Einleitung
Suizidprävention wird vom Verein DIE ARCHE seit fünfzig Jahren in München geleistet. Die Fallgeschichten zu Ingeborg Bachmann und Ulrike Meinhof mögen helfen, die Herausforderungen zu verstehen, die in suizidalen Grenzsituationen des Lebens liegen können. Sie werden eingerahmt von ideengeschichtlichen Anmerkungen im Horizont von Hannah Arendt und Karl Jaspers. Denn die heute vieldiskutierte Philosophin und ihr Lehrer, der anfangs als Psychiater wirkte, eröffnen im Gedanken menschlicher Pluralität auch psychopathologische und existenzielle Dimensionen des Verstehens.
I.
Als Hannah Arendt 1948 ihre Essays zur verborgenen Tradition jüdischen Denkens veröffentlichte, schrieb sie auch eine „Zueignung an Karl Jaspers“. Sie dankte ihrem philosophischen Mentor für die Möglichkeit zum vertrauensvollen Gespräch, das ihr angesichts der jüngsten Geschichte geholfen hatte, nicht zu verzweifeln. Arendt nutzte das Bild der Sintflut und „der Noahs“, die in ihren Archen in den Fluten unterwegs sind: „Es gibt noch verhältnismäßig viele Noahs, die auf den Weltmeeren umherschwimmen und versuchen, ihre Archen so nah wie möglich aneinander heranzusteuern.“
Was Sie hier in München mit den Gesprächen in der Arche leisten, um die Katastrophen einzelner Leben zu verstehen, entspricht in der Sache der heilsamen Wirkung, die Arendt von ihren Gesprächen mit Jaspers unterstreicht. Ihre Arbeit verwirklicht etwas von dem, was Hannah Arendt als „existenzielle Kommunikation“ vor Augen stand, als sie in der desolaten Lage nach 1945 ihren ehemaligen Lehrer wieder ansprechen konnte. Auch sie zimmern kleine Archen des Verstehens, die in steigenden Fluten überleben lassen. Menschen fassen neuen Mut, die Verzweiflung über das Leben nicht herrschen zu lassen.
II.
Für eine gelingende Kommunikation im psychotherapeutischen Bereich sind nach Karl Jaspers zwei Kulturen des Verstehens nötig. Seine Allgemeine Psychopathologie beschrieb vor einhundert Jahren – parallel zur Psychoanalyse Sigmund Freuds – eine Form des psychiatrischen Verstehens. Wenige Jahre später entwickelte Jaspers an den Fällen kranker Künstler wie van Gogh und Hölderlin dieses weiter in eine Richtung, die auch den existenziellen Momenten ihres Schaffens gerecht zu werden versuchte. Während das psychologische Verstehen und das biologische Erklären psychischer Erkrankungen mit konkretem Wissen einhergehen, bleibt die existenzielle Dimension zuletzt uneindeutig. Man kann als Experte in Psychologie, Soziologie und Medizin gesichertes Wissen erlangen, das im Gespräch mit suizidalen Menschen enorm wichtig ist. Aber zudem ist auch das Verständnis weltanschaulich offener Horizonte wichtig, von denen Jaspers in Vom Ganzen des Menschseins, dem letzten Abschnitt seiner Allgemeinen Psychopathologie sprach. Dort richtet er den Blick auf ein philosophisch-existenzielles Verstehen, das Psychiater, Psychologen und Therapeuten – ironisch gesprochen – fachlich überfordern muss. Es verlangt eine Wahrnehmung religiöser, philosophischer und kultureller Aspekte unseres Menschseins, die über bloße Achtsamkeit hinausgeht. Es wird uns zugemutet, mit suizidalen Menschen über Fragen zu sprechen, die das rein Fachliche übersteigen und den Rückzug auf das objektive Wissen versperren.
Jaspers hat die Vielfalt der Verstehenshorizonte in seiner dreibändigen Philosophie prägnant beschrieben. Der erste Band Weltorientierung umreißt, in welchen wissenschaftlichen Grenzen wir gesichertes Wissen vom Menschen erlangen können. Im zweiten Band Existenzerhellung werden die Möglichkeiten des psychologisch Verständlichen nach innen erkundet. Der Mensch erfährt, wie gefährdet und ungesichert sein Selbstverständnis ist, das er meist über weltanschauliche Gehäuse stabilisiert. Von daher nähert sich der letzte Band Metaphysik religiösen, philosophischen und kulturellen Fragen nach Lebenssinn, die in aller Unsicherheit unseres Wissens eine individuelle Antwort verlangen.
