzburg nach Augsburg, wo Wolfgang sich auf seiner Reise nach Paris gerade aufhielt:

„Mon très cher Fils! Ich soll dir zu deinem Nahmenstage Glück wünschen! aber was kann ich dir itzt wünschen, was ich dir nicht immer wünsche? – – Ich wünsche dir die Gnade Gottes, die dich aller Ort begleite, die dich niemals verlassen wolle, und niemals verlassen wird, wenn du die Schuldigkeiten eines wahren Catholischen Christen auszuüben beflissen bist.

du kennest mich. – Ich bin kein Pedant, kein Bettbruder, noch weniger ein Scheinheiliger: allein deinem Vatter wirst du wohl eine Bitte nicht abschlagen? -Diese ist: daß du für deine Seele besorgt seÿn wollest, daß du deinem Vatter keine Beängstigung in seiner Todesstund verursachest, damit er in ienem schweren augenblick sich keinen Vorwurff machen darf als hätte er an der Sorge für dein SeelenHeil etwas vernachlässiget. Lebe wohl! Lebe glücklich! lebe vernünftig! Ehre und schätze dein Mutter, die in ihrem Alter nun viele Mühe hat, Liebe mich wie ich dich liebe als dein wahrhaft sorgfältiger Vatter Leop: Mozart manu propria“

Der Mann, der uns hier in diesem Glückwunsch entgegentritt, ist ein anderer als der, den wir zu kennen meinen, alles andere als allzu gestreng. Und dennoch: Was hat die Nachwelt diesem Leopold Mozart nicht alles vorgeworfen! Ganze Arbeit hat etwa Wolfgang Hildesheimer geleistet, der den Vater in seiner berühmten Mozart-Biographie von 1977 als „Lakaiennatur mit starkem Hang zu Duckmäuserei“ charakterisierte. Und auch Peter Shaffer befeuerte die Diskussion um die Rolle des Vaters in Mozarts Leben in seinem Amadeus-Schauspiel von 1979, das Milos Forman später seinem oscarprämierten Amadeus-Film 1983 zugrunde legte. Peter Shaffer bemühte die Tiefenpsychologie, um das Verhältnis Wolfgangs zu seinem Übervater zu charakterisieren, indem er eine Beziehung zwischen ihm und dem Komtur in Don Giovanni herstellte. Wenn Mozart in dem Theaterstück und später auch im Film in Wien die Nachricht vom Tod seines Vaters erhält, hört man den Auftritt des Steinernen Gastes und sieht, wie Leopold Mozart seinem Sohn als strafender Geist erscheint. Und wenn der Unbekannte an die Tür pocht und Mozart den Kompositionsauftrag für das Requiem erteilt, wird diese Szene erneut vom Auftritt des Komturs in Don Giovanni musikalisch untermalt.

Schließlich konstruierte Maynard Solomon, ein US-amerikanischer Musikwissenschaftler mit dezidiert psychoanalytischen Interessen, gar eine schicksalhafte seelische Verstrickung zwischen Vater und Sohn – zwischen Leopold Mozart, der seine eigenen Ängste, Traumata und Schuldgefühle aus der Zeit seiner Jugend in Augsburg auf seinen Sohn projizierte und ihn damit zum Sündenbock für eigene Verfehlungen machte, und Wolfgang Mozart, der diese „Verfehlungen“ wiederholte und sich seinem Vater in ähnlicher Weise entzog wie dieser sich seiner eigenen Familie entzogen hatte. Solomon übertrug Sigmund Freuds Idee von der „Gefühlserbschaft“ auf die Familie Mozart und verstieg sich zu Mutmaßungen darüber, dass „die Salzburger Mozarts ein Drama von Aufopferung und Sühne wiederholt“ hätten, „das Leopold unbewusst inszenierte, um sich mit früheren Geschehnissen auszusöhnen, deren Erinnerung ihn fortwährend belastete.“

Sehen wir einmal von der Frage ab, ob sich psychologische Lehrmeinungen des 20. Jahrhunderts problemlos auf die Gefühlswelten früherer Jahrhunderte übertragen lassen, ob also das, was unter Psychologen und auch Historikern inzwischen „transgenerationale Traumaweitergabe“ genannt wird, ein gedankliches Werkzeug zum Verständnis Leopold und Wolfgang Mozarts sein kann. Was alle Versuche kennzeichnet, die die wachsende Entfremdung zwischen Vater und Sohn zu bewerten versuchen, ist die Blickrichtung: Im Zentrum unseres Interesses steht Wolfgang Amadé Mozart, und unser Trachten geht dahin, das Rätsel dieser Persönlichkeit zwischen tiefem künstlerischen Ernst, vulgären Denkfiguren und seiner immer aufs Neue unbegreiflichen Kunst zu entschlüsseln. Leopold Mozart bildet da oft nur die familiäre Folie, vor der sich die Person und das Werk des Sohnes umso plastischer abheben. Das aber wird Leopold Mozart nicht gerecht.

Denn sein wichtigstes Werk, die Violinschule, war geschrieben, bevor Wolfgang geboren wurde, und seine bedeutendsten Briefe entstammen der Zeit, bevor Wolfgang selbst zum Briefschreiber wurde. Leopold Mozarts Interessen gingen Zeit seines Lebens weit über das hinaus, was die Welt seines Sohnes ausmachen sollte. Es lohnt sich, den Blick einmal nicht auf Wolfgang, sondern auf Leopold Mozart zu richten, auf den Mann, der von Zeitgenossen als lebensklug, geistreich, gebildet und kultiviert beschrieben wurde, der sich selbst als Mittler zwischen den Welten verstand – ein Jesuitenschüler, der mit Protestanten Freundschaften schloss, ein Bürgersohn, der dem Adel diente, ein Geiger, der als Schriftsteller zu reüssieren hoffte, ein „Mann von vielen Witz und Klugheit“, wie es ein langjähriger Weggefährte in einem Nachruf formulierte. Es lohnt sich, einmal den Leopold Mozart der ersten fünfzig Jahre seines Lebens zu betrachten, bevor Wolfgang aus dem Schatten seines Vaters heraustrat und ein eigenes künstlerisches Leben begann.

