Wie wurden Menschen zu dem, was sie heute sind? Menschen sind so vielfältig, dass sie sich nur grob, sehr vereinfachend und ohne klare Abgrenzung beschreiben lassen. Versucht man eine exklusive Definition, finden sich immer Beispiele, die dieser nicht entsprechen und trotzdem von Menschen als ihre Mitmenschen anerkannt werden. Um zu verstehen, was wir sind und wie wir dazu wurden, müssen wir einen inklusiven und auf vielen Attributen aufbauenden Ansatz wählen. Da es Menschen nicht als von der Umwelt losgelöste Individuen gibt, müssen wir sie in ihrer Auseinandersetzung mit ihrer sozialen, materiellen und immateriellen Umwelt begreifen. Und Menschen und ihre Umweltbeziehungen wandeln sich, im Laufe ihrer Individualgeschichte, als Gruppen in historischen Zeiten und als Populationen in ihrer Entwicklungsgeschichte.
Wir müssen daher Einblicke in tiefe Zeiten suchen, um den menschlichen Weg bis heute zu verstehen. Fossilien von Menschen und Menschenähnlichen reichen viele Jahrmillionen zurück. Aus den Knochen und Zähnen und ihrem Fundkontext lassen sich etliche Verhaltensmuster ableiten. Ab einer Zeit vor etwas über drei Millionen Jahren vor heute kommen mit Werkzeugen, die aufgrund der Erhaltungsbedingungen meist aus Stein sind, weitere Quellen hinzu, die ein zunehmend detaillierteres Bild der menschlichen Vernetzungen erlauben. Ein wichtiger Begleiter dieser menschlichen Auseinandersetzungen mit der Umwelt ist ihre Entwicklung in einem historisch-sozialen und damit kulturellen Kontext. Blicken wir also zurück auf die für uns heute fassbaren Anfänge menschlicher Kultur, um einige der frühen Weichenstellungen auf unserem Entwicklungsweg zu entdecken.
Ein Rückblick
2,4 Millionen Jahre vor heute, irgendwo in Ostafrika. Stellen wir uns folgende Szene vor:
Eine Gruppe früher Menschen streift durch die Baumsavanne und hält nach Nahrung Ausschau. Die große Gruppe mit 25 Mitgliedern besteht aus Erwachsenen und Jugendlichen, Kindern und Älteren, Männern und Frauen. Sie tragen zum Teil Steine mit sich herum. Als sie einen Leoparden entdecken, der eine von ihm getötete Gazelle in einem Baum verzehrt, sammeln sie sich in der Nähe und beobachten ihn. Der Leopard hat seinen Hunger schon weitgehend gestillt. Die Menschen geben den Kindern die mitgeführten Steine, zuvor hergestellte Schneidgeräte, und sammeln Wurfgeschosse in der Umgebung. Mit lautem Geschrei beginnt die ganze Gruppe, Steine und Äste auf das Raubtier zu werfen, das nach einigen Minuten, von manchen Geschossen getroffen, genervt abzieht und den Rest seiner Beute im Baum zurücklässt.
Schnell klettern einige Menschen hoch und werfen den Kadaver herunter. Andere kommen hinzu und versuchen mit den Schneidwerkzeugen verwertbare Teile abzutrennen. Sie müssen sich beeilen, denn schon naht eine Gruppe Hyänen, die vom Geschrei angelockt wurde und ihnen die Beute streitig machen will. Mit größeren und kleineren Stücken der Gazelle, Fleisch und Knochen, ziehen die Menschen davon und überlassen den Konkurrenten den Rest. In einiger Entfernung an einem Ort mit gutem Blick lassen sie sich nieder. Das Fleisch wird zerteilt und die Knochen werden zerschlagen, um an das fettreiche Mark zu gelangen. Die Toleranz in der Gruppe ist groß; jede/r bekommt etwas ab. Während des Essens achten die Gruppenmitglieder immer wieder auf mögliche Konkurrenten.
