Ich habe mir für meinen Vortrag ein dickes Brett vorgenommen, nämlich Antisemitismus aus muslimischen Kontexten.
Einleitung
Der tragische Anlass hierfür sind zwei Dinge, nämlich zum einen die Reaktionen bei uns in Deutschland auf den Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 in Südisrael samt brutaler Ermordung von über tausend überwiegend Zivilisten und einer bis heute anhaltenden Geiselnahme. Zum anderen ist es die darauffolgende Militäroffensive Israels gegen die Hamas im Gaza-Streifen, die als legitimer Verteidigungskrieg begann, und aufgrund ihrer Härte zu zehntausenden hauptsächlich zivilen Opfern in Gaza und einem damit verbundenen großen humanitären Leid führte. Der Konflikt strahlt auf mehreren Ebenen auch nach Mitteleuropa aus. Wenige Tage vor meinem Vortrag erst kam es in Zürich zu einem Messerangriff eines antisemitisch fanatisierten 15-jährigen Anhängers jener Terrormiliz, die sich „Islamischer Staat“ nennt, auf einen orthodoxen Juden, der fast tödlich endete. Insofern sind es nicht nur antisemitische Parolen und Sprüche, die die Aufmerksamkeit der deutschen Debatte auf Antisemitismus unter Muslimen gelenkt haben, sondern auch die seit dem 7. Oktober punktuell, aber sehr wirksam auftretende
Gewalt besagter Art.
Bestimmte Teile der Öffentlichkeit äußern dezidiert, dass diese Phänomene in muslimischer Religiosität, oder gar im Islam an sich begründet wären. Wo dies so undifferenziert artikuliert wird und unwidersprochen bleibt, hat es zumindest eine Wirkung, nämlich dass antimuslimische Ressentiments zunehmen und die Integrationserfolge der Mehrheit der Musliminnen und Muslime bedroht werden, während der Extremismus sich im Windschatten dieser Polarisierung weiter ausbreitet. Darum sollten wir unsere Perspektive und Strategie ändern, um nicht die Mehrheit der Musliminnen und Muslime, die weit jenseits des Extremismus stehen, ihres Gefühls der Zugehörigkeit zu Deutschland zu berauben und Muslimfeindlichkeit zu verstärken, während wir glauben Antisemitismus zu bekämpfen. Was ist da also wirklich los? Und wo sollten wir genauer hinschauen? Ich möchte in meinem Vortrag auf Basis meiner eigenen Erfahrungen aus der schulischen Bildungsarbeit und der islamischen Theologie einige Ideen dazu mit Ihnen teilen. Gehen wir dazu als erstes der Frage nach, woher der muslimisch geprägte Antisemitismus kommt.
Die drei Wurzeln des Antisemitismus aus muslimischen Kontexten
Was ist das Spezifische des Antisemitismus von muslimischer Seite im Vergleich zum europäisch geprägten Antisemitismus? Ich möchte als Antwort hierauf folgende These starkmachen: Der heutige Antisemitismus aus muslimischen Kontexten stellt ein Patchwork aus drei sich in regelmäßigen Abständen gegenseitig verstärkenden Elementen dar, nämlich (1) aus zahlreichen Versatzstücken des christlich-europäisch geprägten Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, (2) aus damit nachträglich verbundenen antijüdisch anmutenden Elementen der islamischen Überlieferung, die kontextlos zitiert und verallgemeinert werden, sowie als emotionale Triebfeder schließlich (3) aus der Suche nach einem Verantwortlichen für die historisch beispiellose Niederlage der islamischen Welt gegenüber westlichen Imperialmächten. Diese Niederlage beginnt mit dem Einzug Napoleons in Ägypten 1798, ist weltweit vor allem mit dem britischen Imperialismus assoziiert und kommt in der Staatsgründung Israels 1948 auf einem Gebiet, das für Jahrhunderte als islamisches Kernland galt, im Bewusstsein vieler muslimischer und speziell arabischer Kreise zu einem schockierenden Höhepunkt. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA die Briten als das Symbol des westlichen Imperialismus abgelöst.