Schon Kant sprach als Philosoph der Aufklärung vom „metaphysischen Bedürfnis“, das den Menschen dazu bringe, „regulative Ideen“ über letzte Lebensbezüge zu entwickeln, ohne diese sicher beweisen zu können. In dieser Tradition fordert Jaspers auch im psychiatrischen Denken auf, bei aufkommenden Sinnfragen Mut zu zeigen, nicht allein auf festes Wissen zu bauen, sondern mit den Patienten und Klienten in suizidalen Krisen auch beständig über nie eindeutig lösbare Fragen nachzudenken.
Mit anderen Worten: In der existenziellen Kommunikation wird das therapeutische Gegenüber, das selbst keine sicheren Antworten besitzt, mit Jaspers gesprochen, zum „Schicksalsgefährten“, der „von Freiheit zu Freiheit“ hört und spricht. So entsteht ein Gespräch, in dem zwei Kulturen des Verständnisses präsent sind: das wissenschaftlich-psychologische und das philosophisch-existenzielle Verstehen. Dieses lässt keine festen Antworten zu, aber benötigt gleichwohl einige Übung, eine persönliche Vertrautheit mit nur vagen Dimensionen des Menschseins, die in die Domäne der Religion, der Philosophie, der Kunst und Literatur gehören. Jaspers hat wie wenige darauf hingewiesen, dass wir ihnen gegenüber aufmerksam sein müssen, gerade wenn es um suizidale Krisen des Menschen geht.
III.
Vor diesem Hintergrund möchte ich zwei Fälle aus dem Bereich von Literatur und Politik vorstellen, bei denen die existenzielle Problematik des suizidalen Denkens und Verhaltens prägnant hervortritt. Sie entstammen meinem Versuch, unter dem Titel Die Verunglückten vergleichend Lebensläufe deutschsprachiger Intellektueller darzustellen. Diese können in Verbindung mit den Werken Fragwürdigkeiten des Lebens verdichten, die uns alle angehen, gerade weil der Mensch sich ihrer im Alltag alleine nie in der Schärfe bewusst wird.
Beginnen wir mit dem Fall Ingeborg Bachmanns. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg fast schlagartig als Dichterin bekannt und hatte zuvor in Wien über Martin Heideggers Existenzialphilosophie promoviert. Ihr Kerngedanke ist, dass sein Denken – aus wissenschaftlicher Perspektive betrachtet – nur „Scheinfragen“ stelle. Diese seien nicht zu beantworten, aber der Mensch bedürfe ihrer, um das Leben in seiner Abgründigkeit zu verstehen. Weil eine argumentative Philosophie keine Antworten geben könne, seien Kunst und Literatur nötig, um das menschliche Selbstverständnis weiter zu erhellen. Bachmann begrenzte deshalb die Reichweite der Philosophie, indem sie auf Ludwig Wittgenstein und seinen Tractatus Logico-philosophicus hinwies: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
Wie kann bei dem philosophischen Schweigen aber die Kunst sprechen? Bachmann ging der Frage vor genau fünfzig Jahren nach, als sie in Frankfurt die erste Poetik-Vorlesung hielt. Sie schrieb, als hätte sie Jaspers´ Trennung von wissenschaftlichem und existenziellem Sprechen aufgenommen, das immer über die Weltorientierung hinausgeht: „Es gibt in der Kunst keinen Fortschritt in der Horizontalen, sondern nur das immer neue Aufreißen einer Vertikalen und die verändernde Wirkung, die von neuen Werken ausgeht, erzieht uns zu neuen Wahrnehmungen, neuen Gefühlen, einem neuen Bewusstsein.“ Dass es in der Kunst keinen sachlichen Fortschritt voranschreitenden Wissens gibt, ist eine kluge Selbstbeschränkung. Aber in der Vertikalen, dem Vagen können Werke eines poetischen Denkens zu neuen Wahrnehmungen, neuem Bewusstsein erziehen. Das heißt dichterische Werke sind solche, die erlauben, Dinge neu zu deuten, neu sehen.