Wir Menschenaffen
Die Menschen in der Szene gehören zu unserer Gattung Homo, deren früheste Vertreter bislang auf 2,8 Millionen Jahre datiert werden. Sie gingen aufrecht auf zwei Beinen und besaßen schon menschentypische Greifhände mit den Fingern gegenüberstellbaren Daumen. Die Menschenformen der Gattung Homo und ihrer ausgestorbenen nahen Verwandten, der Homininen (dazu zählen u.a. Australopithecus und Paranthropus) gehören zur Familie der Menschenaffen (Hominiden). Mit Gorillas, Orang-Utans, Schimpansen, Bonobos (Zwergschimpansen) und Gibbons teilen die heutigen Menschen, Homo sapiens, und frühere Menschenarten viele Gemeinsamkeiten, sowohl körperlich als auch im Verhalten (siehe Abb. 1).
Die Mitglieder der Familie der Menschenaffen sind sehr sozial. Sie leben in engen Paarbeziehungen wie Gibbons, bilden Harems mit dominierenden Silberrücken wie Gorillas, pflegen eine intensive und lange Mutter-Kind-Bindung wie Orang-Utans oder finden sich in immer wieder neuen Gruppen zueinander wie Schimpansen. Allgemein durchleben sie eine lange Kindheit bzw. Jugend, bis sie selbst ihre ersten Kinder bekommen. Diese lange Phase im engen sozialen Miteinander ermöglicht vielfältiges und intensives Lernen voneinander. Ihre lebenslange Neugier erlaubt es aber auch noch erwachsenen Menschenaffen sich Neues anzueignen. Junge lernen von Alten, Alte von Jungen: Gruppentypische Traditionen können sich über Generationen hinweg und quer zu ihnen herausbilden und damit ein Grundstein für Kultur legen.
Ressourcen und Werkzeuge
Homininen nutzen verschiedene Nahrungsressourcen von Früchten und Blättern über Insekten bis hin zu gelegentlichem Verzehr von Fleisch. Gorillas haben ausgefeilte Techniken ausgebildet, um z.B. Nesseln ohne unangenehmes Brennen essen zu können. Insbesondere Orang-Utans und Schimpansen entwickelten vielfältigen und raffinierten Gebrauch von Werkzeugen um stachelige Früchte zu öffnen, harte Nüsse zu knacken, beißende Ameisen zu angeln, Flüssigkeiten aufzusaugen und klebrigen Honig zu dippen. Neben dem Nahrungserwerb nutzen sie Werkzeuge zur Fortbewegung, als Regenschutz, zur Verteidigung, zum Imponieren, zur Untersuchung von Unbekanntem und vielem mehr. Für etliche Aufgaben werden Werkzeuge eigens hergestellt, für manche Unternehmungen von Schimpansen auch in Sets kombiniert. Die Werkzeuge erschließen neue Ressourcen für die Ernährung, bedürfen aber auch geeigneter Techniken zu Herstellung und Gebrauch sowie Rohmaterialien, die wiederum Ressourcen darstellen. All dies eignen sich die Tiere im sozialen Umfeld durch Teilnahme, Beobachtung und die durch das Tun anderer angeregte Praxis an. Und dies bildet das Fundament der kulturellen Entwicklung des Menschen.
Vom Informationsaustausch bis zur Basiskultur
Bei der Herausbildung der menschlichen Gattung Homo und ihrer Umweltbeziehungen spielen Erweiterungen kultureller Fähigkeiten eine wichtige Rolle. Kultur fängt weit vor Kunst, Musik, Religion und Philosophie an. Kennzeichen von kulturellem Tun (Performanz) sind die Entwicklung im sozialen Umfeld und seine Dauerhaftigkeit. Eine Grundlage bildet das Leben in sozialen Gruppen und das Aufnehmen von Informationen aus dem Verhalten der anderen, das das eigene Tun mitbestimmt. Vögel fliegen so im Schwarm, ändern die Richtung oder lassen sich gemeinsam nieder. Bei der Erweiterung zum sozialen Lernen zeigen Informationen, die im sozialen Umfeld erworben wurden, eine längere Wirkung auf das Verhalten über den Moment hinaus. Zum Beispiel erfahren Bienen beim Schwänzeltanz Hinweise auf vielversprechende Sammelgründe und suchen diese dann auf.