Alle ernst zu nehmenden Autoren beziehen die oben genannten drei Faktoren in ihre Analysen ein, jedoch mit sehr unterschiedlichen Gewichtungen und Fazits. Ich werde nun meine Perspektive skizzieren, wobei ich aus Zeitgründen den Beitrag des europäischen Antisemitismus hier nur kurz anreißen kann. Diesem entstammen so zentrale Topoi wie das zionistische Weltverschwörungsmotiv, die von Christen ins Arabische übersetzten Protokolle der Weisen von Zion, die trotz fehlender Authentizität ganze muslimische Generationen antisemitisch beeinflusst haben, sowie ältere antijüdische Motive wie die Ritualmordlegende. Es ist bedrückend zu hören, dass es einen sehr aktiven deutschen Nazi-Radiosender gab, der gezielt auf Arabisch und Persisch sendete und mit einem großen Team über mehrere Jahre versuchte den Muslimen eine islamisierte Deutung des Antisemitismus nahezubringen. Die Ähnlichkeit vieler antisemitischer Motive und Darstellungen in beiden Räumen rührt von derartigen Wechselwirkungen. Solche europäischen und speziell auch christlichen Einflüsse hat beispielsweise Michael Kiefer in seinem Werk Antisemitismus in islamischen Gesellschaften anschaulich dargestellt. Bevor wir nun die beiden anderen Faktoren näher betrachten, wollen wir erst noch einen Blick in die Empirie werfen.
Verbreitung von Antisemitismus unter Musliminnen und Muslimen
Viele der bisherigen Studien zu Antisemitismus unter Muslim:innen nehmen die Vielfalt an teils sehr gegensätzlichen muslimischen Milieus kaum in den Blick bzw. unterteilen Muslime in sehr grobe Untergruppen, die in sich in keiner Weise homogen sind. Aus diesen Studien lassen sich daher keine Prognosen über die Meinungen muslimischer Individuen ableiten, aber dafür dennoch einige interessante Tendenzen innerhalb großer Gruppen. So stellten Jürgen Mansel und Viktoria Speiser 2013 fest, dass 22 % der arabischstämmigen und 13 % der türkischstämmigen befragten Jugendlichen religiös begründeten antijüdischen Items zustimmten. Das bedeutet zum einen, dass in beiden Fällen die Mehrheit den antijüdischen Items nicht zustimmte. Und: Bei den arabischstämmigen Befragten, die den arabischen Palästinensern ethnisch deutlich näherstehen als die Türken, waren mehr abwertende Haltungen zu finden als bei den türkischen. Beide Zahlen nahmen deutlich zu, sobald es um Items aus dem israelbezogenen Antisemitismus geht, jedoch bleibt die ethnisch konnotierte Stufung: 41,5 % der arabischstämmigen und 25,6 % der türkischstämmigen Jugendlichen stimmten nun zu. Solche Zahlen betreffen antijüdische Vorurteile, und noch nicht das Extrem eines eliminatorischen Antisemitismus, der weit weniger Anhänger hat. Aus dem bisherigen Vergleich scheint für Muslime als Gesamtheit betrachtet zu folgen: Je größer die eigene biografische Nähe zum Nahostkonflikt, umso größer das antijüdische Ressentiment. Andere Studien, etwa die des Sachverständigenrats für Integration und Migration von 2022, finden für manche Items (z. B. „Jüd:innen haben auf der Welt zu viel Einfluss“) auch bei türkischstämmigen Jugendlichen eine Zustimmung im Bereich von 40 % – 50 %.
Zum Vergleich: Im Jahre 2020 fand die Anti-Defamation-League in einer internationalen Befragung heraus, dass 49 % der Muslime weltweit antisemitischen Items, die überwiegend die angebliche globale Übermacht der Juden thematisieren, zustimmten. Bei den Christen lag der Anteil bei ebenfalls hohen 25 %. Unter den muslimischen Ländern liegen diese Werte in vielen arabischen Ländern und in Nordafrika weit über 50 %, wobei das Westjordanland und der Gaza-Streifen – also die unmittelbar von Israel teils besetzten, teils blockierten Regionen – die höchsten Werte aufweisen. Dieser Zusammenhang ist sicher kein Zufall. Gleichzeitig gibt es auch muslimische Länder mit geringeren Werten, z. B. das südasiatische Bangladesch mit 32%, das europäische Bosnien-Herzegowina mit 32 % und Nigeria mit 16%. Region erweist sich hier manchmal als wichtiger als Religion.
Antisemitismus ist also in der islamischen Welt weit verbreitet, aber regional sehr unterschiedlich gestreut. Die regionale oder persönliche Nähe zum Nahost-Konflikt scheint also auch global ein entscheidender Faktor für die relative Stärke des Antisemitismus zu sein. Insofern sollte Antisemitismus im muslimischen Kontext stets in seiner Wechselwirkung mit der oben beschriebenen Wahrnehmung des Nahostkonflikts als aktuellem Stellvertreterkonflikt zwischen westlicher und muslimischer Welt analysiert werden, auch wenn dies natürlich nicht der einzige Faktor ist. Hier möchte ich noch ergänzen, dass Antisemitismus weiterhin auch ein Problem in christlich geprägten Ländern ist. So entnimmt man der repräsentativen Mitte-Studie von 2023 für Deutschland eine vollständige oder teilweise Zustimmung von 20 % zu antisemitischen Items. Die Anti-Defamation-League wiederum fand 2014 für Griechenland einen Zuspruch von 69 % zu antisemitischen Aussagen und für Armenien 58 %. Einen guten Überblick zu weiteren Ergebnissen diverser Studien zu Antisemitismus unter Muslimen bietet die Expertise des Mediendienstes Integration von 2023. Eine kritischere Darstellung zahlreicher Studien, sowie ein qualitativer Neuansatz finden sich in der Dissertation des Religionspädagogen Dr. Osman Kösen von diesem Jahr.