Der Dichter, dem die Frankfurter Worte besonders gelten, ist Paul Celan, dem Bachmann leidenschaftlich verbunden war. Seine Gedichte gehen von der Geschichte aus, die wir erleben, aber erfüllen sich nicht in ihrem Horizont. Die Dichtung stellt vielmehr vertikale Fragen angesichts dessen, was im 20. Jahrhundert an Ungeheuerlichem geschehen ist. Wenn Bachmann vom Dichter schreibt, der „wirklichkeitswund und wirklichkeitssuchend“ sei, kommt die existenzielle Betroffenheit ihres Freundes zum Ausdruck, der seine gesamte Familie im Holocaust verloren hatte. Sie bezieht sich auf das Gedicht Engführung, das über dem Unglück gleichwohl ein poetisches Zeichen der Hoffnung aufrichtet. Die Menschen, an der Lagermauer zur Erschießung zusammengetrieben, richten noch im letzten Moment ein Gebet gen Himmel: „Ein Stern strahlt noch von Licht. Nichts, nichts ist verloren.“ Diese letzten Zeilen des Gedichtes zitiert Bachmann in ihrer Poetik-Vorlesung. In der scheinbar totalen Vernichtung bieten die dichterischen Worten noch einen Streifen Hoffnung: „Nichts, nichts ist verloren.“
Blickt man auf das biographische Verhältnis zwischen Bachmann und Celan, so waren sie einander die große Passion des Lebens. Die zuletzt unglückliche Liebesgeschichte begann 1948 in Wien. Ihre Höhen und Tiefen lassen sich heute in spärlichen Briefspuren nachvollziehen. Celan lebte in Paris, Bachmann unter anderem in München. Höhepunkt ihrer Liebe war 1957 ein Treffen in Köln, von dessen ekstatischem Charakter das Gedicht Köln, am Hof zeugt: „Herzzeit, es stehen die Geträumten für die Mitternachtsziffer, verband, verloren, waren daheim.“ Das Gedicht preist den Moment des glücklichen Zusammenseins, einen Augenblick vollkommener Erfüllung, der nicht andauern kann. Bachmann hält sich in der Folge lebensklug auf Distanz zu Paul Celan, ahnend, dass es kaum möglich wäre, diese ekstatisch-vertikale Verbundenheit mit dem hochsensiblen Dichter in der Horizontalen weiter zu leben.
Tatsächlich kommt es nur wenige Jahre später zum endgültigen Zerwürfnis zwischen beiden, das in einer zunehmenden Entfremdung endet. Bachmann wendet sich in der Folge Max Frisch zu, der sich später wieder von ihr trennt. Sie begeht einen Suizidversuch. Die Dichterin sucht ekstatischen und exzessiven Trost in verschiedenen Lieben und flüchtigen Bekanntschaften, ohne dass eine von ihnen je die Qualität erlangt hätte, die im Verhältnis zu Paul Celan einmalig aufschien. Bachmann wird zeitweise klinisch behandelt, zumal sie einer schweren Tabletten- und Alkoholsucht verfällt. Ihre Rede Ein Ort für Zufälle, zum Büchner-Preis 1964 gehalten, beschreibt Berlin als topographische Metapher des großen Unglücks, das dem Einzelnen heute die Gesellschaft zufüge. Bachmann arbeitet mit Schablonen der aufkommenden Antipsychiatrie und betont die fatale Bedeutung der Männer für das weibliche Unglück, darin die eigene Erfahrung spiegelnd. Ihre Sätze schwingen sich zu einer moralischen Eindeutigkeit auf, die bei ihrer sonstigen Fähigkeit, Ambivalenzen darzustellen, verblüfft.
Die klare Trennung zwischen Opfern und Tätern erstreckt sich auf die beiden Länder Deutschland und Österreich. Dabei weiß man heute, dass ihr Vater in Klagenfurt schon vor 1933 Mitglied der Partei gewesen war, das heißt sich aktiv zu den kommenden Tätern zählte.