Sicher – es ist nur recht und billig, dass wir uns für den Sohn stärker interessieren als für den Vater, der als Komponist ohne Zweifel weniger begabt war, dessen musikalisches Werk uns nicht mehr interessieren würde, wenn wir nicht wüssten, welches musikalische Universum sein Sohn später erschaffen würde. Aber genau das ist ein Teil des Problems: Wir Nachgeborenen sind in der komfortablen Situation zu wissen, wie die Geschichte weiterging. Wie Wolfgang Mozart in seinem letzten Lebensjahrzehnt Meisterwerke für die Ewigkeit schrieb, wie er nach seinem Tod Ende 1791 zu einem Götterliebling ohne Fehl und Tadel verklärt und schließlich verkitscht wurde, und wie Leopold Mozart im Zuge dieses musikalischen Heiligsprechungsprozesses immer mehr als der autoritäre, engstirnige, verständnislose  Vater dargestellt wurde, der das Genie seines Sohnes nicht erkannt habe oder nicht habe sehen wollen, der ihm eine abgesicherte, aber kleingeistige, beschränkte Existenz in Salzburg aufzwingen wollte, statt seine Höhenflüge zu begleiten. Je heller der Glanz des Komponisten der Zauberflötethe Jupiter-Sinfoniethe Haydn-Quartette, des Krönungskonzerts strahlte, umso düsterer wurde dahinter die Gestalt des Vaters gemalt. Es verwundert also nicht, dass sich das Interesse der Öffentlichkeit an Wolfgang Amadé Mozart, dieser musikalischen Jahrtausendbegabung, auch auf sein Verhältnis zu seinem Vater Leopold richtete.

Als Komponist wäre dieser ohne seinen Sohn heute vergessen, und das hat auch mit der Zeit zu tun, in der er komponierte. Denn für die Jahre, in denen Leopold Mozart als Komponist aktiv war, hat die Musikgeschichtsschreibung nicht einmal einen Namen. Im Gänsemarsch der Epochen klafft zwischen dem, was wir gemeinhin als „Barock“ bezeichnen, und dem, was sich in der musikhistorischen Wahrnehmung als „Wiener Klassik“ etabliert hat, eine Lücke. Dabei ließe sich für die Frage, wie der Übergang vom „Barock“ zur „Klassik“ gelang, an vielerlei Einzelfällen, an den Kompositionen eines Ignaz Holzbauer, Giovanni Battista Sammartini, Michel Corrette oder eines Johann Christian Bach im Detail untersuchen. Eine Epoche mit scheinbar festen Stilmerkmalen würde daraus freilich nicht. Zu heterogen waren die kompositorischen Strategien, aber auch die Bedingungen, unter denen die Musik entstand, als dass sich daran verallgemeinerbare Eigentümlichkeiten hätten beschreiben lassen.

Die Jahrzehnte zwischen Johann Sebastian Bachs Tod 1750, der laut gängiger Musikgeschichtsschreibung das Ende des Barock markiert, und Joseph Haydns Streichquartetten op. 33 1782, die als Beginn der Wiener Klassik gelten, werden generell mit Verlegenheitsvokabeln wie „Epoche zwischen den Epochen“, „Vorklassik“ oder auch „Frühklassik“ bezeichnet; beliebt sind auch Anleihen bei den Literaturwissenschaften mit Begriffen wie „Empfindsamkeit“ oder „Sturm und Drang“. Sie scheinen sich vor allem als ein „nicht mehr“ oder ein „noch nicht“ zu präsentieren und ungeeignet zu sein, kompositorische Prinzipien gleichsam eigenen Rechts zu definieren. Darüber hinaus lässt sich für diese Generation keine Komponistenpersönlichkeit ähnlich epochaler Bedeutung ausmachen, deren Strahlkraft ebenso lange Schatten auf die Zeitgenossen hätte werfen können wie Bach oder Beethoven. Statt von einer „Epoche zwischen den Epochen“ könnte man auch mit Fug und Recht von einer „Epoche der Vielfalt“ sprechen.

Nicht aber, dass dies eine Besonderheit gegenüber den beiden scheinbar festgefügten Epochen „Barock“ und „Klassik“ wäre. Denn dass Bach und Beethoven das Maß aller kompositorischen Dinge in ihrer Zeit sein sollen, ist ja auch nichts anderes als ein historiographisches Konstrukt. Was etwa könnte das Gemeinsame von Bachs Clavierübungen, Jean-Philippe Rameaus Tragédie en musique Castor et Pollux, Händels Ode Alexander’s Feast und Giovanni Battista Pergolesis Stabat mater sein, die alle etwa gleichzeitig entstanden und als Meisterwerke des Barock fungieren? Oder von Beethovens Symphonien, Gioacchino Rossinis Opern und Franz Schuberts Liedern? Auch „Barock“ und „Klassik“, diese beiden vermeintlich so trennscharf zu definierenden Epochen, sind musikalisch gekennzeichnet von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ und darüber hinaus von der Vielfalt kultureller Einflusssphären. In diesem Sinne ist das Fehlen einer alles überragenden Komponistenpersönlichkeit in der Mitte des 18. Jahrhunderts eher von Vorteil: Es ermöglicht einen unbefangenen, nicht vom Zwang zum Gewichten geleiteten Blick auf eine Zeit, in der musikalisch so viel Neues passierte.

In dieser Epoche der Vielfalt, in der Generation der vor 1720 geborenen Komponisten, zu denen u.a. auch Christoph Willibald Gluck und Carl Philipp Emanuel Bach gehörten, wäre Leopold Mozart vermutlich nur mit seinem Lehrwerk, dem Versuch einer gründlichen Violinschule, ans Licht getreten, weniger aber mit seinen Kompositionen. Mit der Violinschule aber, vor der Geburt seines siebten und letzten Kindes namens Wolfgang verfasst und ein paar Monate nach dessen Geburt veröffentlicht, schrieb er sich in die Musikgeschichte ein. Dabei war es nicht einmal die erste schriftliche Unterweisung im Violinspiel auf dem Markt, nicht einmal die erste in deutscher Sprache. 1738 war eine französische in Paris erschienen, 1751 eine englische in London und im selben Jahr eine deutsche mit dem Titel Rudimenta panduristae. Alle diese Violinschulen aber waren kaum mehr als technische Anweisungen mit Übungsbeispielen. Leopold Mozart beschritt einen anderen Weg.

