(Anti)Rassismus aus ästhetischer Perspektive

Die vielfältige Herangehensweise der bildenden Kunst

Im Rahmen der Veranstaltung Philosophische Tage 2022, 24.11.2022

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Die Rassismusfragestellung tangiert alle post- und dekolonialen Überlegungen der Gegenwart und verunsichert sie, da sie eine notorische Farbenblindheit der Sprecher:innen des globalen Nordens unterstellt und die Berechtigung ihrer Aussagen in Zweifel zieht. Als Mitglied des DFG-Exzellenzclusters Africa Multiple‘ und der Research Section ‚Arts and Aesthetic an der Universität Bayreuth habe ich mich daher verstärkt mit der dort thematisierten Black-White-Color-Line befasst und insbesondere auf philosophische und künstlerische Widerstände gegen rassistische Zuschreibungen geachtet, denen ich mit dem „Anti“- in meinen Titel Rechnung tragen möchte.

Interessant ist, dass es in Afrika eine philosophische Auseinandersetzung über die besondere Natur des Schwarzen oder Afrikanischen gibt, das Wort Rassismus aber nie fällt, sieht man von Südafrika ab. Künstlerische Kritik am Rassismus gegen Black people findet sich bekanntlich vor allem in der US-amerikanischen Schwarzen Kunst, weshalb ich diese besonders herausstellen möchte.

Allerdings erwähne ich auch die diskriminierenden Darstellungen der deutschen Brücke-Maler, die mich, als Besucher der deutschen Kolonien der Südsee, in ihrer künstlerischen Strategie der Exotisierung und des ‚Othering‘ doch überrascht haben. Ich skizziere schließlich sich verändernde Haltungen in der Filmproduktion Afrikas: Nach einer Phase der kritischen Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus, die rassistische Haltungen dramatisiert und das Schwarz-Weiß-Filmmaterial ästhetisch ausspielt, ist heute eine stärker selbstreflexive Haltung beobachtbar.

Sie will audiovisuell vorführen, dass sich Afrika heute selbstgewiss, nicht länger als das Andere der europäischen Kultur, sondern kulturell hybrid und mit der ganzen Welt verwoben versteht. Diese Bedingung kulturellen ‚Ineinanders‘ wiederum legt nahe, an die Stelle eines Verständnisses ungeteilter, individueller Kreationen eine neue Bezeichnung treten zu lassen, welche die (Auf)Geteiltheit zeitgenössischer Kunstproduktionen wiedergibt: jene des Dividuellen und der Dividuation, wie ich abschließend am Beispiel der künstlerischen Installation von Ndidi Dike zu zeigen versuche.

Globaler Rassismus

Der jamaikanische Philosoph Charles W. Mills verfasste 1997 eine grundlegende Schrift unter dem Titel Racial contract. Darin legt er dar, dass er die Weltgesellschaft durch einen rassenbezogenen und zwangsläufig rassistischen Vertrag gespalten sieht, der grundlegender sei als der Contract social, der Gesellschaftsvertrag im Sinne von Jean-Jacques Rousseau. Denn der Racial contract, der rassiale Vertrag gehe, obwohl er sich auf kein biologisches Argument berufen kann, dem Gesellschaftsvertrag voran, liege diesem aufgrund seiner basalen, wenn auch uneingestandenen Unterscheidung von Weißen und andersfarbigen Personen zugrunde, von Personen, die zählen, und anderen, die nicht als ganze Personen betrachtet werden.

Der Racial Contract ermögliche überhaupt erst den Weißen Selbstverständigungs- und Identitätsdiskurs, insofern sich dieser, wenn auch zumeist uneingestanden, von den historisch erniedrigten und ermordeten Schwarzen Körpern distanziert. Wie ich hier ergänzen möchte, wären allerdings nicht nur Schwarze Personen zu nennen, selbst wenn Schwarz hier stellvertretend, wie ja auch in Achille Mbembes Schrift Kritik der Schwarzen Vernunft, alle Unterprivilegierten aller Hautfarben und kulturellen Zugehörigkeiten bezeichnen und miteinschließen soll. Es ließe sich vermutlich sogar vorbringen, dass aufgrund der Aufmerksamkeit, die der Schwarz-Weiß-Konflikt seit geraumen Jahren erfährt, noch einmal andere Personen, wie etwa US-amerikanische Indigene oder asiatische Personen, weiter in die Unsichtbarkeit abgedrängt werden.