In ihrem letzten Buch, dem Roman Malina, arbeitet sich Bachmann 1971 an diesem familiären Konflikt der Täterschaft ab. Sie beschreibt mit der titelgebenden Figur, der Malina, eine Instanz der historischen Klarheit und reflektiert zugleich, dass solche Transparenz tödliche Folgen haben kann. Schon in der kurzen Erzählung Miranda hatte Bachmann zuvor den Konflikt zwischen lebenszerstörender Klarheit und vitalisierendem Vergessen in psychotherapeutischer Hinsicht beschrieben. Diese Lösung wird inkarniert von der Figur der Miranda, der sich Verwundernden. Entlang von Vorstellungen des eigenwilligen Arztes Georg Groddeck, der lebenstragende Illusionen als therapeutisch wichtig herausgestellt hatte, gleicht Miranda ihre – metaphorisch bedeutsame – Kurzsichtigkeit meist nicht durch eine Brille aus. Sie will das Elend ihres Lebens nicht deutlich erkennen müssen. Miranda zahlt für ihr aktives Verleugnen; ihr Leben misslingt zuletzt. Die Utopie des gelungenen Nichtsehens wendet sich am Ende ins Gegenteil. Die Kurzsichtigkeit zerstört durch das, was Miranda übersieht, ihre Partnerschaft und damit ihr Leben.
Die Zerstörungskraft des selbstvergessenen Lebens entwickelt Bachmann als Problematik am deutlichsten in Malina, dem einzigen Werk, das aus dem Zyklus der Todesarten je erschien. Malina, die Figur, die dem Buch den Namen gibt, ist die aufklärerische Instanz, als solche nicht zufällig Militärhistoriker. Das andere Gegenüber des Ich, Ivan, steht in dem Bewusstseinsroman für Momente des Glücks, die Fähigkeit, im ekstatischen Zusammensein die unglückliche Welt zu vergessen. Es geht um einen Ausnahmezustand, den „anderen Zustand“, den Bachmann schon in frühen Essays zu Robert Musil gefeiert hat. Ivan ermöglicht in dem aufgeklärten Leben Momente des Herausstehens, die Injektionen von Liebe. Kunstvoll spiegelt Bachmann in den inneren Monologen das zerrissene Bewusstsein des Ich, das zwischen Aufklärung und Vergessen zu wählen hat. Bis zuletzt lässt das Ich immer wieder die Einsicht in das Unglück hinter sich, um glücklich mit Ivan zu leben.
Die herbe Realität geht in Alpträume über, in der Vater-Figuren und Lagerbilder prominent sind. Im biographischen Horizont kann man darin auch den Konflikt mit dem Vater erkennen, der sich zu den Nationalsozialisten zählte. Der Einzige, der die Präsenz des allgegenwärtigen Vaters bannen kann, ist die Figur des „Fremden“, in der Paul Celan zu erkennen ist. Er hatte sich 1970, vor Abschluss des Buches, das Leben genommen, so dass Bachmann noch Passagen in den Roman einfügen kann, die ihre Liebe und sein Sterben als erfüllte Passion andeuten. Nur dieser Traum kann im Roman die väterliche Gewalt für Momente bannen. Aber es gibt keine Dauer für die erfüllte Lebenswelt, die das Ich in den elegischen Erinnerungssequenzen vergegenwärtigt.
Am Ende des Romans nehmen die Injektionen von Liebe ab, die ihr Ivan schenkte. Die Aufklärung nimmt zu und zuletzt steht der monumentale Satz: „Es war Mord.“ Die Ich-Figur verschwindet in der Wand: Es bleibt vollkommen offen, wie das passiert, aber die Aufklärung führt sozusagen in die Vernichtung des Ich. Es folgt dem Tod des „Fremden“, der auf dem Transport ertrunken sei. Das persönliche Unglück wird im großen Unglück des Holocaust geschildert, dem zuletzt Celan erlag, als er sich in der Seine das Leben nahm. Dass es im Werk, auch in Miranda, immer wieder Szenen der Verbrennung geschildert werden, lässt sich aus dunklen Ahnungen Bachmanns verstehen. Sie erlag im Herbst 1973 nach Wochen im Krankenhaus dem Verbrennungstod, ausgelöst von einer Zigarette, die sie unter Tablettenwirkung dösend im Bett geraucht hatte.