Mit seiner Violinschule stellte er sich explizit in den Kontext der Aufklärung – jener philosophischen und gesellschaftlichen Bewegung, deren wichtigste Impulse von England und Frankreich, im deutschsprachigen Raum aber vor allem von den protestantischen Landen ausgingen –  Gottfried Wilhelm Leibniz in Hannover, Johann Mattheson in Hamburg, Johann Christoph Gottsched in Leipzig, Immanuel Kant in Königsberg. Im Vorwort der Violinschule bekannte Leopold Mozart, gezögert zu haben, sich „bey so aufgeklärten Zeiten“, wie er schrieb, in den Diskurs einzuschalten. Es ging ihm denn auch in seiner Violinschule jenseits der spieltechnischen Anweisungen vor allem um ästhetische Reflexionen und stilistische Empfehlungen, um die Vermittlung all jener Überlegungen, die der Interpretation und dem Verständnis der Musik dienten.

Das Buch begann mit Grundkenntnissen der allgemeinen Musiklehre und der Musikgeschichte, bevor sich der Autor den technischen Details des Violinspiels widmete. Wie ein roter Faden aber ziehen sich vor allem umfangreiche ästhetische Erörterungen durch das Buch, und es sind vier Kategorien, die Leopold Mozart zugrunde legte – die Natur, die menschliche Stimme, die Vernunft und der gute Geschmack. Dass das Instrument, also in diesem Fall die Violine, die menschliche Stimme nachahmen solle, weil Instrumentalmusik textlos und damit – im Wortsinn – sinn-los sei, war ein Gedanke, der bis ins 16. Jahrhundert zurückreichte. Auch in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Instrumentalmusik die Vokalmusik an Bedeutung zu überflügeln begann, galt diese Maxime noch. Als einer der letzten sicherte Leopold Mozart sie noch einmal mit spieltechnischen Argumenten ab:

„Jeder, der die Singkunst ein bißchen verstehet, weis, daß man sich eines gleichen Tones befleissigen muß. Denn wem würde es doch gefallen, wenn ein Singer in der Tiefe oder Höhe bald aus dem Hals, bald aus der Nase, bald aus den Zähnen u. s. w. singen, oder gar etwa dazwischen falsetiren wollte? Die Gleichheit des Tones muß also auch auf der Violin nicht nur bey der Schwäche und Stärke auf einer Seyte, sondern auf allen Seyten und mit solcher Mässigung beobachtet werden, daß eine Seyte die andere nicht übertäube. Und wer weis denn nicht, daß die Singmusik allezeit das Augenmerk aller Instrumentisten seyn soll: weil man sich in allen Stücken dem Natürlichen, so viel es immer möglich ist, nähern muß?“

Und schließlich appellierte Leopold Mozart an die Musiker, nicht nur ihre Finger, sondern auch ihren Verstand zu benutzen, wenn sie ein Musikstück aufführen wollten:

„Bevor man zu spielen anfängt muß man das Stück wohl ansehen und betrachten. Man muß den Charakter, das Tempo und die Art der Bewegung, so das Stück erfordert, aufsuchen, und sorgfältig nachsehen, ob nicht eine Passage darinnen stecket, die oft beym ersten Ansehen nicht viel zu bedeuten hat, wegen der besondern Art des Vortrags und des Ausdruckes aber eben nicht leicht abzuspielen ist. Man muß sich endlich bey der Ausübung selbst alle Mühe geben den Affect zu finden und richtig vorzutragen, den der Componist hat anbringen wollen; und da oft das Traurige mit dem Fröhlichen abwechselt: so muß man jedes nach seiner Art vorzutragen beflissen seyn. Mit einem Worte, man muß alles so spielen, daß man selbst davon gerühret wird.“

Leopold Mozarts Appell an die musikalische Vernunft klingt wie eine Vorwegnahme jener Forderung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, die Immanuel Kant in seinem berühmten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ 1784 formulierte. Über die Jahrzehnte hinweg entwickelte sich die Violinschule zu einem Longseller, an dem Leopold Mozart viel Geld verdiente. Sie erlebte mehrere Auflagen, wurde ins Französische und Holländische übersetzt und selbst im 19. Jahrhundert immer wieder nachgedruckt. Generationen von Violinisten haben nach diesem Buch gelernt, und für die historisch informierte Aufführungspraxis ist sie bis heute ein wichtiges Referenzwerk.

Als Wolfgang Mozart dann im Januar 1756 das Licht der Welt erblickte, hatte sein Vater schon jahrelange Erfahrungen nicht nur als ausübender Musiker und als Komponist, sondern auch als Musiklehrer gesammelt. Wolfgang kam eigentlich zur Unzeit, denn Leopold Mozart war gerade mit der Endredaktion seiner Violinschule beschäftigt und hatte auch sonst alle Hände voll zu tun. In den Briefen an seinen Verleger Johann Jakob Lotter in Augsburg beklagte er sich denn auch über die Unruhe, die dieses neugeborene Kind in seine Tage brachte:

„12. Februar 1756. Ich kann sie versichern, daß ich so viel zu thun habe, daß ich manchmal nicht weis wo mir der kopf stehet. nicht zwar wegen dem vielen Componieren, sondern wegen vielen Scolaren und den opern bey Hofe. Und das wissen sie auch, daß wann die frau Wöchnerin ist, daß immer jemand kömmt der einem die Zeit wegstihlt. dergleichen Historien nehmen geld und Zeit weg.“

Mit seinem erfahrenen Blick erkannte Leopold Mozart bald aber auch, dass dieses Kind hochbegabt war und einer sorgfältigen Förderung bedurfte. Wolfgang Mozart ist in jeder Hinsicht das Geschöpf dieses Vaters gewesen. Er hat nie eine Schule besucht, nie andere Lehrer als seinen Vater gehabt, und alles, was er wusste und konnte, hatte er von seinem Vater gelernt – Lesen und Schreiben ebenso wie Latein, Französisch und Italienisch, Klavier und Violine Spielen ebenso wie Komponieren. Leopold Mozart war immer um seinen Sohn, seit er erkannt hatte, dass dieser Knirps, der da in seinem Hause heranwuchs, ein Wunder Gottes war, wie er nicht müde wurde zu betonen, und dass es gleichsam sein Auftrag und seine Verpflichtung gegenüber Gott und der Welt war, dieses Wunder in jeder nur denkbaren Weise zu fördern.