Für Mills ist in jedem Fall evident, dass marginalisierte Rassen einen personen-konstituierenden Faktor abgeben, da im racialen Vertrag Weißheit überhaupt erst hervorgebracht wird: „The white race is invented, and one becomes white by law“ (S. 63). Mills nennt diesen Vorgang eine „verkehrte, invertierte Epistemologie“, eine Verkenntnistheorie, „an epistemology of ignorance, a particular pattern of localized and global cognitive dysfunction“ (S. 18). Als niemals verbriefter und juristisch belastbarer Vertrag werde der rassiale Kontrakt vor allem in Momenten sozialer und ökonomischer Krise wirkmächtig: Was an gesellschaftlichen Konflikten nicht gelöst werden kann, werde als rassenbezogene Problematik artikuliert. Rassismus sei daher immer Teil des politischen Systems, immer virtuell gegeben, wenn auch nicht allzeit aktualisiert.

Mills widmet sich daher der Aufgabe, diesen uneingestandenen Vertrag zwischen Personen, die zählen und der großen Masse jener, die nicht zählen, als wirksame, wenn auch zumeist nicht explizite Ideologie offenzulegen. Selbst die Tatsache, dass der US Supreme Court colorblindness als juristische Grundlage hervorkehrt, lasse erkennen, dass sie nach wie vor eine eminent umstrittene Tatsache sei, die niemand geringschätzen könne: „Race pervades every dimension of social life – from the conditions under which we are born to the circumstances under which we die. All of which raises the question: Why in the name of ‘equal protection’ would the Supreme Court adopt an approach to race that limits our ability to ensure that everyone, regardless of race, is equally protected? Asked another way, why would the Court uncritically embrace colorblindness?“

Die zeitgenössische critical race theory ist aus den legal studies der Universität Harvard hervorgegangen. Wie Richard Delgado und Jean Stefanic in ihrer Arbeit Critical Race Theory zeigen, verschränkt sie sich heute mit Intersektionalitäts-Debatten, die hervorzukehren versuchen, dass es keine rassenbedingten eindeutigen Identitäten gibt, vielmehr jede Person verschiedene und häufig konfliktuelle Zugehörigkeiten in sich auszutragen hat: „Everyone has potentially conflicting, overlapping identities, loyalities and allegiances. (…) The voice-of-color-thesis holds (…) that black, Indian, Asien, and Latino/a writers and thinkers may be able to communicate to their white counterparts matters that the whites are unlikely to know. Minority status (…) brings with it a presumed competence to speak about race and racism“ .

Dass color-awarness tiefere und richtigere Einsichten in die Verfasstheit der Gesellschaft mit sich bringt und den Schleier der color-blindness zerreißen kann, um uneingestandene Konflikte offen zu legen, erscheint ausgemacht.

Leider muss an diesem Punkt daran erinnert werden, dass die Unterscheidung zwischen person- und subpersonhood auch auf die deutsche Philosophie der Aufklärung und des Idealismus und deren Weiterschreibung der englisch-liberalen Philosophie zurückgeht. Hat doch Immanuel Kant als erster 1775 eine philosophische Theorie unter dem Titel Von den verschiedenen Rassen der Menschen vorgelegt, in der er vier Rassen unterscheidet, die weiße zu oberst platziert und die schwarze am unteren Ende oberhalb einer sogenannten olivengelben rangieren lässt, welche er mit den Indigenen des amerikanischen Kontinents gleichsetzt. In seiner zeitgleich erschienenen Kritik der Urteilskraft leugnet er bekanntlich, dass gewisse Personen des globalen Südens, Irokesen genannt, über den im Prinzip für universell erachteten Gemeinsinn, den sensus communis, verfügen und daher nicht zu ästhetischen Urteilen fähig sind.