So erfüllten sich in ihrem Leben auf zufällige Weise die suizidalen Fantasien ihrer Protagonisten, deren Bewusstseinszustände auch etwas von Bachmanns innerer Dynamik abbilden. Aufklärung ist demnach, wenn sie konsequent durchgeführt wird, etwas Vernichtendes. Aber die andere Seite, die Liebe, muss zu kurz greifen, sie gelingt nicht auf Dauer, und das ekstatische Abenteuer wirkt selbstzerstörerisch. Therapeutisch waren Bachmanns philosophische Lebensfragen nicht zu lösen. Sie war nicht bereit, pragmatisch zu handeln, sondern wollte die Fragwürdigkeit der Realität zwischen Aufklärung und Illusion ausleben.
Sich ihr Leben und Schreiben zu vergegenwärtigen, kann helfen, den notwendig begrenzten Horizont therapeutischen Handelns anzuerkennen, der um des Überlebens willen die Abgründigkeit der Wirklichkeit übergehen muss. Die Offenheit für die existenzielle Dimension des Lebens schafft einen wichtigen Resonanzraum. In diesem kann die Lebensproblematik zur Sprache kommen, die nicht aufzulösen ist, aber im Überleben vielleicht verwandelt werden kann. Die Dichtung ist ein Versuch, der Bachmann über lange Zeit half, mit der inneren Not zu leben.
IV.
Anders ist der politische Fall der Ulrike Meinhof gelagert. Die Gründung der Münchener Arche im Jahr 1969 fällt in die Zeit, da sich die bekannte Journalisten zunehmend in Kreisen der Berliner APO radikalisierte. Begonnen hatte Meinhof fünfzehn Jahre vorher als herausragende Studentin der Pädagogik, Kunstgeschichte und Philosophie. Die Semesterberichte an die Studienstiftung des deutschen Volkes zeigen ihre feinfühlige Ambivalenz, die kaum die Entwicklung zu einer gewaltbereiten Terroristin ahnen lassen. Diese verlief, so meine Kernthese, über die von Meinhof anfangs gepflegte offene Kommunikation in kleinen Zirkeln, die zunehmend politisch geschlossenere Formen annahm, so dass eine stufenweise Radikalisierung ihres Denkens und Handelns folgte.
Am Anfang des Weges stand die apolitische Protestantin, die als Marburger Studentin sehr aktiv in religiösen Kreisen war, bevor sie aufgrund ihres rhetorischen Talents in der Anti-Atom-Bewegung an der Universität Münster rasch ins Zentrum politischer Zirkel rückte und ihre religiöse Innerlichkeit weit hinter sich ließ. Über die Hamburger Zeitschrift konkret geriet sie später in Bohème-Kreise um ihren Mann Klaus Rainer Röhl. Ebenso waren in den bürgerlicheren Kreisen Joachim Fest und Marcel Reich-Ranicki von ihrer Intellektualität fasziniert. Als die Ehe zerbrach, tauchte Meinhof 1966 in die studentische politische Szene um Rudi Dutschke, bis sie in Berlin Andreas Baader und Gudrun Ensslin kennenlernte.
1970 wurde sie plötzlich bei der Befreiung Baaders von einer Sympathisantin zur Terroristin, als sie sich entschied, mit ihm zu fliehen. Der Sprung in die Illegalität veränderte ihr Leben vollkommen. Ab diesem Augenblick herrschte immer mehr eine hermetisch geschlossene Form der Kommunikation, in der Meinhofs ureigene Fähigkeit, ambivalent zu sein, nicht mehr erwünscht war. Der Druck von innen wie von außen wurde 1972 nach der Verhaftung immer stärker. In der ideologischen Hermetik war nun ein verschärft eindeutiges Denken und Verhalten verlangt. Es kam in der gemeinsamen Gefängniszeit auch zu Formen der gegenseitigen Selbstzerfleischung der Inhaftierten. Meinhof galt als bürgerliches Hätschelkind, die ihre intellektuelle Brillanz und Ambivalenz verdächtig gemacht hatte. Die erhaltenen Zellenkassiber zeigen ein übereindeutiges Verhalten, das bis hin zur Selbstbezichtigung schlimmster Art reichte.