Eine nochmalige Erweiterung bilden Traditionen. Sie sind sozial erworbene Performanzen, die über Generationen fortbestehen und sich auch weiter entwickeln können. Ein berühmtes Beispiel ist das Süßkartoffelwaschen der Makaken auf der japanischen Insel Koshima: Von der jugendlichen Imo entdeckt, säuberten bald weite Teile der Gruppe das ihnen zur Verfügung gestellte Futter von Sand und behielten dieses Verhalten über Generationen bei. Auch die saisonalen Wanderwege von Huftieren wie z.B. Dickhornschafen sind nicht angeboren, sondern durch Teilhabe an den Wanderungen der älteren Tiere tradiert. Traditionen bieten durch erprobte und von vielen geteilte Performanzen einige Vorteile: Nicht jedes Individuum muss in gleichem Maße erfinderisch sein, das Risiko von schädlichen Versuchen wird verringert, und die Konkurrenz innerhalb der Gruppe wird reduziert. Kommen mehrere Traditionen zusammen und bilden ein gruppentypisches Muster, dann spricht man von einer Basiskultur, wie sie bei Menschenaffen, aber auch Walen und neukaledonischen Krähen ausgeprägt ist.
Das aus der Gruppe geschöpfte kulturelle Verhaltensrepertoire erlaubt eine Vielfalt und Wirkung des Tuns einer Population, wie es die einzelnen Mitglieder mit individuellen Handlungen nicht erreichen können. Im Laufe der letzten drei Millionen Jahre entwickelten Menschen darüber hinaus reichende kulturelle Ausdrucksformen und Möglichkeiten der Entwicklung. Lange Handlungsstränge wurden z. B. allmählich in verschiedene kleinere Module aufgebrochen, wodurch sich einzelne Elemente leichter verändern, in andere Zusammenhänge stellen und auch kombinieren ließen.
Wie funktioniert Kultur?
Kulturelle Äußerungen sind nicht nur sozial erlernte und über Generationen in der Gruppe beibehaltene Handlungen und ihnen zugrundeliegendes Wissen und Techniken, sondern auch ein Habitus in Form von Haltungen, Vorlieben, Rhythmen. Während Handlungen durch Abschauen und zielgerichtetes Ausprobieren oder durch den Prozess imitierendes Wiederholen, gegebenenfalls mit mehr oder weniger Unterstützung von Expertenindividuen, erlernt werden, werden die weniger greifbaren Kulturelemente des Habitus durch Teilhabe vermittelt. Ein Kind lernt durch Beteiligung, was seine Bezugspersonen essen, welche Wege sie einschlagen, wann sie weiterziehen oder ruhen, wie sie Furchteinflößendes einschätzen und darauf reagieren. Kultur ist also sozial erlernte und über Generation vermittelte Praxis im Umgang mit sich und der Umwelt, die sich aus vielen einzelnen Performanzen – Handlungen und Habitus – zusammensetzt.
Teil der Kultur sind auch die verschiedenen Umweltelemente, mit denen eine Gruppe auf eine kulturell geprägte Weise umgeht bzw. diese beeinflusst. Zu diesen Kulturaspekten gehören materielle Ressourcen wie Nahrung, Wasser und Rohmaterialien sowie immaterielle Ressourcen wie Techniken, Wissen und Gebräuche. Ergänzt werden sie durch Hilfsmittel und Helfer, aber auch durch Feinde und Konkurrenten sowie die unterschiedlichen Beziehungen zu ihnen. Werkzeuge und andere Artefakte stellen nicht nur ein Ergebnis von kulturellem Tun dar, sondern können als Medium weiteres Tun herausfordern und unterstützen. Eine lange Lernphase in Kindheit und Jugend schafft zusammen mit intensivem und tolerantem sozialen Miteinander die Möglichkeit, Traditionen aufzubauen. Ein vielfältiger Umgang mit verschiedenen Elementen der Umwelt z.B. auch im Umgang mit Werkzeugen erweitert die Bandbreite möglicher Traditionen.