Der Philosoph G.W.F. Hegel betont noch 1821 in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts, dass die Annahme des an sich freien Menschen einseitig, weil nur unmittelbarer Begriff, nicht in sich vermittelte Idee sei. Der freie Geist sei erst jener, der sich die freie Existenz durch Bildung und (Selbst)Aneignung gibt (§ 57). Zur Person gehört daher das „absolute Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen“ (§44), denn nichts sei „Selbstzweck – Lebendiges nicht; Nicht Blut, Juden – nicht Indien, Ägypten”. Da der Wille als absoluter alles sich zum Eigentum machen kann, so erstreckt er sich auch auf andere Menschen. Die bürgerliche Gesellschaft bestimmt Hegel schließlich als zur Kolonisation „getrieben” (§ 248), um sich einen neuen Bedarf ihres Arbeitsfleißes zu verschaffen.

Daraus folgt, wie Mills zu Recht unterstreicht, dass die weiße „personhood“ die nicht-weiße „subpersonhood“ (Mills, 56) des globalen Südens besitzen darf. Diese Philosophie schultere nicht die politische Verantwortung der Gleichstellung und -behandlung der Person, sondern verstärke die soziale und ökonomische Ungleichheit – und katalysiere rassistische Ungleichbehandlung weltweit. Trotz aller späteren Entkolonialisierungs-Bestrebungen bleibe die globale Ökonomie von den früheren Kolonialmächten und ihren Finanzinstitutionen bis heute entlang des „racial divide“ gesteuert.

Auch Sylvia Wynther betont in A black studies manifesto von 1994, dass die Prophezeiung des US-amerikanischen Historikers W.E.B. Du Bois, das Problem des 20. Jahrhunderts werde jenes der color line sein, nach wie vor und vielleicht mehr denn je gültig ist: „this line is made fixed and invariant by the institutionally determined differentiantial between Whites and Blacks“ (1996, 51). Obwohl ich dafür halten möchte, dass es nicht nur die Black-White-color line ist, die über die ungleiche Verteilung globaler Ressourcen und Teilhabechancen bestimmt, sondern dass mehr als nur Schwarze Menschen dem Verdikt der subpersonhood ausgesetzt sind, also Personen des globalen Südens insgesamt, die ja häufig mixed colored sind – in Südafrika gibt es eine Stufenfolge der Hautfarben, an deren unterster Stelle Personen stehen, die afroasiatisch sind – , sind es mithin auch Bewohner:innen asiatischer und afrikanischer Staaten, die aufgrund der Geringschätzung ihres Aussehens rassistischen Behandlungen unterliegen. Diese bekunden sich nicht zuletzt in der unhinterfragten Ausbeutung der Bodenschätze der entsprechenden Länder und im Export von Klimakatastrophen, die eben diese „Anderen“ zu Leidtragenden des ökologischen Raubbaus des globalen Nordens werden lassen.

Rassismus in der Kunst

Um nur kurz exotisierende bis diskriminierende Darstellungen der deutschen Kunstgeschichte, verbunden mit dem deutschen Kolonialismus, einzublenden, seien hier ein paar Gemälde der deutschen Brücke-Maler in Erinnerung gerufen. Emil Nolde nahm 1913–14 an der „Medizinisch-demographischen Deutsch-Neuguinea-Expedition“ des Reichskolonialamts Berlin teil; einige der in diesem Kontext entstandenen Darstellungen „anderer“ Personen lassen sich als rassistisch bezeichnen wie die Neu-Guinea-Wilden von 1915 und die Südseekrieger von 1914.

Auch die Malerei von Max Pechstein steht diesen exotisierenden bis rassistischen Abbildungen in nichts nach; Pechstein hat noch in den 1950er Jahren in der Südsee dortige Bewohner:innen diskriminierend dargestellt, nunmehr in einem deutlich weniger expressionistischen Stil.

Dieser deutsche Anteil an künstlerischer Rassifizierung ist mittlerweile gut dokumentiert und wird von zahlreichen Museen problematisiert. Die Vorsicht in Sachen repräsentationaler Diskriminierung nicht-weißer Personen geht heute so weit, dass etwa in der Gemäldegalerie Berlins das Gemälde von Sir Joshua Reynolds, das eine indische Dienerin zeigt, abgehängt worden ist.

1939 singt Billie Holiday erstmals ihr bekanntestes Lied Strange Fruit, das aufgrund seines Verweises auf Lynchmorde zu singen ihr verboten wurde, weshalb sie vom FBI verfolgt und drangsaliert worden ist. Die US-Künstlerin Kara Walker thematisiert in ihren Scherenschnittreliefs der 1990er Jahre den Kolonialismus, die fortdauernde Unterordnung der Schwarzen Frau neben Arten ihrer physischen Vergewaltigung.