Aus den hohen Zustimmungswerten lassen sich noch keine Folgerungen über deren Praxisrelevanz ableiten. Jedenfalls sind reale antisemitische Ausfälle oder Statements muslimischer Jugendlicher an deutschen Schulen in der Summe deutlich seltener, als man bei den Zahlen vermuten könnte. Dennoch weisen letztere auf Handlungsbedarf hin, auch mit Blick auf Untersuchungen, die sich tiefer mit der kontextuellen Wahrnehmungs- und Diskurswelt der Jugendlichen befassen. Man kennt diese unter sich sehr vielfältigen Jugendlichen schlichtweg nicht gut genug, um aus gemittelten Zahlen oder einzelnen Zitaten Präventions- oder Interventionskonzepte ableiten zu können. Eines habe ich aber aus vielen Gesprächen mitgenommen: Öffentliche Beschuldigungen oder Abwertungen von Muslimen bzw. Palästinensern als rückständig oder pauschal antisemitisch bringen viele Muslime zwar öffentlich zum Verstummen, aber, um einen muslimischen Neuntklässler aus Deutschland zu zitieren, der sich solche Abwertungen nach dem 7. Oktober mit seiner Klasse auf einem öffentlichen pro-israelischen Vortrag angehört hatte: „So etwas verstärkt eher Vorurteile gegenüber Juden, als sie abzubauen.“ Vom anderen Ende her formuliert: Bekämpfe Antisemitismus nicht mit Muslimfeindlichkeit, wenn du ihn nicht auch noch verstärken willst. Das ist kein marginaler Punkt. Denn laut Religionsmonitor 2019 nehmen 52 % der Deutschen den Islam als Bedrohung wahr und 41 % misstrauen Muslimen pauschal.
Viele auch junge Muslime leiden sehr unter diesem antimuslimischen Klima. Ein Beispiel hierfür, das mich immer noch sehr bewegt: Ein palästinensischer Schüler bei uns in Deutschland sagte in den Wochen nach dem 7. Oktober einer Lehrkraft seines Vertrauens, dass niemand in der Schule erfahren soll, dass er Palästinenser ist. Auf die Rückfrage der verwirrten Lehrkraft begründete er seinen Wunsch so: „Ich habe Angst, dass sie denken, dass ich ein Terrorist bin. Das wird ja oft gesagt, dass alle Palästinenser Terroristen sind.“ Dies ist einer von vielen ähnlichen Berichten von muslimischer Seite, die ich dokumentiert habe, und deren Gemeinsamkeit lautet, dass die Betroffenen Angst haben öffentlich über ihre Situation zu reden. Mir ist bewusst, dass es sehr vielen Jüdinnen und Juden in Deutschland vor allem seit dem 7. Oktober ähnlich geht, wobei die Angst vor tätlichen Übergriffen hier noch stärker ist. Es ist richtig, dass der Staat diese Ängste ernst nimmt.
Für das Gesamtbild muss auch festgehalten werden, dass seit dem 7. Oktober sowohl antisemitische als auch antimuslimische Vorfälle deutlich zugenommen haben, wobei letztere von der Öffentlichkeit eher wenig registriert werden. Die neueren Vorfälle dokumentiert beispielsweise die Claim-Allianz mit Blick auf verbale und körperliche Angriffe auf muslimisch gelesene Personen sowie auf mehrere Moscheen und muslimische Friedhöfe. Die großen Ausmaße, die Muslimfeindlichkeit in Deutschland allgemein in den letzten Jahren angenommen hat, können im Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit von 2023 nachgelesen werden, den das Bundesministerium des Innern und für Heimat in Auftrag gegeben hat. Ziel für uns alle sollte es sein, antijüdische und antimuslimische Tendenzen gleichzeitig zu bekämpfen und wegzukommen von der Intuition nur Partei für die Seite der eigenen Sympathie ergreifen zu wollen. Auf beiden Seiten wird im unsichtbaren Bereich sehr viel gelitten und es entstehen gerade durch eine schlechte Vermittlung durch Politik und Gesamtgesellschaft in mehrere Richtungen neue Hasspotenziale, die sich gegenseitig hochschaukeln können.