Zukunftsweisende Entwicklungen
Um 3,4 Millionen Jahre alt sind erste Hinweise aus Ostafrika auf die Herstellung von Steingeräten und ihre mögliche Nutzung als Schneidwerkzeuge, um Teile von Tierkadavern abzutrennen (siehe Abb. 2). Auf der Menschenaffengrundlage und mit dem Impuls dieser Neuerungen erweiterte die Gattung Homo zwischen drei und zwei Millionen Jahren vor heute ihre kulturelle Praxis (Habitus, Handlungen, Ressourcen) und schuf damit neue Nischen im Zusammenleben mit anderen Arten. Waren die großen Raubtiere wie Löwen, Leoparden, Geparden, verschiedene Säbelzahnkatzen und Hyänenarten, aber auch Krokodile bis dahin vor allem gefürchtete Fressfeinde, verschoben sich ihre Rollen allmählich hin zu Konkurrenten um eine Ressource – Beutetiere. Im Wettbewerb um verwertbare Teile erlegter Tiere stehen untergeordneten Konkurrenten wie Wildhunden und Geparden – und zu ihnen zählen auch Menschen – verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Eine Strategie ist die räumliche oder zeitliche Vermeidung größerer und kräftigerer Beutegreifer, eine andere eine unterschiedliche Beutewahl. Durch den Transport von Beuteelementen kann eine Konfrontation vermieden werden, durch den lautstarken Einsatz einer großen Gruppe können Konkurrenten vertrieben und Beute gesichert werden. In beiden Fällen kann Werkzeugeinsatz hilfreich sein.
Eine neue ökologische Rolle
Menschen weiteten zwischen drei und zwei Millionen Jahren vor heute die Vielfalt und Flexibilität in ihrer Ernährung aus. Während sich in Ostafrika weitgehend offene Graslandschaften durchsetzten, waren die Bedingungen im südlicher angrenzenden Malawi-Riftsystem feuchter, und offene Wälder herrschten vor. Menschen nutzten beide Umwelttypen gleichermaßen und zeigten damit eine große Flexibilität und Vielseitigkeit in der Ernährung. Mit pflanzlicher Nahrung als Basis nutzten die Menschen Fleisch und Knochenmark verschiedener Land- und Wassertiere. Immer wieder erbeuteten sie Teile von Kadavern größerer Huftiere, von denen sie möglicherweise die eigentlichen Jäger durch aggressives gemeinschaftliches Verhalten vertrieben hatten. Durch den Abtransport von Teilen sicherten sie sich die Beute.
Für die savannenbewohnenden Menschen wird angenommen, dass sie in großen Gruppen mit etlichen Männern lebten, die sich gemeinsam gegen Raubtiere verteidigten. Gegenangriffe der Menschen zur Verteidigung haben sich schrittweise in Angriffe zur Erbeutung von Kadavern und kooperative Jagd gewandelt; der tierische Anteil der Ernährung nahm zu. Unter den Fleischfressern nahmen sie allmählich eine besondere Rolle ein. a) Sie jagten, erbeuteten und verteidigten die Menschen als soziale Beutegreifer gemeinsam in großen Gruppen und entwickelten wahrscheinlich auch eigene Mechanismen der Beuteverteilung. b) Sie nutzten, neben Fleisch, von anderen Tierarten wenig beanspruchte Beuteteile wie Knochen zur Markgewinnung. Gleichzeitig bildete eine breite pflanzliche Ernährung mit Früchten, Wurzeln und Samen eine sichere Grundlage. c) Sie gebrauchten die Menschen Werkzeuge zu verschiedenen Zwecken wie Ernährung (zum Schneiden, Zerschlagen, Graben, wahrscheinlich auch ähnlich Schimpansen zum Sondieren und Aufsaugen), Verteidigung und anderen (ähnlich wie andere Menschenaffen).