Lorna Simpson spielt ab 1986 auf die Hautfarbe und die mit ihr einhergehende symbolische Enthauptung und Entpersönlichung der Schwarzen Frau an.

Die Südafrikanerin Bernie Searl stellt ihrerseits bis heute ihre Kategorisierung als colored person aus – in einer gegenwärtigen Schau im Wolfsburger Kunstmuseum dramatisiert sie videotechnisch den Versuch, weiß wie Schneewittchen zu werden. Der US-amerikanische Maler Kerry James Marhall schildert vor allem den sozial dienenden und zugleich unabkömmlichen Status der Schwarzen Frau. Chéri Samba als einer der ersten afrikanischen Künstler dramatisiert den racial contract als eine strangulierende Lebensbedingung.

Jüngere künstlerische Arbeiten etwa von der US-amerikanischen Künstlerin Alison Saar, die in den 1990er Jahren black female identity thematisiert, kommen auf die Thematik der Strange Fruit, der Lynchmorde zurück.

Der zeitgenössische US-amerikanische Künstler Sam Durant trug sich die Kritik Schwarzer Personen ein, als er sein Schaffot in Erinnerung an diese Lynchmorde aufstellte, da er als Weißer zur Aneignung dieses Leids nicht berechtigt sei.

Ausgestellt und dramatisiert wird der Umgang mit vergangener und gegenwärtiger rassialer Diskriminierung aber vor allem im US-amerikanischen Spielfilm. Ab den 1970er Jahren übernehmen Schwarze Akteure Hauptrollen im Detektivfilm-Genre, das hybride Sozialstudien gebiert, in denen es um Selbstverständigungsprozesse in den Black Communities geht. Der Detektivfilm Cotton comes to Harlem (USA 1970, ­R.: Ossie Davis) schlägt eine thematische Brücke nach Afrika und bringt die Blaxploitation Movies auf den Weg. In Coffy (USA 1973) von Jack Hill darf sich erstmalig eine afroamerikanische Frau alias Pam Grier ermächtigen und mit der Waffe ihr Überleben sichern, wie später in der namhaften filmischen Fortsetzung Jacky Brown durch Quentin Tarantino. Als das civil rights movement bedeutsamer wird, beginnt es diese Filme allerdings ob der Stereotypisierung Schwarzer Darsteller*innen zu kritisieren.

Spike Lee weitet daher das Genre mit Do the right thing (USA 1989) aus und erfindet neue filmische Formate wie die Biopic Malcolm X (USA 1992). In seinem jüngsten Spielfilm BlacKkKlansman (USA 2018) sucht er die Kontinuität der BW-color-line-Problematik einerseits erneut zu erhärten, indem er einen narrativen Bogen zwischen Ku-Klux-Klan-Umtrieben in den USA der 1970er Jahre und zeitgenössischen Neo-Nazi-Riots in Virginia und Charlottesville spannt. In der von ihm gewählten Genremischung aus Detective Story, Drama, Comedy und dokumentarischen Szenen lässt er andererseits die Blackpower über die White Power siegen.

Aus den Perspektiven eines Schwarzen (John David Washington) und eines weißen Undercover-Polizisten (Adam Driver) werden parallel die Blackpanther- und die Ku-Klux-Klan-Szenen in Colorado ausgespäht. Das Ausspähen konzentriert sich allerdings deutlich intensiver auf die heutige rechtsradikale Szene und auf Arten der Schwarzen Mimikry an diese, die zu erheiternden Parodien Anlass gibt. Die von den Weißen behauptete Überlegenheit ihrer Rasse wird auf verschiedenen Ebenen, auch der sprachlichen, widerlegt. Der im Film fiktionalisierte Ku-Klux-Klan-Führer David Duke (Topher Grace) taucht gegen Ende in dokumentarischen Bildern als reale Person auf und inkorporiert gleichsam den Racial Contract und dessen Gültigkeit für die Gegenwart.