Die traumatisierende Niederlage gegen westliche Imperialmächte
Schauen wir uns nun näher zwei wichtige Gründe für Antisemitismus aus muslimischen Kontexten an. Dazu betrachten wir erst den Faktor des Erwachens der Muslime zur Moderne als große Verlierer, und werfen dann einen Blick in die islamisch-religiösen Bezüge. Meiner Beobachtung nach ist die Wahrnehmung Israels als Speerspitze des britischen bzw. des US-amerikanischen Imperialismus ein zentraler Grund dafür, warum bei so vielen Muslimen der Nahost-Konflikt den Ankerpunkt für die kritische Meinungsbildung zu Israel darstellt. Dieselbe Wahrnehmung ist auch ein wichtiger Motor des muslimisch geprägten Antisemitismus, vor allem wenn man selbst keine jüdischen Kontakte und keine tieferen Kenntnisse vom Judentum oder von Israel hat. Um den Stellenwert des Nahostkonfliktes und der dabei Israel zugeschriebenen Rolle als feindliche Übermacht zu erkennen, genügt aktuell ein Blick in die türkisch- oder arabischsprachigen Medien seit dem 7. Oktober, gerade auch in Social Media. Dort spielt der Hamas-Anschlag vom 7. Oktober kaum noch eine Rolle, ebenso wenig wie die anhaltende Geiselnahme unschuldiger Israeli, oder die autoritäre Herrschaft der Hamas, die die eigenen Zivilisten ungeschützt dem weit überlegenen israelischen Militär, das unter der Ägide der rechtsradikalsten aller israelischen Regierungen seit 1948 steht, ausgesetzt hat, ja ihr Leid bewusst einkalkuliert.
Es wird seit dem 7. Oktober vor muslimischen Bildschirmen weltweit aber nicht nur viel mit israelischer Kriegspolitik und ihren weltweiten Unterstützern geschimpft, sondern es wird auch sehr viel geweint und mit den Familien und Kindern in Gaza mitgelitten. Diese Ebene wird hierzulande wenig bemerkt, aber sie bewegt nach meinem Eindruck die meisten Musliminnen und Muslime besonders stark. Die teilweise täglich über mehrere Stunden zu sehenden Bilder des Leidens und der Zerstörung vor allem im Gazastreifen sind kaum auszuhalten. Viele Muslime verbinden diese Bilder weit über den Nahostkonflikt hinaus mit allseits erlebter Ohnmacht und Beschämung sowie dem Gefühl der Behandlung durch den Westen als Menschen zweiter Klasse. Ergänzt werden sie durch Wiedergaben der antipalästinensischen Rhetorik seit Beginn des Krieges aus Reihen der Regierung Netanyahus und ihren internationalen faktischen Unterstützern im Krieg sowie von palästinenserfeindlichen Worten und Aktionen radikaler Kreise in Israel und weltweit. Hinzu kommt die Wahrnehmung von einer sehr oft einseitigen Parteiergreifung deutscher Politik und vieler medialer Schlagzeilen für die israelische Seite. Die Logik des Interesses vieler Muslime hierbei lautet: Die Palästinenser – das könnten auch wir sein.
Gleichzeitig ist es aber nicht so, dass die islamische Welt interessiert an palästinensischen Flüchtlingen wäre, oder dass die vielen muslimischen Regierungen ein Interesse an einem Konflikt mit Israel haben. Woher kommt dann diese tiefe Betroffenheit vom Nahostkonflikt? Wie schon angedeutet: Israel gilt in großen Teilen der islamischen Welt als Speerspitze eines intakten westlichen und vor allem britischen bzw. nunmehr US-amerikanischen Imperialismus. Die muslimischen Palästinenser stehen symbolisch für die anhaltende Ohnmacht und Demütigung der gesamten islamischen Welt durch einen als ungerecht und aggressiv erfahrenen Westen. Es ist nach meiner Überzeugung ein tragischer Zufall der Geschichte und Geografie, dass am Ende der Niederlage der islamischen Welt nach dem Ersten Weltkrieg ausgerechnet die kleine jüdische Gemeinschaft innerhalb von wenigen Jahrzehnten zur Personifizierung des übermächtigen und rücksichtslosen Feindes namens „Westen“ erklärt wurde. Also genau jene Juden, die im „Westen“ über viele Jahrhunderte dämonisiert wurden, und zu denen die Muslime bis zur Moderne meist ein relativ stabiles, ja oft sogar fruchtbares Verhältnis hatten, auch wenn dies kein Verhältnis auf Augenhöhe war.