Zu den Mythen um den vermeintlichen Götterliebling, den Donnerblitzbub, das Wolferl, gehört auch die Vorstellung, dass diesem Kompositionsgenie alles gelang, dass er, wie Salieri dies in Peter Shaffers Amadeus-Schauspiel thematisierte, wie ein Medium agierte, durch das die Noten gleichsam vom Himmel direkt auf das Papier flossen, ohne dass ihm selbst bewusst gewesen wäre, woher die Inspiration kam. Das ist, mit Verlaub, Unsinn. Wolfgang Mozart wusste nicht nur genau, was er tat – er hatte ja den besten und sorgfältigsten Lehrer gehabt, den man sich vorstellen konnte. Er durchlebte auch immer wieder Phasen des Zweifelns, und so leicht ihm das Komponieren zumeist aus der Feder floss, so mühsam waren wieder andere Phasen, in denen er wenig mehr als ein paar Fragmente zustande brachte.

Zu diesen Fragmenten gehört auch das einzige Stück für Violoncello und Klavier, das wir von Wolfgang Mozart kennen. Das Violoncello war für ihn ein Orchesterinstrument und vor allem ein Kammermusikinstrument. Schon die Köchelnummer macht deutlich, wie schwierig es ist, dieses Stück zeitlich zu verorten. Sie lautet 374g = Anhang 46, was soviel bedeutet, dass eine Umdatierung stattgefunden hat. Es handelt sich um 34 Takte eines Adagios, das nach neueren Erkenntnissen 1781 entstanden sein muss, als Wolfgang Mozart sich endgültig von seinem Vater abgenabelt hatte, nach Wien gezogen war, ein Leben als freier Künstler anstrebte und auf Freiersfüßen zu wandeln begann.

Margarita Höhenrieder und Julius Berger kombinieren dieses Fragment mit der Bearbeitung eines anderen Fragments aus dem Herbst 1789, ebenfalls ein Adagio, diesmal 73 Takte lang und eigentlich für Englisch Horn, 2 Violinen und Violoncello komponiert, hier aber bearbeitet.

Als Wolfgang Mozart das zweite der eben gehörten Adagios komponierte, war sein Vater schon mehr als zwei Jahre lang tot. Seit Wolfgang 1781 nach Wien übergesiedelt war, hatten sich die beiden nur zweimal noch gesehen – einmal als Wolfgang mit seiner Frau Constanze, die der Vater als schlimme Mesalliance betrachtete, Salzburg besuchte, ein zweites Mal, als Leopold Mozart Anfang 1785 nach Wien kam. Danach war das Verhältnis so frostig geworden, wie man es sich nach den vielversprechenden Jahren der der Ausbildung niemals hätte träumen lassen. Zu dieser Ausbildung gehörte auch die einer adligen „Grand Tour“ nicht unähnliche Reise, die Leopold Mozart mit seinen beiden begabten Kindern, dem Sohn und der fünf Jahre ältere Tochter Nannerl, unternahm. Die Wunderkindreise führte die gesamte Familie Mozart zwischen 1763 und 1766 drei Jahre durch halb Europa, über München, Augsburg und Schwetzingen den Rhein hinauf bis nach Brüssel und Paris, von dort nach London und über Frankreich und die Schweiz wieder zurück nach Salzburg. Sie eröffnete ihm selbst und den Kindern Horizonte, die weit über die Kirchtürme von Salzburg hinausreichten. Anders als bei einer Grand Tour mussten die Mozarts das Geld, das eine solche Reise kostete, selbst erwirtschaften. Mit den Konzerten, die die Kinder vor den Augen und Ohren einer staunenden Öffentlichkeit gaben, war das freilich leicht, wenn auch nicht ohne organisatorische Mühen, zu bewältigen.

Schon immer hatte Leopold Mozart danach gestrebt, über den Tellerrand seiner kleinen, engen Welt in Salzburg hinauszublicken. Sein Interesse an dem Gedankengut der Aufklärung, wie es sich in seiner Violinschule artikulierte, war im streng katholischen Erzbistum Salzburg, wo seit der Vertreibung der Protestanten 1731/32 keine Andersgläubigen mehr lebten, keineswegs selbstverständlich. Dennoch suchte sich Leopold Mozart auch dort Möglichkeiten, sich die einschlägigen Bücher und Zeitschriften zu besorgen. Sein Augsburger Verleger und Freund Johann Jakob Lotter, selbst Protestant, nahm seine Bestellungen auf und schickte ihm, was er haben wollte. In Anbetracht der Tatsache, dass die konfessionelle Grenze im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation auch eine Kulturgrenze darstellte, die selten überwunden wurde, dass die Schriften der Aufklärung im katholischen Süden wenig Interesse fanden, dass der Sprachenstreit zwischen Lutherdeutsch und Jesuitendeutsch bis in Leopold Mozarts Lebenszeit hineinreichte, ist es mehr als verwunderlich, wie gezielt Leopold Mozart seine Freunde bei den Protestanten suchte – nicht nur in seiner bikonfessionellen Heimatstadt Augsburg, sondern vor allem in Mitteldeutschland, wo er mit Geistesgrößen wie Christian Fürchtegott Gellert oder Lorenz Mizler Kontakte pflegte, Christoph Martin Wielands Weimarer Teutschen Merkur las, Johann Christoph Gottscheds Bücher kaufte.