Die Vergangenheit ist nicht tot, so die These von Spike Lees Film, die Diskriminierung geht zumindest im Süden der USA weiter, weshalb der Film auch Griffiths The Birth of a Nation (USA 1915) und Victor Flemings Gone With The Wind (USA 1939) und die Toten der Konföderierten Armee des Bürgerkriegs zitiert; die Flagge der Konföderierten ist bereits in der ersten Totalen zu sehen und weht gegen Ende zu den Neo-Nazi-Aufmärschen in Charlottesville durch das Bild. Aber Blackpower erscheint selbstgewisser als früher, weshalb das Filmgenre einen schlauen Schwarzen Detective und Momente der Selbstparodie kennt. Gleichwohl verkündet der Film als Warnung: Der Bürgerkrieg ist nicht vorbei, sein Schlachtruf klingt in Trumps Kurzformel America first wieder an!

Unter dem Zeichen von Blackness gilt es heute zwischen verschiedenen Filmgenres zu unterscheiden, solchen, die zur Klärung der zeitgenössischen Lage afroamerikanischer Personen in den USA beitragen – die Serie The Wire (USA 2002–2008, P.: David Simon et al.) übernimmt eine solche Funktion – und Filmen, die westliche Genres aufgreifen, um sie ins afrikanische oder afrodiasporische Milieu zu übertragen und als afrofuturistische in experimentelle und selbstgewisse neue Formen zu überführen.

Symptomatisch lässt sich ein Einstellungswandel hinsichtlich des Rassismusvorwurfs auch in der Bezugnahme Afrikas auf Europa im afrikanischen Kino erkennen: Seit Ousmane Sembenes Spielfilm La noire de… (1964), dem ersten südsaharischen Film überhaupt, der dramatisiert, wie eine senegalesische Hausangestellte, von einer bürgerlichen Familie in Frankreich rassistisch behandelt wird, sich das Leben nimmt und im Schwarz-Weiß des Filmmaterials verschwimmt, werden die Filme zunehmend selbstgewisser und gegenüber dem Kolonisator aggressiv: Dijbril Diop Mambétys Spielfilm Hyènes (1992) führt in Anlehnung an Dürrenmatts Drama Der Besuch der alten Dame eine kapitalistische weiße Erpresserin in ein Dorf der Sahelzone, um die ethische Konsistenz der dortigen Gemeinschaft und ihre Nichtkorrumpierbarkeit zu überprüfen; Med Hondos genialer Spielfilm Soleil O (1971) karikiert die Pariser Bourgeoisie, indem er sie wie Hühner gackern lässt, und widerlegt ihre lächerliche Demonstration von Überlegenheit.

Als symptomatisch für ein neues afrikanisch-souveränes Kino sei hier der Spielfilm Aristotle’s Plot (1996) von Jean-Pierre Bekolo erwähnt, der sich in einem ‚Afrika‘-reflexiven Spiel mit Genrekonventionen gefällt, die zugleich verkünden, dass Afrika nicht mehr nur auf dem Kontinent zu finden ist, sondern afropolitan geworden, mithin überall ist. Als Auftragsarbeit für das British Film Institute zum hundertsten Geburtstag des Kinos 1995 realisiert, zu welchem der kamerunische Filmemacher einen ‚afrikanischen‘ Beitrag liefern sollte, fragt der Film, was denn das Afrikanische an einem Spielfilm sein könne: folklorisierende Bilder mit Zebras und Giraffen vielleicht?

Situiert an einem nicht näher spezifizierten Ort, wird ein selbstironisches Spiel zwischen den phonetischen Freunden Cineast und Sillyass bzw. zwei filmfanatischen Schwarzen Protagonisten entfaltet, die sich in ihrer Wertschätzung von Filmen diametral gegenüberstehen. Das Alter Ego des Filmemachers, ein an westlichen Filmhochschulen ausgebildeter Cineast, lehnt die in den lokalen Kinos gezeigten US-amerikanischen Actionfilme ab und verlangt nach einer anspruchsvollen lokalen Kinematografie. Ihm stehen die Anhänger der Action Movies und von deren Superhelden Bruce Lee und Arnold Schwarzenegger gegenüber, die die wenigen verbleibenden Kinosäle füllen und sich mit den weißen Leinwandhelden identifizieren.