Gemeinsam sind wir stark und lernen
Die besondere Rolle der Menschen unter den Raubtieren der afrikanischen Savanne war durch ihr intensives Sozialverhalten in Verbindung mit zunehmendem Lernen in diesem sozialen Kontext geprägt. Durch gemeinsames und prosoziales Handeln in größeren Gruppen, etliche Männer inklusive, entwickelten sich engere Gemeinschaften mit höherer sozialer Toleranz, die wiederum das gemeinsame und prosoziale Handeln verstärkten. Durch zunehmende Gruppengröße und eine engere Gemeinschaft wurden die Möglichkeiten des Lernens in sozialem Umfeld erweitert. Und zu lernen gab es immer mehr: welche Nahrung geeignet und wo, wann, wie zu erlangen war und wie man dabei kooperierte, welche Werkzeuge dabei zum Einsatz kommen konnten, wo sich Material für Geräte finden ließ und wie es bearbeitet werden musste zum Beispiel. Die schneidenden Werkzeugformen aus Stein ließen sich erstmals nicht mit den Mitteln des eigenen Körpers herstellen, sondern nur mit Hilfe anderer Werkzeuge.
Beim Erwerb der zunehmenden Vielzahl an Wissenselementen und dazugehörenden Fertigkeiten half Lernen im sozialen Umfeld. Je mehr geduldet wurde, dass andere am eigenen Tun teilhaben, desto leichter konnten die Ergebnisse des Handelns oder auch der Handlungsprozess von diesen anderen aufgenommen werden. Wenn zu der Duldung auch noch Ermunterung, eine positive oder negative Rückmeldung oder sogar eine Hilfestellung oder Demonstration kommen, können mehr und kompliziertere Abläufe und Zusammenhänge erlernt werden.
Häppchenweise
In der Zeit zwischen drei und zwei Millionen Jahren vor heute entfaltete sich bei den Menschen eine Form des Tuns, die für unsere kulturelle Entwicklung bis heute richtungweisend ist. Handlungen wurden zunehmend in Häppchen aufgeteilt. Während Wurfgeschosse als Werkzeuge rasch dann vor Ort aufgeklaubt werden konnten, wenn ein Konkurrent vertrieben werden sollte, war es mit Schneidwerkzeugen aufwändiger. Neben einem Hammerstein wurde geeignetes Rohmaterial zum Abschlagen schneidender Stücke benötigt, und das lag nicht unbedingt direkt neben einer Beute, die schnell zerlegt werden sollte. Es war von Vorteil, wenn man die Materialien schon vorausschauend suchte, eventuell auch Schneidgeräte herstellte, ohne den zu zerlegenden Kadaver vor sich zu haben.
Dafür musste eine Handlung mit einem Zwischenziel (Schneidgerät herstellen > Werkzeug haben) zunehmend vom eigentlichen Ziel (Zerlegen eines Kadavers > Nahrungsaufnahme) entkoppelt werden. Das Unterteilen großer Handlungsstränge wie dem Zerlegen-eines-Kadavers-mit-einem-schneidenden-Werkzeug-und-allen-dafür-notwendigen-Vorbereitungen bot zusätzliche Möglichkeiten der Entwicklung, die die Menschen im Laufe der Zeit nutzten. Kleinere Häppchen, sogenannte Module, ließen sich leichter erlernen. Durch Verkettung mehrerer Module ließen sich kompliziertere Abläufe vollziehen, als wenn die gesamte Handlung von Anfang bis Ende durchdacht sein musste.
Da eine bestimmte Werkzeugnutzung nicht mehr direkt an ein bestimmtes Ziel gebunden war, erleichterte der Modulgebrauch außerdem Neuerungen im Verhalten durch Veränderung eines Moduls oder unterschiedliches Kombinieren. Und schließlich erlaubten die Module, einzelne kleine Elemente der eigenen Handlung an andere auszulagern. Kleine Häppchen wie das Tragen von Rohmaterial und Geräten konnten so z.B. auch von unerfahrenen Kindern übernommen werden. Durch ein zunehmendes Aufteilen einer Handlung auf verschiedene Individuen wurden Kooperationen erweitert, der Gemeinsinn nahm zu und das Voneinander-Lernen wurde erleichtert.
Braucht Kultur Vernunft, Sprache, Identität?