Im Mai 1976 spitzte sich die Lage noch zu, nachdem im Stammheim-Prozess die Rede auf das Attentat auf das Hamburger Springer Verlagsgebäude gekommen war, bei dem Ulrike Meinhof federführend gewesen war und Arbeiter schwere Verletzungen davongetragen hatten. Gudrun Ensslin distanzierte sich von ihr und hatte sie schon zuvor als „Messer im Rücken der RAF“ bezeichnet. Um ihre Integrität zu beweisen, blieb Meinhof nur der Weg in den Tod. Sie erhängte sich wahrscheinlich selbst, auch wenn der Suizid vielfach angezweifelt wird.
Blickt man von ihrer Biographie auf das Geschehen, so kann man wiederum ein inneres Gespräch mit der väterlichen Welt feststellen. Werner Meinhof war ein an sich unpolitischer Christ gewesen, der um der Karriere als Kunsthistoriker willen bald nach 1933 Parteimitglied geworden war und im Sinne von Luthers Zwei-Reiche-Lehre dem Staat äußerlich gehorchte, während er sich innerlich auf Abstand hielt. Meinhof hatte die intellektuelle Seite des Vaters geerbt, sprach in den Studienberichten oftmals von ihm und der religiösen Innerlichkeit, wie sie in Kunstwerken sich zeige. Aber in ihrer Radikalisierung nahm sie zuletzt einen anderen Weg, der im politischen Protestantismus des Thomas Müntzer vorgezeichnet war. Dieser hatte nicht das Reich Gottes als fernen Trost sehen wollen, sondern mit seinen Bauern 1525 mit dem Opfer des eigenen Lebens göttliche Gerechtigkeit jetzt erlangen wollen. Man kann sagen, dass Ulrike Meinhof in diesem Sinne mit ihrem eigenen Tod in einer Zeit der internen Vorwürfe ein Zeichen der radikalen Entschiedenheit hatte setzen wollen.
Dass sie seit den frühen Studienjahren für Passionsgeschichten eine besondere Sympathie empfand, zeigen ihre Briefe. Nun verabschiedete sie die ästhetische Sublimierung und machte das eigene Leben zu einer politischen Passionsgeschichte, deren tiefere Motivik nicht ohne ihre religiösen Hintergründe zu verstehen ist. Die suizidale Dynamik zeugt von der Spannung, die Fragwürdigkeit einer unerträglichen Realität jetzt beantworten zu wollen, unfähig oder nicht willens, länger noch die eigenen Ambivalenzen auszuhalten. Die Religionsgeschichte, die Meinhof familiär bedingt vor Augen stand, bietet in Thomas Münzer ein berühmtes Beispiel für den Übergang in die tödliche Radikalität. Demnach stellt Gewalt nicht mehr ein Monopol des Staates dar, sondern sie kann auch von dessen Opfern angewandt werden, bis hin zur bewussten Autodestruktion.
V.
Ingeborg Bachmann und Ulrike Meinhof stehen für eine Wahrnehmung der Wirklichkeit, in der das persönliche Unglück sich im größeren Unglück der jüngsten Geschichte spiegelt. Als Philosophin hat Hannah Arendt den Zivilisationsbruch zunehmend beschrieben, der die jungen Intellektuellen beunruhigte und von der Vätergeneration lange mit Schweigen bedacht wurde. Obwohl sie in ihren Werken die Struktur totaler Herrschaft im 20. Jahrhundert untersucht hatte, ging Arendt nicht wie viele andere Intellektuelle von einer eindeutigen Theorie der Geschichte aus. Arendt war als Exilantin im amerikanischen Exil weder Teil der europäischen Linken, noch gehörte sie zu den Konservativen, die im Politischen eine entgegengesetzte Position mit großer Eindeutigkeit vertraten. Zwischen den polarisierten Lagern stand sie bis 1989 am Rand der philosophischen Wahrnehmung. Sie dachte nicht in großen Theorien, sondern vom Einzelnen her, von der Vielzahl möglicher Meinungen, die im politischen und privaten Raum sich artikulieren können.