Das eigentliche Thema der muslimischen Wahrnehmung mit dem Beginn der Moderne ist die global erschütterte muslimische Identität, die nach einer Erklärung ihres gesamten Leides sucht. Muslime verschiedener Couleur, aber auch Christen derselben Regionen, fanden eine Erklärung im dramatischen Erfolg des mit dem „Westen“ verbundenen jüdischen Zionismus auf ehemals arabisch bzw. osmanisch beherrschtem Boden – und suchten eine Rehabilitierung durch Gegen-Demütigung, die politisch und militärisch nie gelang, aber dafür schließlich den narrativen Bereich vieler muslimischer Gesellschaften mit krudesten Verschwörungstheorien füllte und somit den Kern des modernen Antisemitismus in der islamischen Welt schuf. Symbolisch hierfür steht beispielsweise Sayyid Qutbs antisemitisches Pamphlet Unser Kampf mit den Juden von 1950, und spätere Schriften anderer Ideologen, die zum Feindbild Jude und zu abstrusesten Verschwörungstheorien unter vielen Muslimen beitrugen. Ohne den genannten politischen Niedergang der islamischen Welt seit ca. 1800 wären antijüdische Narrative jedoch nie für so große Menschenmassen identitätsstiftend geworden. In der islamischen Geschichte davor gibt es zwar einige lokale Pogrome gegen Juden und literarische Nebenkapitel über jüdischen Verrat am Propheten Muhammad, aber kein mit dem heutigen Antisemitismus vergleichbares kollektives Basisnarrativ von einem pauschal gefährlichen oder übermächtigen Juden. Nur vor dem Hintergrund der modernen Vielfachniederlage der Muslime, verbunden mit dem seit 1948 fast durchgehenden militärischen Erfolg Israels gegen die Araber, wird klarer, warum andere, innerislamische und teils opferreichere Konflikte innerhalb der islamischen Welt weniger bewegen, ja teils kaum bekannt sind. Es gab in der islamischen Welt kein zur bedrohlichen Identitätserschütterung durch den westlichen Imperialismus vergleichbares kollektives Trauma. Dennoch: Die schlecht verarbeitete Identitätserschütterung alleine erklärt nicht das ganze Phänomen. Denn die antisemitischen Anteile darin wurden rasch islamisch-religiös aufgeladen. Als nächstes wollen wir uns daher der spezifisch religiösen Dimension widmen.
Die dekontextualisierende und unkritische Lesart islamischer Quellen
Viele Autoren, die den frühen Islam als Hauptgrund für Antisemitismus bei Muslimen nennen, haben ein Bild von der Frühzeit des Islams vor Augen, das sich als lineares Eskalationsmodell beschreiben lässt. Gerade in der Islamkritik ist es heute das Standardnarrativ. Aber auch muslimische Antisemiten argumentieren ähnlich. Diese Darstellung lautet in etwa wie folgt: Nach einer ersten Phase der Toleranz Muhammads gegenüber den Juden und einer ersten Annäherung zeigte sich, dass diese seine Prophetenschaft nicht anerkannten. Darum vollzog der enttäuschte Prophet eine Kehrtwende. Erst wurden die Juden im Koran diffamiert. Danach bestrafte der Prophet sie, indem er die Beziehung zu ihnen gezielt eskalieren ließ. Er vertrieb die jüdischen Stämme der Banu Qainuqa und Banu Nadir aus Medina und vernichtete den Stamm der Banu Quraiza vollständig, unter anderem durch eine Massenexekution aller Männer. Seitdem durften Juden nur noch als gedemütigte Minderheit in der islamischen Gesellschaft leben. So lautet der Kern des Eskalationsmodells, zu dessen Beleg viel aus dem Koran und aus Berichten aus der Frühzeit des Islams zitiert wird. Ich möchte nun exemplarisch zeigen, dass dieses Modell eine grobe Verkürzung darstellt und für alle Seiten korrigiert werden muss.