Dabei haben Fragen der Religion und insbesondere der Konfession Leopold Mozart sein gesamtes Leben lang begleitet. Leopold Mozart war ein gefestigter Katholik, der an seinem Glauben auch dann nicht zweifelte, wenn er die Auswüchse katholischen Schlendrians kritisierte. Über Andersgläubige verlor er in seinen Briefen allerdings nie ein böses Wort. Auf seinen Reisen staunte er immer wieder über die konfessionelle Vielfalt und ihre Auswirkungen. Aus Schwetzingen, der Sommerresidenz des pfälzischen Kurfürstenpaares, schrieb er nach Salzburg:

„19. Juli 1763. wir sind nun wirklich immer in orten, wo 4 Religionen sind. nämlich Catholisch, Lutherisch, Calvinisch, und Juden. Schwetzingen ist ausser der Menge der Hofleute meist Calvinisch; Es ist nur ein Dorf, hat 3 Kirchen, eine Catholische, lutherische und Calvinische: und so ist es durch die ganze Pfalz. Merkwürdig ist, daß wir von Wasserburg aus bis itzt kein Weichbrunnkrügl nimmer in unserm zimmer hatten. denn wenn die Örter gleich Catholisch sind, so bleiben derley sachen doch schon weg, weil viele Lutherische fremde auch durchreisen. und  folglich sind die zimmer schon so eingericht, daß alle Religionen darinn wohnen könnten. Man sieht auch in den Schlafgemächern selten etwas anders als ein paar Landschaften oder das Portrait eines alten Kaysers etc: gar selten ein Crucifix. die fastenspeisen bekommt man sehr hart, sie machen solche auch sehr schlecht denn alles frisst fleisch; und wer weis was sie uns gegeben haben. Basta! Wir haben keine schuld! unser gastgeb hier ein Calvinist. gut, daß es nicht lange dauert.“

Als er dann rheinabwärts nach Mainz kam und dem Mainzer Kurfürsten und Erzbischof die Grüße seines Salzburger Amtskollegen überbrachte, und später dann nach Koblenz, war er über die Nachlässigkeit erstaunt, mit der die Mainzer ihren Glauben lebten:

„26. September 1763. Ja ich muß sagen, daß ich in der That mich sehr gewundert über die Lauigkeit, und schmutzige, nachlässige und recht bäuerische Art, mit welcher die Kirchen Ceremonien in Maynz und Coblenz gehalten werden. Es ist kein Wunder, wenn es den Lutheranern, Kalvinisten und Juden, mit denen diese gegenden angefüllt sind, mehr zur Ärgerniß als zur Auferbauung dienet. In Maynz und Coblenz selbst sind zwar keine Lutheraner, noch Calvinisten: aber destomehr Juden, Sie kommen aber genugsam dahin, ihrer Verrichtungen halber, und es ist nur der Umstand, daß Sie alda nicht ansässig sind; weil in den gegenden die meisten Örter aus Menschen von 4. auch 5.erley Religionen bestehen, mit einem Worte! unser Hof ist wirklich ein zweyter Römischer Hof, und unser gnädigster Erzbischof ein anderer Pabst.“

Das Nebeneinander der Konfessionen wurde nicht weniger, je weiter sich die Mozarts von Salzburg entfernten. Vor allem in London ging es diesbezüglich hoch her. Leopold Mozart führte viele Gespräche über Religion mit zahlreichen Menschen aus unterschiedlichen Ländern, und er sah sich, mit gespielter Verzweiflung, schon als Missionar für den katholischen Glauben in London. Inzwischen hatte sich seine Verwunderung über die vielen unterschiedlichen Konfessionen und ihre so unterschiedlichen Gebräuche etwas gelegt. Aber eine Taufe, bei der er Gast war, weil seine Frau als Patin gebeten wurde, schien ihm denn doch der Erwähnung wert:

„19.3.1765. Die Merckwürdigkeit dieser taufe besteht darin, dass der Vater des Kindes gar keine Religion hat, und seine gründe nur darinne bestehen, dass man Gott anbethen, ihm und seinen Nebenmenschen lieben und ein ehrlicher Mann seyn müsse. Die Mutter, die gegenwärtig war, ist eine Calvinistin, und hält ihre Religion noch so ziemlich. Der Herr Gevatter ist lutherisch, und die Jungfrau Gevatterin Calvinisch, meine Frau als die 2. Weibliche Gevatterin eine gut catholische Salzburgerin, und der Herr Pastor, der hier Minister genennet wird, ist englischer Religion. Wie gefällt Ihnen diese Tauf Compagnie? Für uns Catholischen war bey der Tauf selbst nichts ungewöhnliches; denn der Glaub in Gott, und das Vatter unser, so hier gebethet wurde ist nach der englischen Kirche von Wort zu Wort, wie bey uns. Aber die Lutheraner und Calvinistin musten etwas ihnen ungewöhnliches mitmachen, nämlich mit uns allen niederknien, dann in der englischen Kirche wird kniend gebethet. War es nicht schade, daß nicht auch noch ein Jude, wenigst in der Compagnie war?“

Dass aber die Religionsübung in katholischen Landen ernsthafter und besser sei, konnte Leopold Mozart denn auch nicht feststellen. In Mailand, wo er sich mit seinem Sohn Anfang 1770 aufhielt, gefielen ihm weder die Gottesdienste noch der Umgang mit dem Beginn der Fastenzeit. An seine Frau in Salzburg schrieb er:

„10. Februar 1770. du must dir nicht einbilden, daß ich dir eine Beschreibung der hiesigen Andachten machen werde; ich könnte es für Ärgerniß nicht thun: alles bestehet in der Musik, und im kirchen aufputz, das übrige ist alles die abscheulichste Ausgelassenheit.“ … „Se : Ex: Gr: Firmian wollen in der ersten fastenwoche eine grosse Accademie für die Damen in seinem Hause geben: und es sind noch andere Sachen auszumachen. Hier isst man morgen und donnerstags noch fleisch, alle tag ist opera und Ball, und am Samstag der Letzte. dieses ist nach der Ambrosianischen Kirchen Ordnung, und so lebt die ganze Statt. In den Clöstern aber hält man die Römischen Gebräuche, und fängt die fasten am Aschermitwoche an. Es lauffen aber am Ascher Mittwoche und donnerstage alle Geistl: aus den Klöstern zu ihren bekannten in die Statt und laden sich zum fleischessen ein. wie gefällt es? ò, mit der zeit werde dir hundert dergleichen schöne sachen erzehlen, die gar nicht auferbäulich sondern höchst ärgerlich sind.“

Am schlimmsten aber war es in Neapel – eine wunderschöne Stadt mit blühenden Landschaften in der Umgebung, wenn nur das „gottlose Volk“ nicht gewesen wäre:

„9. Juni 1770. „die Lage dieser Statt gefällt mir täglich besser, und die Statt überhaupts ist nicht übl; wenn das Volk nicht so gottloß und auch gewisse Leute nicht so dumm wären, die sich es sonst nicht einfallen lassen, daß sie dumm sind. und der Aberglauben! – – dieser ist hier so eingewurzelt, daß ich sicher sagen darf, daß hier eine völlige Ketzereÿ eingerissen, die man mit gleichgiltigen Augen ansiehet. […]

Den erschrecklichen aberglauben und die Menge der gottlosisten abgöttereÿen, so das hiesige Volk hat, könnte dir hier in kürze nicht beschreiben. […] du must aber nicht unter dem Volk die Lazaroni allein verstehen, nein! auch Leute von distinction sind voll des aberglaubens. ich werde dir genug zu erzehlen wissen. und es ist eben nichts kleines, wenn du hörest, daß iemand zu Gott rufft; Gott wolle den heil: Januarium bitten, daß er dem Menschen in diesem oder jenem zufall helfen solle.“

Dass den Musiker Leopold Mozart die Fragen des Glaubens zeit seines Lebens so umtrieben, dass er kaum zu bremsen war, wenn er sich über Fragen der Religionsübung, der Fastenspeisen oder des Aberglaubens ereifern konnte, mag mit seiner frühen Erziehung zusammenhängen. Leopold Mozart, im November 1719 in Augsburg geboren, war der älteste Sohn eines Buchbinders, der ihm große Bildungschancen eröffnete, indem er ihn in die Obhut der Jesuiten gab. Auf dem Augsburger Jesuitengymnasium St. Salvator lernte Leopold Mozart Latein und Griechisch, Grammatik und Rhetorik, Geografie und Mathematik. Und er machte in den sechs Jahren seiner Gymnasialzeit eine Karriere als Theatersänger. Denn die Jesuiten führten jeweils am Ende der Schulzeit ein Theaterstück auf, in dem die Schüler der Öffentlichkeit ihre Fortschritte im Deklamieren oder Musizieren vorstellen konnten, und Leopold Mozart trat schon, bevor er in die Schule kam, mit knapp fünf Jahren in einer kleinen Statistenrolle dort auf. Am Ende seiner Schulzeit brillierte er in einer musikalischen Hauptrolle. Dennoch begann er danach nicht etwa eine Musikerlaufbahn, sondern ein Studium im Jesuitenseminar.

Was mögen sein Vater und seine Lehrer mit diesem begabten Jungen vorgehabt haben? Einiges deutet darauf hin, dass es die Priesterlaufbahn war, die von ihm erwartet wurde – nichts Ungewöhnliches in einer Zeit, in der die Kirche zu den wichtigsten Arbeitgebern gerade für diejenigen gehörte, die nicht mit einem goldenen oder auch nur silbernen Löffel im Mund geboren worden waren. Wenn man denn bereit war, ihre Regeln zu akzeptieren – und zu diesen gehörte, allem voran, die Ehelosigkeit, mehr noch als der unbedingte Gehorsam. Die Heerschar von Abbés, die irgendwann die Niederen Weihen erlangt hatten, ohne danach Priester zu werden, verdiente sich vor allem als Hauslehrer und Ratgeber, Sekretär oder Schriftsteller, Dichter oder Komponist den Lebensunterhalt. Sehr fromm scheint es dabei nicht immer zugegangen zu sein – auch Giacomo Casanova und Lorenzo Da Ponte, die beiden legendären Abenteurer und Frauenhelden, letzterer darüber hinaus Wolfgang Mozarts wichtigster Librettist, hatten ihre Laufbahn als Abbé begonnen.

Doch es scheint, als habe Leopold Mozart schon früh gewusst, dass er nicht zum Geistlichen geboren war. Bevor er freilich diese Diskussionen mit seinem Vater führen konnte, starb dieser Anfang 1736, und es dauerte nicht lange, bis Leopold Mozart Anfang August um seine Entlassung aus dem Seminar bat. Wir kennen die Gründe dafür nicht. Es mögen wirtschaftliche gewesen sein. Obwohl die Jesuiten von ihren Zöglingen kein Schulgeld verlangten, könnte doch Leopolds Arbeitskraft in der Buchbinderwerkstatt des Vaters nun gefehlt haben. Oder vielleicht erhöhten seine Lehrer den Druck auf den Sechzehnjährigen, Priester zu werden? So zumindest verrieten es Leopolds Schulkameraden seinem Sohn, als dieser 1777 auf dem Weg nach Mannheim und Paris in Augsburg Station machte und sich von den alten Bekannten des Vaters so manche Geschichte aus dessen Jugendzeit erzählen ließ. Und nur so ließe sich auch der Wortschwall erklären, mit dem Leopold Mozart 30 Jahre nach seinem Abgang aus dem Seminar in einem Brief aus Paris an seinen Freund Lorenz Hagenauer in Salzburg von einem Menschen berichtete, den die allzu frühe Entscheidung, Priester zu werden, unglücklich gemacht hatte.