Bekolo befragt dieses Action-Genre und seine Narrationsgesetze, d. h. die aristotelische Poetik, ihre Vorschriften raumzeitlicher Einheit und spannungssteigernder Entfaltung des Plots und erklärt sie für unübersetzbar in die afrikanischen Verhältnisse. Hier sei keine lineare Entwicklung darstellbar, nur Stillstand, Sackgassen, zyklische Wiederkehr. Bekolo räumt aber ein, dass Aristoteles an einem Punkt doch die afrikanische Situation treffe: Da es Massaker und Elend mehr als genug in Afrika gebe, lasse sich die von ihm geforderte Produktion von Mitleid und Furcht hier besonders gut realisieren; Afrika sei der Kontinent der Katharsis schlechthin.

Wie spätestens an diesem Film zu ersehen, kennt die Zuschreibung von Blackness/négritude heute keinen homogenen Adressaten mehr. Achille Mbembe begegnet diesem Problem in seiner Schrift Critique de la raison nègre/Kritik der Schwarzen Vernunft von 2013/14 dergestalt, dass er das menschliche Vermögen der Vernunft – und ausdrücklich nicht wie der Poet und Staatsmann Léopold Sédar Senghor jenes der Emotion – all jenen zuerkennt, die von den globalen symbolischen und ökonomischen Wertschöpfungsketten ausgeschlossen und im Sinne des Gesellschaftsvertrags „subperson“ sind: dem Gros der Bevölkerung des globalen Südens und damit dem gesamten Spektrum an Hautfarben und ihren Mischungen.

Obwohl er diese Vernunft ‚Schwarz‘ nennt, versteht er sie nicht als rassial oder ethnisch kodiert, sondern vor allem ökonomisch definiert. Schwarz fungiert hier als polemischer Marker, um all jenen, denen traditionellerweise die Vernunft aberkannt wird, eine reason of color, zuzuerkennen und mit ihr den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe zu verbinden: „Sobald man das N-Wort ausspricht, holt man die Abfälle unserer Welt ans Licht zurück (…). Als Kolossos der Welt ist der N. jenes Feuer, das die Dinge der Höhle oder in dem leeren Grab, das unsere Welt ist, beleuchtet und so zeigt, wie sie wirklich sind (…). Der Ausdruck N. ist eine Art Mneme, ein Zeichen, das daran erinnern soll, wie es dazu gekommen ist, dass in der Politik unserer Welt Tod und Leben in einem so engen Verhältnis zueinander definiert werden, dass es unmöglich geworden ist, die Grenzen zwischen dem Reich des Lebens und dem des Todes eindeutig zu bestimmen“ (108).

Mit seinen polemischen Neubestimmungen sucht Mbembe den alten Schwarz-Weiß-Gegensatz als epistemisch und ethisch unzulänglich zu widerlegen. Die Schwarz getaufte Vernunft kann allen Hautfarben und ihren Mischungen eigen sein; wie den weltläufigen Afropolitanen, wie er sie in Abwandlung der Kosmopoliten nennt, soll allen die Integration unterschiedlicher Kulturen und deren Vereinigung zu einer ökonomisch-ästhetischen Existenz von Weltläufigkeit offen stehen.

Im Sinne der Anerkennung zeitgenössisch hybrider Existenz-
weisen fordert der Philosoph Paulin Hountondji aus Benin denn auch, den Mythos der Afrikanität zu dekonstruieren und sich von Négritude-Programmen Senghors und von anderen ethnozentrischen Denkansätzen zu verabschieden: „[I]t was necessary to begin by demythifying the concept of Africanity […] to rid it of all its ethical, religious, philosophical, political connotations” (1981, S. 52).
Stattdessen ­wären, so auch die von mir vertretene Überzeugung, Kunstpraktiken und -philosophien zu befördern, die sich, im Sinne des karibischen Poeten und Philosophen Édouard Glissant und seiner Poétique de la relation (1990), als relationale und „komposit-kulturelle“ verstehen. Ihnen ist aufgetragen, die Spannungen, die sich aus ihren historisch verschiedenen, kulturellen Herkünften ergeben, ästhetisch offen zu legen und durchaus die ästhetische Disharmonie zum Austrag zu bringen.