Betrachten wir zum Beispiel Sure 5, Vers 13 des Korans. Darin heißt es in der Übersetzung von Bubenheim und Elyas: „Dafür, dass sie [d. h. bestimmte Juden] ihr Abkommen brachen, haben Wir [Gott] sie verflucht und ihre Herzen hart gemacht. Sie verdrehen den Sinn der Worte, und sie haben einen Teil von dem vergessen, womit sie ermahnt worden waren. Und du wirst immer wieder Verrat von ihnen erfahren – bis auf wenige von ihnen.“ Gegen wen richtete sich der polemische Ton solcher Passagen? Entgegen dem ersten Eindruck richtet er sich nicht an alle Juden, sondern nur an bestimmte, mit denen tiefe Feindseligkeiten entstanden waren. Dafür gibt es mehrere Belege. Aus dem Vers zuvor ergibt sich zunächst, dass die Juden, die hier als verflucht beschrieben werden, nur jene sind, die zu biblischer Zeit einen Bund mit Gott brachen. Doch der Vers scheint dies irgendwie auf eine Gegenwart beziehen zu wollen. Der Satz „du wirst immer wieder Verrat von ihnen erfahren, bis auf wenige von ihnen“ spricht jedoch nicht den gegenwärtigen Leser, sondern den Propheten Muhammad an, so wie mit „du“ im Koran auch sonst immer der Prophet Muhammad gemeint ist. Aber warum stellt der Koran überhaupt diese Beziehung zwischen untreuen Juden aus biblischer Vorzeit und den Juden von Medina her? Hintergrund sind die Parallelen, die der Islam zwischen dem Propheten Muhammad und den jüdischen Propheten zieht: So wie es zur Zeit der biblischen Propheten schon Juden gab, die die Propheten Gottes verrieten, so gibt es diese nun auch zu Zeiten Muhammads. Mit dem Begriff „Verrat“ spielt der Koran auf die vorige Erfahrung Muhammads an, dass die jüdischen Stämme allesamt laut Überlieferung nacheinander ihren Friedensvertrag mit dem Propheten brachen, sei es durch Mordversuche am Propheten oder durch Kollaboration mit den Erzfeinden der Muslime, also der mekkanischen Oligarchie. Unter diesen Umständen erst traten die Juden im Koran immer häufiger als Symbol für Verweltlichung und Feindseligkeit auf. Dabei sind mit „die Juden“ meistens die Führer dieser Stämme und manchmal einige jüdische Gelehrte gemeint, die mit Muhammad Streitgespräche führten, und selten alle Juden aus Medina, wie man in der exegetischen Literatur vielfach nachlesen kann.
Dass der Islam nicht an einem grundsätzlichen Zerwürfnis mit den Juden interessiert war, zeigt sich auch bei einem genaueren Blick in den Koran. Als erstes wäre hier der durchaus überraschende Fortgang des oben zitierten Koranverses 5:13 zu nennen: „Aber verzeihe ihnen [den Juden] und übe Nachsicht. Gewiss, Allah liebt die Gutes Tuenden.“ Es gibt also selbst in den späten medinensischen Suren des Korans noch die Option der Versöhnung und Normalisierung. Die Uneinheitlichkeit der Suren in diesem Punkt wird etwas plausibler, wenn man bedenkt, dass Medina und Arabien selbst uneinheitlich waren: Dort gab es sowohl Juden, die dem Propheten feindlich gesinnt waren und eine große Unsicherheit für den frühen Islam darstellten, als auch solche, zu denen vor und nach den militärischen Konflikten ein pragmatisch gutes bis freundschaftliches Verhältnis bestand. Letzteres findet einen deutlichen Niederschlag in Vers 5 derselben Sure 5 von oben. Dort wird zum einen die Eheschließung von Muslimen mit jüdischen und christlichen Frauen gebilligt, ohne dass diese den Islam annehmen, oder sich von ihrer christlichen oder jüdischen Religion distanzieren müssten. Und es wird die Speise der anderen Religionen – man denke vor allem an koscher geschlachtetes Fleisch – als für die Muslime religiös erlaubt erklärt, ebenso wie die Speise der Muslime als erlaubt für die anderen Religionsanhänger erklärt wird.
Zusammengefasst: Die vom Koran für „verflucht“ erklärten Juden sind andere als die, mit denen tief reichende Heiratsbande und Tafelgemeinschaft erlaubt sind. Die Koranverse zu ersteren sind Reaktionen auf Feindseligkeiten und auf die jüdisch-mekkanische Kooperation gegen Muhammad. Die Koranverse zu letzteren bilden die Fortsetzung des Versuches einer abrahamitisch begründeten Koexistenz, die zu Beginn in Medina versucht wurde, ehe militärische Auseinandersetzungen den Fokus auf die Sicherheitsfrage und die Identitätsklärung lenkten.