Grundlage von Traditionen und damit auch Kultur sind das Erlernen von Performanzen im sozialen Kontext und deren Fortführung über Generationen hinweg. Die Entwicklung kulturellen Tuns benötigt keine durchdachten Pläne zur Lösung klar definierter Probleme, sondern nur einen offeneren Umgang mit der materiellen Umgebung sowie mit dem sozialen Umfeld. Durch das Tun und die positive oder negative körperliche oder psychische Erfahrung seiner direkten Folgen kann sich eine Gewohnheit herausbilden, die sich durch Teilhabe in einer Gruppe ausbreiten kann. Ein tieferes Verständnis des Tuns ist keine Voraussetzung; das reflektierende Ziehen eines Sinns aus einer Performanz ist meist nachgeordnet und setzt auch bei heutigen Menschen oft erst nach vielfachen Wiederholungen von Erfahrungen ein. Die geistige Durchdringung einer kulturellen Performanz ist ebenso wenig Bedingung für deren Entwicklung und Erhaltung wie Sprache oder eine niederschwelligere verbale Kommunikation.
Ein gewisses Verständnis einer Handlung und Motivation oder aktive Unterstützung durch Gruppenmitglieder fördern das Erlernen, aber vieles kann auch ohne sprachlichen Beitrag übernommen werden. Je komplexer allerdings Handlungsstränge und je undurchsichtiger Wirkzusammenhänge in ihnen werden, desto hilfreicher wird eine differenzierte Kommunikation bei ihrer Übernahme durch ein anderes Gruppenmitglied. Für die Entwicklungsgeschichte menschlicher Kultur kann angenommen werden, dass sich sowohl Kognition als auch Sprache mit zunehmender Auseinandersetzung mit der materiellen und sozialen Umgebung langsam und graduell herausgebildet haben. Kognition, Kommunikation und kulturelles Tun befruchteten sich in diesem Entwicklungsprozess ständig gegenseitig.
Von dieser Koevolution betroffen ist auch die Wahrnehmung einer kulturellen Gruppenidentität. Bei Tierarten mit Basiskultur teilen sich verschiedene Gruppen unterschiedliche Verhaltensmuster, wobei oft eine gewisse Gruppenkonformität angestrebt wird: Einfach gesagt, die Gruppe bestimmt das Tun. Bis persönlich unbekannte Individuen nur aufgrund ihrer Traditionsmuster als Mitglieder der eigenen kulturellen Gruppe wahrgenommen werden, also das Tun die Gruppe bestimmt, ist es ein langer Weg. Und die prägendsten der vielfachen kulturellen Identitäten heutiger Menschen sind immer noch oft hauptsächlich durch die Gruppe und erst nachrangig durch das gemeinsame Tun bestimmt.
Kulturelle Evolution
Wie schon verschiedentlich im oben Gesagten anklang, bezeichnet kulturelle Evolution nicht nur die Veränderung des kulturellen Inhalts, sondern beschreibt auch die Entwicklung der Entwicklungsprozesse. Die Vorfahren der Menschen besaßen nicht einfach irgendwann ‚Kultur‘. Vielmehr bildeten sich die Faktoren und Mechanismen der kulturellen Entwicklung, wie wir sie aus heutiger Sicht sehen, erst im Laufe der Menschheitsgeschichte heraus. Durch den zunehmenden Umgang mit der materiellen und sozialen Umgebung wurden Prozesse ausgelöst, die über die Verbindung von individuellen Erfahrungen, gemeinschaftlichen Entwicklungen, Veränderungen der Lebenswelt und biologischer Evolution neue Wege für Menschen schuf. Ausgangspunkt für die Betrachtung der Entwicklungszusammenhänge soll die Entfaltung eines menschlichen Individuums sein, das über seine einzigartige Genkombination von mütterlicher und väterlicher Seite evolutionär bedingt und im Zusammenspiel mit Umweltfaktoren Organe und Funktionen ausbildet – Sinnesorgane, Nervensystem, Verdauungsapparat, Skelett, Blutkreislauf, Hormonhaushalt, aber auch Entwicklungslinien wie den ungefähren Ablauf der Lebensphasen und Möglichkeiten der Interaktion mit der Umwelt. Dieses Individuum macht bereits vor der Geburt Erfahrungen mit seiner physischen und sozialen Umwelt.