„16. Mai 1766. wir haben einen Salzburger in Amsterdam getroffen, welcher wegen gewissen Umständen calvinisch geworden. Ich wünschte nichts mehrers, als ihn wieder auf einen bessern weg zu bringen…. Grosser Gott! mit was für einer Verwirrung verließ er uns! das bitterste weinen verhinderte ihn zu sprechen. Wie viele unruhige und Gedancken volle Stunden verursachte mir nicht dieser Mensch! Dieß sind die Früchten, wenn man die Jugend zu der Erwählung eines Standes beredet, die wieder ihren Beruff sind. Betrübte Folgen! – Ich bin durch so viele Beyspiele die ich auf meinen Reisen erfahren in meiner iederzeit gefasten Meinung bestättigt worden, daß es sehr übl, ja recht Seelenverkäufferisch gehandlet ist, junge leute vor ihren 25.ten Jahr zur ablegung eines Ordensgelübt zu lassen….. O ich kenne viele, die im ledigen Stande sind; die gar die Religion nicht verändert haben, und die überhaupts eine höchst auferbauliche Lebensart führen…. Nehmen sie mir meinen Eyfer nicht üb:; ich liebe die Menschen und ihre Ruhe: und mein Herz ist beklemmet, wenn ich einen Menschen sehe, der auf seine ganze Lebenszeit soll elend und geplagt seyn, und noch überdaß eine unglückselige Ewigkeit zu erwarten hat.“

Auch das Seelenheil seines Sohnes lag Leopold Mozart immer am Herzen. Möglicherweise verzichtete er auf der großen Wunderkindreise auch auf eine Weiterfahrt nach Norden und Osten, nach Dänemark und Russland, weil ihm die Gefahr, dort seine Religion vielleicht nicht mehr leben zu können, zu groß wurde. Zwar begründete er den Verzicht auf diese Länder mit Dunkelheit und Kälte, die dort herrschten, doch dürfte auch die konfessionelle Verwirrung, der er seine Familie dort ausgesetzt hätte, ein wichtiges Argument gewesen sein. Von Psalmen und Gebetbüchern, von der Beichte und gefährlichen Freigeistern war auch die Rede, als Wolfgang Mozart mit seiner Mutter allein und ohne die Obhut des Vaters, im Herbst 1777 auf demselben Weg in Richtung Paris aufbrach, den die Familie auf der Wunderkindreise vierzehn Jahre zuvor schon einmal genommen hatte.

Im Oktober 1777, als Leopold Mozart seinem Sohn zum Namenstag gratulierte, war die Welt der Mozarts, das Verhältnis von Vater und Sohn, noch intakt. Das aber sollte sich bald ändern. Denn es bewahrheitete sich, was Leopold Mozart schon immer gewusst hatte: Dieser so überirdisch begabte Sohn war lebensuntüchtig, was die praktischen Dinge des Daseins angingen. Denn eines hatte Leopold Mozart seinem Sohn nicht beigebracht – sich selbst zu organisieren, Situationen und Menschen richtig einzuschätzen, mit Geld umzugehen. Solange Wolfgang seiner Fürsorge bedurfte, störte der Vater sich nicht groß an diesen Defiziten, die er sehr wohl bemerkte. In den Briefen von der italienischen Reise 1770 findet sich manche spitze Bemerkung über Wolfgangs Umgang mit den praktischen Dingen des Lebens. So entschuldigte sich Leopold Mozart bei seiner Frau in Salzburg dafür, dass er nicht alle Briefe beantwortet habe.

„du weist, wie es auf Reisen gehet, sonderheit: da ich Herr, Diener und alles bin.“

Und als Leopold Mozart später im Juli desselben Jahres wegen einer Verletzung am Bein länger das Bett hüten musste, wurde er in seinen Briefen deutlicher:

„Stelle dir einmahl unsre Hauswirtschaft vor, wenn ich nicht von der Stelle kann; du weist was der Wolfg: ist.“

Jahrelang blieb es bei spöttischen Bemerkungen dieser Art. Zum Konflikt kam es erst, als Wolfgang Ende 1777 zu der großen Reise nach Mannheim und Paris aufbrach, als Leopold Mozart von seinem Dienstherrn, dem Erzbischof Colloredo keinen Urlaub erhielt, seinen Sohn also nicht begleiten konnte und von Salzburg aus immer drängendere, immer wütendere Briefe schrieb, um den Sohn zur Vernunft zu bringen, der auf dieser Reise gerade begann, die unvernünftigen Seiten des Daseins zu entdecken – darunter einen ganzen Flor junger Damen, eine Münchner Schauspielerin, seine Augsburger Kusine Maria Anna Thekla, das berühmte Bäsle, mit dem er schlüpfrige Briefe austauschte, die musikbegabte Tochter des Mannheimer Konzertmeisters Rose Cannabich und die junge Mannheimer Sängerin Aloysia Weber.

Zum ersten Mal war Wolfgang ohne Aufsicht, ohne die Organisation, aber auch ohne die Kontrolle seines Vaters auf Reisen, nur mit der wohlmeinenden und unendlich geduldigen Mutter, und das Ergebnis dieser Reise war ein Desaster – finanziell, menschlich, karrieretechnisch. Leopold Mozart, der seinem Sohn zwanzig Jahre lang jeden Wunsch von den Augen abgelesen, jeden Stein aus dem Weg geräumt und sein Leben in den Dienst dieses Sohnes gestellt hatte, konnte sich nicht damit abfinden, ihn aus seiner Obhut zu entlassen und seinen eigenen Weg gehen zu lassen. So weit, so normal. Ein typischer Generationenkonflikt eben. Von Luftschlössern ist die Rede in den Briefen, wenn Wolfgang Mozart von einem Leben als fahrender Opernkomponist in Italien träumt, von Verantwortungslosigkeit, wenn er den Sohn ermahnt, nicht nur ans Vergnügen, sondern auch ans Geldverdienen zu denken:

„24. November 1777. So eine Reise ist kein Spaß, das hast du noch nicht erfahren, man muß andere wichtigere Gedanken im Kopf haben, als Narrenspossen, man muß hundert sachen vorauszusehen bemühet seÿn, sonst sitzt man auf einmahl im dreck, ohne Geld, – – und wo kein Geld ist, – ist auch kein freund mehr, und wenn du hundert Lecktionen umsonst giebts, Sonaten Componierst, und alle Nächte, statt wichtigern dingen, von 10 uhr bis 12 uhr Saureien machst.“

Fast flehentlich appellierte der Vater an bessere Zeiten. So schrieb er am 11. Februar 1778:

„Grosser gütiger Gott, die für mich vergnügten Augenblicke sind vorbeÿ, wo du als Kind, und Knab nicht schlaffen giengst ohne auf dem Sessl stehend mir das oragnia figatafa vorzusingen, mich öfters und am Ende auf das Nasenspitzl zu küssen, und mir zu sagen, daß, wenn ich alt seyn werde, du mich in einem Kapsel, wo ein Glaß vor, vor aller Luft bewahren wollest, um mich immer beÿ dir, und in Ehren zu halten.“

Der Sohn aber antwortete postwendend eine Woche später:

„Die Zeiten wo ich ihnen auf den Sessel stehend das oragna fiagata fà sang, und sie am Ende auf das Nasenspizl küste, sind freÿlich vorbeÿ, aber hat dessentwegen meine Ehrfurcht, liebe und gehorsamm gegen sie abgenommen? – – mehr sage ich nicht.“

Der Graben, der sich zwischen Vater und Sohn auf der Parisreise auftat, ließ sich nicht mehr zuschütten. Zwar kehrte Wolfgang Mozart Ende 1778 nach Salzburg zurück, zwar integrierte er sich dort als Mitglied der Hofmusik in das Leben in der Stadt, doch nutzte er die erste sich bietende Gelegenheit, dem verhassten Salzburg den Rücken zu kehren. Von nun an verstand der Vater den Sohn nicht mehr, und der Sohn hörte nicht mehr auf seine Vorhaltungen. Die letzten sechs Jahre im Verhältnis von Leopold und Wolfgang Mozart waren nichts als eine Qual. Zwar gingen pflichtschuldig noch einige Briefe zwischen Wien und Salzburg hin und her, doch von der gegenseitigen Achtung, von der Bewunderung des Vaters für die Begabung des Sohnes, von der Möglichkeit auch, sich wenn schon nicht in den Dingen des Lebens, so doch im Reden über Musik in der alten Gemeinsamkeit und Vertrautheit wieder zu finden wie etwa zuletzt in den Briefen über Idomeneo, konnte keine Rede mehr sein.

Um also ein bekanntes Wort von Loriot abzuwandeln: Väter und Söhne passen einfach nicht zusammen. Die Weltgeschichte ist voll von Vätern, die ihre Söhne beseitigen lassen, von Söhnen, die ihre Väter vom Thron stoßen. Und auch die Weltliteratur kennt Vater-Sohn-Konflikte zu Hauf. Die lange Liste reicht vom Alten Testament über die griechische Tragödie, über Shakespeare und Schiller bis hin zu Siegfried Lenz‘ Deutschstunde. Und selbst noch in den Science-Fantasy-Filmen der Star-Wars-Reihe wird das Ringen zwischen dunkler und heller Seite der Macht als Konflikt zwischen dem düsteren Darth Vader und seinem Sohn, der Lichtgestalt Luke Skywalker ausgetragen.

Die schmerzhaften Auseinandersetzungen, die gegenseitigen Verletzungen, die Gehässigkeiten und die bleierne Sprachlosigkeit, die das Verhältnis von Leopold und Wolfgang in den letzten Jahren bis zum Tod des Vaters im Mai 1787 vergifteten, hat Franz Xaver Mozart mit seinem Vater nicht erleben müssen – oder erleben können. Geboren Ende Juli 1791, war er gerade einmal vier Monate alt, als Wolfgang Mozart starb. Ein „wahrhaft sorgfältiger Vatter“ konnte dieser für den jüngsten Sohn nicht werden. Ja, es ist nicht einmal sicher, ob überhaupt er der biologische Vater war oder nicht vielleicht Franz Xaver Süßmayr, der in dieser Zeit Constanze Mozart zu ihren Kuren nach Baden begleitete. Dieses Gerücht kam früh auf und hält sich bis heute. Wolfgang Hildesheimer war sich nicht zu schade, genau nachzurechnen und den Geburtstermin mit Wolfgang Mozarts Reise im Herbst 1790 in Beziehung zu setzen, von der dieser erst so spät, Anfang November 1790, zurückkehrte, dass das Kind 17 Tage zu früh hätte geboren werden müssen, um Wolfgangs Kind und damit ein Produkt der Wiedersehensfreude hätte sein zu können. Wir werden dieses Rätsel nicht lösen können.

Tatsache aber ist, dass dieser Franz Xaver irgendwann von seiner Mutter nur noch Wolfgang Amadeus genannt wurde und von klein auf an zum musikalischen Erben seines Vaters erzogen wurde. Und obwohl er selbst eine sorgfältige musikalische Ausbildung von so namhaften Lehrern wie Johann Nepomuk Hummel, Antonio Salieri und Sigismund von Neukomm erhielt und sich zu einem achtbaren Komponisten entwickelte, lastete der Ruhm des Vaters zeitlebens auf ihm. Was für seinen Großvater gilt, sollte freilich auch ihm nicht verwehrt werden: Wir sollten sie als Persönlichkeiten eigenen Rechts wahrnehmen, und nicht nur als Vater seines Sohnes oder als Sohn seines Vaters. Der Vergleich mit Mozart – und damit ist natürlich immer Wolfgang Mozart gemeint – kann für niemanden gut ausgehen. Und ebenso wie Leopold Mozart verdient, auch ohne seinen Sohn wahrgenommen zu werden, hat auch Franz Xaver Mozart dies verdient, und das wollen wir uns jetzt, am Ende des Vortrags, anhören mit der Grande Sonate für Violoncello und Klavier, die 1820 gedruckt wurde, aber um 1815 schon entstanden war.

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