Heutige Antirassismus-Kunstpraktiken

Weiterführend und ethisch-epistemisch herausfordernd war die Ausweitung des Themas Rassismus auf der jüngsten Berlin Biennale (2022) und ihre Verbindung mit dem Thema Ökologie. Kunst als eigenwillig-autonome Setzung tritt hier allerdings hinter häufig medialen Kunstaktivismus zurück; unter Überschriften wie „Imperial Ecologies“ und „Environmental Racism“ werden zeitgenössische „Regime der Unsichtbarkeit“ bzw. unsichtbar rassistischer Gewaltausübung videotechnisch erhellt. Der Initiator von Forensic Architecture, Eyal Weitzmann, reklamiert für diese Arbeiten eine „Expanded Aesthetics“, da Fragen der Skalierung bei der digitalen Fixierung von Umwelt- und anderen Verbrechen mitzubedenken sind.

Die Verbindung rassialer und ökologischer Fragen mündet hier in den Vorwurf unterschiedlicher Arten heutiger Kriegsführung, in einem erweitertem Sinn als „weaponizing of air, water and ice“, als Zerstörung von Landschaft, von Luft- und Lebensräumen, dramatisiert. Diese gehen mit Massakern an Palästinenser:innen und anderen Ethnien wie etwa kanadischen Indigenen einher, die von Polizisten u.a. dem Tod durch Erfrieren ausgesetzt werden.

Forensic Architecture versammelt „Cloud Studies“, d. h. digitale Präsentationen biotechnologischer Kriegsführung, die wahlweise gegen Protestbewegungen, Bevölkerungsteile, Landstriche oder Nachbarregime zum Einsatz kommen. Als die gegenwärtig am häufigsten eingesetzten Waffen werden Chlorin, weißer Phosphor, Glyphosat, Methan, Tränengas, aber auch die Strangulierung von Flüssen oder die Umgestaltung von Landschaften ausgemacht. Aufzeichnungen karzinogener Tränengaseinsätze in urbanen Zentren zahlreicher Städte wie Tijuana (Mexiko), in Hongkong, Portland oder Santiago de Chile bringen zum Vorschein, dass das Tränengas auch Bevölkerungsteile schädigt, die an den Protesten gar nicht beteiligt sind.

Dank der molekularisierten Perspektive wird in zahlreichen der künstlerischen Dokumentationen die Doppelstrategie von ökologischem Raubbau und rassistischer Aggression sinnfällig, so wenn israelische Pflanzer die ausgestreuten Pestizide vom Wind in Richtung Gazastreifen tragen lassen. Die künstlerische Kriegsberichterstattung erweitert sich hin zur Analyse künstlich herbeigeführter Erdbeben, die auf biologische „Wolkenbomben“ zurückgehen sollen und als Ergebnis französischer Kernwaffentests in der algerischen Wüste oder in der Demokratischen Republik Kongo ausgemacht werden, von Ammar Bouras in Fotokollagen und visuellen Ablichtungen des zurückgelassenen Fässermülls dokumentiert.

Susanna Schuppli und Imani J. Brown prangern wiederum Arten petrochemischer Landzerstörung mittels Ölförderanlagen und Pipelinestrukturen im US-amerikanischen Siouxland und den Flutungszonen der Wetlands an. Gegen die gleichzeitige Zerstörung des Lebensraums des antarktischen Eises plädiert Schuppli für die Vergabe von „cold rights“ an die Dakota und hebt diesen Anspruch in Wortspielen wie „just-ice“ hervor. Arten der Gegenwehr Schwarzer und Indigener Aktivisten und deren Forderungen nach indigenen Rechten und Ökoreparatur werden vermehrt expliziert.

Dividuell-künstlerische Verfahren im Sinne der Anti-Rassifzierung

Als weiße deutsche Akademikerin möchte ich nochmals behaupten, dass die Dichotomisierung der Hautfarben angesichts der kulturellen Verflechtungen nicht mehr die entscheidende Problematisierungskategorie der Gegenwart sein kann. Kunstwerke stellen sich zunehmend der heute erkannten Komplexität kulturellen und ökologischen Ineinanders. Denn auch die BW-color-line kann, wie bereits betont, Farbenblindheit erzeugen, wenn sie die anderen Hautfarbendifferenzen und die mit ihnen einhergehenden Bewertungen geringachtet oder unterschlägt.