Schon seine früheste Entwicklung ist zwar einzigartig, aber nicht individuell im Sinne von losgelöst von einer Außenwelt. Kinder kommen nicht vollkommen naiv zur Welt; bereits in diesem frühen Stadium haben sie nicht nur Stoffe durch die mütterliche Versorgung aufgenommen, sondern auch soziale Erfahrungen gesammelt wie Nahrungsvorlieben, Rhythmen, Stress und Emotionen. Im Laufe seines Lebens macht das Individuum fortlaufend weitere Erfahrungen mit seiner Umgebung, die es Neues lernen oder schon Erlerntes festigen lassen. Dabei steht es kontinuierlich im Austausch mit seiner physischen und sozialen Umwelt und verändert diese: Ressourcen werden verbraucht und über Stoffwechselprodukte und Artefakte neu geschaffen; Traditionen werden übernommen und fortgeführt, durch neues Tun modifiziert oder aufgegeben; Beziehungen werden aufgebaut, erhalten oder unterbrochen.
Bei der kulturellen Evolution greifen drei Entwicklungsdimensionen mit unterschiedlichen Faktoren und Mechanismen ineinander. In der evolutionär-biologischen Dimension werden Gene in einer Population repliziert, mutieren und werden – durch die physische und soziale Umwelt – selektiert. In der individuell-ontogenetischen Dimension setzt sich ein Organismus mit seiner Umwelt auseinander, es werden Erfahrungen gemacht und neue Umgangsformen mit den Elementen der Umwelt entwickelt. Es wird wiederholt, Neues absichtlich oder unabsichtlich ausprobiert und gelernt.
Einschneidende Erfahrungen können nicht nur auf das künftige Verhalten Einfluss nehmen, sondern auch durch epigenetische Prozesse auf die Aktivierungszustände von Genen. In der historisch-sozialen Dimension werden von Individuen entwickelte Performanzen in einer Gruppe übernommen; es bilden sich Traditionen aus. Wird eine Neuerung (Erfindung, Invention) eines Einzelnen im Gruppenrepertoire aufgenommen, entwickelt sie sich zur Innovation. Innovationen sind allerdings häufig Gegenspieler von Traditionen, die durch das neue Verhalten verdrängt werden, weshalb Innovationen selten von allen Gruppenmitgliedern gleichermaßen willkommen geheißen werden und oft auch scheitern. Gleichförmige Verhalten von Gruppen in Traditionen verändern ihre Umwelt stärker als individuelles Verhalten, wodurch sowohl neue Erfahrungs- und Lern-, als auch Selektionsumgebungen entstehen.
Die drei Entwicklungsdimensionen können nicht für sich betrachtet werden, sondern sind miteinander und mit der Umwelt eng verwoben. Im Laufe der menschlich-kulturellen Entwicklungsgeschichte haben sich das Zusammenleben und Lernen in sozialen Gruppen intensiviert und damit auch die Mechanismen der historisch-soziale Dimension gewandelt. Durch ihre zunehmende Gewichtung und die dadurch hervorgerufenen Veränderungen der Umwelt wurde das gesamte Zusammenspiel der drei Entwicklungsdimensionen verschoben.
Ab wann können wir von Menschen reden?
Gibt es DEN Menschen heute? Wo, wann und wie beginnt das Menschsein? Lässt es sich mithilfe von biologischen, sozialen, ökologischen oder kulturellen Merkmalen bestimmen? Zeigt es sich körperlich, im Denken, im Verhalten? Wie lässt sich Menschsein geschichtlich, ethisch, rechtlich definieren? Betrachtet man die tiefe Geschichte der Menschen, dann wird deutlich, wie viele verschiedenartige Entwicklungen im Laufe von Jahrmillionen dazu beigetragen haben, uns zu der vielfältigen Art zu machen, die heute die gesamte Erde bevölkert. Es lässt sich daher kein Anfangspunkt des Menschseins bestimmen, und es gibt entwicklungsgeschichtlich betrachtet keine Essenz des Menschseins.