Solche Kontextualisierungen sind vereinbar mit Teilen der überlieferten Koranhermeneutik, die schon früher Konzepte der spezifizierenden Exegese (arabisch: Tachsis) von allgemein formulierten Koranversen entwickelt hat. Genau deswegen haben sie heute eine hohe bildungstheoretische und auch präventive Relevanz, beispielsweise weil sie antisemitische Narrative korrigieren können. Beispiel: Eine Siebtklässlerin stellte am Ende einer Stunde des islamischen Religionsunterrichts, die ich als Ausbilder besuchen durfte, zum besagten Thema sinngemäß fest: „Ich habe heute gelernt, dass der Judenhass, den ich manchmal in meinem Umfeld höre, unbegründet ist und von einem Missverständnis kommt. Die Vertreibung mancher Juden zu Zeiten des Propheten hatte überhaupt nichts mit deren Religion zu tun, sondern mit deren feindlichem Verhalten. Wären das feindliche Muslime gewesen, wären sie genauso vertrieben worden.“
Doch wie passt zu so einer kontextualisierenden Lesart der Bericht über eine kollektive Hinrichtung aller Männer der vertragsbrüchigen Banu Quraiza? Entweder wurde der Stamm hier wirklich kollektiv sehr hart für einen kollektiven Hochverrat bestraft, wie die islamische Tradition mehrheitlich meint. Oder: Es handelt sich bei diesem Bericht um eine grandiose nachträgliche Übertreibung, die weder mit dem Koran noch mit anderen Berichten aus der Frühzeit des Islams vergleichbar ist. Es gab immer wieder muslimische wie nicht muslimische Autoren, die dies vermutet haben. Die bislang vielleicht systematischste quellenkritische Studie hierzu hat in den 90er Jahren der Islamwissenschaftler Marco Schöller in seiner Studie Exegetisches Denken und Prophetenbiografie vorgelegt. Laut Schöller handelt es sich bei dieser und fast allen anderen außerkoranischen Erzählungen zu den Ereignissen mit den Juden von Medina nicht um belastbare historische Belege, sondern um das Ergebnis eines komplexen Evolutionsprozesses von Texten, in denen ursprünglich zu fast allen Ereignissen mit den Juden mehrere unterschiedliche Versionen überliefert waren. Demnach lassen sich Überlieferungsstränge finden, in denen die Banu Quraiza nicht vernichtet, sondern mehrheitlich vertrieben worden wären, während eine viel kleinere Gruppe jüdischer Krieger hingerichtet wurde. Ich habe die Argumentation hierzu in einem eigenen Aufsatz über die militärischen Konflikte des Propheten mit den Juden ausführlicher dargestellt (Über die militärischen Konflikte des Propheten mit den Juden von Medina in: Yaşar Sarıkaya / Mark Chalil Bodenstein / Erdal Toprakyaran (Hrsg.): Muhammad. Ein Prophet – viele Facetten, Berlin 2014, S. 195–230. Nachdruck in: PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien (Universität Potsdam), 22 (2016). Es ist bedauerlich, dass die Islamkritik Schöllers anspruchsvolle und differenzierte Quellenkritik nicht zur Kenntnis genommen oder gar aufgearbeitet hat, obwohl diese den Forschungsstand vor nunmehr fast 30 Jahren darstellt.
Fazit
Was noch tun? Es wird schon viel getan: jüdisch-muslimische Bildungsprojekte und Begegnungen, akademische und zivilgesellschaftliche Versuche des Brückenbaus und der Diskriminierungsbekämpfung, und im Hintergrund stets die Hoffnung, dass wir uns doch noch nicht alles zu Sagende gesagt und alles zu Denkende gedacht haben. Dennoch möchte ich statt einer Darstellung dieser Projekte mit einigen eher persönlichen Anmerkungen abschließen, um meiner These treu zu bleiben, dass sehr viel von unserer Weise den Nahostkonflikt zu betrachten abhängt. Mit „wir“ meine ich im Folgenden alle: Nichtmuslime und Muslime, Israel-nahe Menschen und Palästina-nahe Menschen. Stimmen Sie mir gerne zu, oder widersprechen Sie mir. Ich bin der Meinung, dass es eine lange Phase in der Mitte des 20. Jahrhunderts gab, in der es aus arabischer Sicht plausibel war, die Balfour-Deklaration von 1917, den Teilungsplan der UN 1947 und die Staatsgründung Israels 1948 auf einst arabischem bzw. osmanischem Boden grundsätzlich in Frage zu stellen, auch wenn das historische Palästina Mandatsgebiet geworden war. Die Geschichte hat danach aber Fakten geschaffen, die teils schmerzhaft waren und in jedem Fall alles Vorige verändert haben, wie auch an vielen anderen Orten in der Welt nach Kriegen. Es ist spätestens eine oder zwei Generationen nach 1948 und nach zahlreichen Anerkennungen Israels auch durch muslimische Länder keine weise Option mehr Grundsatzdebatten zum Existenzrecht Israels zu führen. Israel wird bleiben, so wie andere Staaten und Grenzziehungen, die nach Kriegen entstanden sind, geblieben sind. Jeder weiß dies. Auf Basis eines solchen rationalen Zugeständnisses hat der dringende Ruf der Palästinenser nach mehr Gerechtigkeit in der Praxis bessere Aussichten auf Erfüllung als durch die Terror-Logik der Hamas, die mit dem 7. Oktober die Palästinenser auf ein noch nie dagewesenes Elend verpflichtet hat.