In Weiterführung des Begriffs der Intersektionalität habe ich selbst im Begriff der Dividuation (Ott 2015) zu fassen gesucht, dass Personen, Gesellschaften und Kunstpraktiken heute nicht mehr individuell, wörtlich ungeteilt, sondern Vielfachteilhabende sind, da sie in die unterschiedlichen Register von Gender und Race, aber auch von Sprache, Kultur, Technologie, Ökonomie und Ökologie involviert sind, mithin Schnittmengen freiwilliger und unfreiwilliger Teilhaben auf verschiedenen Ebenen bilden und sich ihre Komposit-Identität, wie Glissant sagt, in freilich unterschiedlichem ­Freiheitsgrad, ­konstruieren müssen.

Der Terminus Dividuum wird schon von Novalis und Nietzsche in Einsatz gebracht aufgrund der Erkenntnis, dass wir unsere Fähigkeiten und Affekte aufspalten und uns zeitgleich Widerstrebigem widmen können, auf jeden Fall nicht dauerhaft als ungeteilte Einheit zu verstehen sind. Gilles Deleuze verwendet das Adjektiv „dividuell“ zur Charakterisierung von Filmen und musikalischen Kompositionen, die aufgrund ihres zeitbasierten Charakters und ihrer audiovisuellen Divergenz auf keinen gemeinsamen Nenner gebracht, mithin nicht individuell genannt werden können.

Dividuation, der prozessorientiertere Name, will dabei verstärkt die Ambivalenzen und Inkohärenzen der Person, gewollte Verflechtung ebenso wie unbewusst-ungewollte Vereinnahmung ansagen. Denn wir sind, so lehrt die zeitgenössische Wissenschaft, in nicht unbedingt selbst-gewähltem, aber konstitutivem Sinn mit vielfältig Anderen verbunden: Auf der biologischen Ebene mit biotischen Massen, die uns nähren, über unsere genetische Entfaltung mitbestimmen und sich gegenwärtig aus ökologischer Perspektive als Agenten des planetaren Daseins mit unvorhersehbarer Fernwirkung vermehren; auf der soziologischen Ebene mit gesellschaftlichen Massen unterschiedlicher Kulturen und diverser Geschlechter, die unsere Subjektivierung und unser Lebensgefühl mitsteuern und im digitalen Vollzug für unseren affektiv-kommunikativen Sozialbezug wichtig sind. Gleichzeitig können unsere Einlassungen gefährlich werden, da wir präemptiv verrechnet, auf Nummerncodes und Passwörter reduziert und zunehmend finanztechnisch kommodifiziert werden.

Heute können dividuelle Statements in zahlreichen Kunstpraktiken beobachtet werden, etwa bei Ndidi Dike, die lieber als Künstlerin aus Afrika denn als afrikanische Künstlerin performiert. Sie wendet Taktiken des reprendre, der Wiederaufnahme, an, wie von dem kongolesischen Philosophen Valentin Mudimbe gefordert, indem sie Materialien wie Gold und Vanille kombiniert und darüber eine Kritik an der ruchlosen Extraktionspolitik der westeuropäischen Mächte formuliert. In ihrer Multimedia-Installation Commodities of Consumption and Sites of Extraction von 2021 in der Savvy-Galerie Berlin stellt sie transparente Vorhänge als Werbeträger für Vanille, Tee und andere Kolonialprodukte aus.

Sie kontrastiert sie mit Reprints von schwarz-weiß-Fotographien, die anonyme Schwarze Personen, historische Arbeitsverhältnisse und Arbeiter in Vanille-Fabriken zeigen, aber auch die Queen und Westminster Abbey, um das koloniale Setting zu evozieren. Zudem gibt es Texte zur Sklaverei und zur Forderung nach Restitution der Beninbronzen. Mit den vor die Vorhänge gestellten Kuchenplatten verweist sie zudem auf die Ausbildung des englischen Geschmacks, wie er von dem Kunsthistoriker Simon Gikandi aus Kenia analysiert worden ist.

Ich möchte abschließend behaupten, dass ihre Installation ein Beispiel ästhetisch-kultureller Dividuation abgibt, da sie auf ästhetische Praktiken des Westens referiert und diese mit Materialien aus dem globalen Süden kombiniert, um auf die nicht mehr hintergehbare Interdependenz zwischen den ökonomischen und kulturellen Beiträgen von Nord und Süd zu verweisen, die schon aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit größere Probleme aufwerfen und die rassiale Problematik in den Hintergrund
treten lassen.

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