Am Beginn ihrer amerikanischen Zeit und im Jahr 1975, als sie starb, verteidigte sie die Pluralität der Menschen im Blick auf die antike Figur des Sokrates. Er stehe gegen die philosophische Tendenz, in der unübersichtlichen Wirklichkeit eindeutige Wahrheiten und feste Werte vorzugeben, die uns orientieren könnten. Für Arendt war mit Blick auf den Skeptiker sehr deutlich, dass selbst der Philosoph keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit besitzt, sondern dass vorläufige Meinungen und Ansichten unser aller Schicksal sind. Wir können mit Sokrates nur sagen, wie die Welt uns jeweils erscheint, und uns darüber austauschen, ohne einer „tyrannischen Wahrheit“ zu folgen. Hannah Arendt sprach sogar davon, dass wir im Dialog mit uns selbst als solchen leben müssen, die mit sich eine Pluralität haben. Wir müssten uns als Menschen erkennen, die in sich verschiedene Ansichten zu vereinen haben.
Folgt man dem Menschenbild Arendts, so ist der Mensch innerlich und äußerlich umstritten. Er ist einer Vielfalt von Meinungen ausgeliefert, die ein hohes Vermögen von Ambivalenz voraussetzen. Die Pluralität gehört zu uns als modernen Individuen. Und der Dialog, das ist der interessante Gedanke bei Arendt, kann in gewisser Weise zur relativen Eindeutigkeit befreien. Denn im Gespräch bin ich herausgefordert, mich vorläufig für eine Meinung zu entscheiden, als eine Person zu erscheinen, auch wenn viele Optionen im Hintergrund noch präsent sein mögen. Im Angesicht des anderen trete ich im Gespräch als eine Person auf, auch wenn deren Gestalt mich nicht gänzlich ausmacht. Der Dialog bietet die Chance, situativ eine soziale Eindeutigkeit zu erlangen, so dass unsere Fähigkeit zur Ambivalenz entlastet wird.
Was heißt diese Idee von dialogischer Pluralität und sozialer Identität für das therapeutische Verhältnis? Es lohnt, an dieser Stelle nochmals zurück auf Karl Jaspers und seinen Gedanken der zwei Kulturen zu kommen. Mit der Kultur des wissenschaftlichen Wissens ist die Notwendigkeit verbunden, neue biologische, psychologische oder soziale Kenntnisse sich anzueignen, die gerade auch im Umgang mit suizidalen Menschen wichtig sind. Daneben ist es aber zum Verständnis des einzelnen Menschen und der weltanschaulichen Horizonte, an denen er seine Meinungen ausrichtet, wichtig, diese von Ideen geprägten Vorstellungen zu verstehen. Solches Verstehen reicht in existentielle, begrifflich schwer zu fassende Zonen des Lebens.
So steht neben der Kultur des fachlichen Wissens die Kultur des sokratischen Wissens, die gerade davon lebt, in Bereiche des Vermutens und Nichtwissens zu reichen. An diesen Grenzen berichten wir uns gegenseitig, wie uns die Welt erscheint, was wir meinen. Der Therapeut wird zum Schicksalsgefährten des Menschen, der suizidale Gedanken hegt, indem er die letzte Unlösbarkeit der Lebensfragen zugesteht und zugleich die Position des Fragenden als eine Chance begreift, damit umzugehen.
Sich in die Lebens- und Ideenwelt von Intellektuellen wie Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann oder Ulrike Meinhof zu versetzen, kann helfen, angesichts des großen Unglücks eine gedankliche Beweglichkeit zu erlangen. Sie gehört zur Kultur des existenziellen Verstehens, die wie das fachliche Wissen eine notwendige Bedingung des hilfreichen Gespräches mit suizidalen Menschen ist. Auch wenn man die brennenden Fragen nicht lösen kann, ist ihr genaues Begreifen ein dialogisches Ereignis, das Beziehung stiftet und Ambivalenz mindert. Eine geteilte Fragwürdigkeit ist eine halbe Fragwürdigkeit. Sie löst sich nicht auf, aber kann ihren allzu großen Schrecken verlieren. Wir müssen lernen, mit Nietzsche gesprochen, die Masken des Lebens zu verstehen, ohne sie ganz lüften zu können. Karl Jaspers sprach von der letzten Einsamkeit, in der jeder Mensch bleibe, ohne ihre Rätselhaftigkeit endgültig auflösen zu können, die dem geschichtlichen Leben innewohnt.