Es wäre aber verkehrt, hier allein von Palästina-nahen Menschen ein Umdenken einzufordern. Zugleich muss die manchmal an Zynismus grenzende Relativierung des Leids der Palästinenser durch Israel-nahe Stimmen problematisiert werden. Es reicht nicht aus, den antipalästinensischen Rassismus einflussreicher rechtsradikaler Minister in Israel zu verurteilen. Die streckenweise unverhältnismäßige Gewalt des israelischen Militärs in Gaza, die Netanyahu laut vielen Kritikern zum politischen Überleben braucht und das täglich etliche palästinensische Existenzen zerstört, muss auch deutlicher verurteilt und ihr entgegengesteuert werden. Nicht primär, weil diese Gewalt der Popularität der Hamas nützt, auch wenn dies stimmt, sondern primär, weil sie Palästinenser unter unwürdigsten Bedingungen entmenschlicht. „Was kann Israel denn sonst tun, um die Geiseln zu retten?“ ist kein plausibles Argument. Die Familien der israelischen Geiseln und die mit ihnen solidarischen Kreise in Israel haben klare Vorstellungen davon, was zu tun wäre, und tragen diese auf die Straßen: Gezielt verhandeln statt nach militärischer Machtausweitung auf Kosten der Geiseln suchen. Diese Familien der Geiseln werden von der Regierung Netanyahus für ihre Illoyalität verurteilt. Und sie werden von Politikern weltweit, die behaupten auf der Seite der Geiseln zu stehen, überhört.
Asymmetrien hin oder her: Der Konflikt wird beiderseits von gleichermaßen Falschen gesteuert. Wir sollten einüben, die von der Hamas festgehaltenen israelischen Geiseln und die zerstörten Existenzen palästinensischer Familien und Kinder in einem Atemzug zu nennen, mit ihnen beiden mitzufühlen und mitzuweinen. Wenn sich alles in uns dagegen sträubt, dann stimmt womöglich etwas mit unserem moralischen Kompass nicht. Und wir sollten gleichzeitig zornig sein können, sowohl auf die Verantwortlichen in der Hamas als auch in der Regierung Netanyahu. Nur durch den Blick auf beide Seiten können wie die verhärteten Fronten etwas aufweichen, wenn das unser Ziel ist.
Aber geht das denn? Und ob das geht. Kaum jemand hat dies bisher in so klaren und weisen Worten vorgeführt wie die Israelin Elana Kaminka, deren Sohn Yannai mit 20 Jahren als Soldat am 7. Oktober bei der Verteidigung des Kibbutz Zikim ums Leben kam. Ich möchte meinen Vortrag mit einigen Sätze aus einer Rede von ihr aus dem Vorjahr zum Andenken Yannais, der türkischen Kaffee liebte und ein Freund langer persönlicher Gespräche war, abschließen. Diese Rede hielt sie, bevor auf der anderen Seite des Grenzzauns in Gaza entgegen ihres Plädoyers tausende unschuldiger junger Yasins und Aischas durch das israelische Militär getötet wurden. Wir alle täten gut daran, rechtzeitig auf Menschen wie Elana Kaminka zu hören, statt auf kurzsichtige Militaristen. Zugleich sind es solche einfühlsamen und zugleich starken Stimmen wie ihre, mit denen man antijüdische und antiisraelische Ressentiments am wirksamsten erschüttern kann. Sie sagte:
„Ich verstehe nur zu gut, wie schrecklich der 7. Oktober war – ich habe meinen geliebten erstgeborenen Sohn verloren. Es gibt nichts Schmerzhafteres als das. Ich verzeihe keinem Hamas-Terroristen, der Kinder, Frauen und unschuldige Menschen ermordet hat. Aber am leichtesten ist es, in eine Eskalation der Feindseligkeiten abzugleiten, wenn jede Seite nur ihren eigenen Schmerz sieht und einen unkontrollierbaren Flächenbrand entfacht.
Derselbe Glaube veranlasste mich, einen Brief an die [palästinensischen] Nachbarn unserer Gemeinde… zu schreiben, um meinen Schmerz mit ihnen zu teilen und ihre Ängste anzuerkennen. Ich schloss mit folgenden Worten:
Liebe Nachbarn, es tut weh, es tut so weh, aber ich wollte euch sagen, dass ich, wenn ich diesen Schmerz erlebe, auch euch sehe. Mein Herz ist offen für euch. Ich gebe euch nicht die Schuld für die Taten der Hamas, und ich hoffe, dass diese schreckliche Situation unsere Völker dazu bringt, endlich zu lernen, wie man in gegenseitigem Respekt zusammenlebt, damit es keine Eltern mehr gibt – Israelis oder Palästinenser –, die um ihre Kinder trauern. Es gibt keinen anderen Weg.“
Mögen unsere Herzen offen für alle sein.