Im Bewusstsein des Bösen und der Tragik des individuellen Lebens, wie auch im Bewusstsein, dass das Leben würdevoll gelebt sein will.“ Ganz bewusst stelle ich dieses Zitat des ehemaligen UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld (1905–1961) an den Beginn meines Vortrages. Es ist zitiert nach Roger Lipsey in seinem Buch Politik und Gewissen. Dag Hammarskjöld über Leadership und die Kunst der ethischen Führung. Es ist zugegebenermaßen etwas sperrig, bringt aber auf den Punkt, worum es im Letzten geht, wenn wir uns mit dem Thema Verletzte Moral – moralische Verletzung: Über die Bedeutung ethischer Kompetenz im militärischen Alltag beschäftigen.
Einleitung
Nicht erst seit dem 24. Februar 2022, den Bundeskanzler Olaf Scholz als einen Wendepunkt der deutschen Sicherheitspolitik bezeichnet hat, wissen wir um die Gefährdung menschlicher Existenz durch den Krieg. Lange konnten oder wollten wir uns einen solchen Krieg auf europäischem Boden nicht vorstellen. Heute dokumentieren die täglichen Bilder und Nachrichten aus der Ukraine das Leid unzähliger Menschen, das ein solcher Krieg hervorruft. Hier wird sichtbar, was nach meinem Dafürhalten das zentrale Merkmal des moralisch Bösen ist. Es handelt sich nicht um eine mythisch verklärte personifizierte Macht.
Vielmehr geht es um ein zwischenmenschliches Geschehen, bei dem die Solidarität des Menschen mit dem Menschen preisgegeben wird, so dass physische, seelische und moralische Zerstörungen nicht nur in Kauf genommen, sondern auch intendiert werden. Die Folgen sind im wahrsten Sinne des Wortes desaströs; es steht das Leben des einzelnen Individuums wie auch seiner Gemeinschaft auf dem Spiel.
Das Phänomen der moralischen Verletzung, um das es heute gehen soll, unterstreicht in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Auseinandersetzung mit moralischen und ethischen Fragen. Sie ruft uns immer wieder neu die Würde des Menschen in Erinnerung und die Notwendigkeit, uns dieser Würde dienstbar zu machen. Hierbei handelt es sich um ein Phänomen an der Schnittstelle von Psychiatrie und Ethik, das zunehmend Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Fachrichtungen in Forschung und Lehre beschäftigt.
Im Anschluss an meine einleitenden Gedanken möchte ich in einem ersten Schritt einige zentrale Begriffe in den Blick nehmen; Begriffe, die für die Beschäftigung mit unserem Thema unerlässliches Handwerkszeug darstellen. Aufbauend hierauf werden wir uns der Frage nach den ethischen Herausforderungen im militärischen Alltag widmen. Warum tut es Not, dass wir uns in der Bundeswehr mit Ethik beschäftigen? Braucht es eine solche Beschäftigung überhaupt? Oder handelt es sich hierbei um einen zu vernachlässigenden Soft Skill?
Insbesondere das Phänomen der Moralischen Verletzung scheint hier all jene eines Besseren zu belehren, die die Frage nach dem vernachlässigbaren Soft Skill bejahen. Denn neben körperlichen und seelischen Verletzungen kommt der moralischen Verletzung eine zunehmend wichtige Bedeutung zu, mit wichtigen Konsequenzen für die Ausbildung von Soldaten und Soldatinnen. Einen Eindruck von der Bedeutung ethischen Kompetenzerwerbs im Umgang mit moralisch schädigenden Ereignissen vermittelt das Moral Fitness Model on Coping with Moral Harm, mit dem ich das Phänomen der moralischen Verletzung in einen größeren Zusammenhang ethischen Kompetenzerwerbs stelle.
Ethik, Moral, Beruf?
Ethik und Moral sind Begriffe, mit denen wir auf vielfältige Weise in unserem privaten und beruflichen Alltag konfrontiert werden. Alle kennen sie. Alle gebrauchen sie. Aber nicht wenige kommen ins Schlingern, wenn sie sagen sollen, was denn eigentlich mit Ethik und Moral genau gemeint ist. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Ethiker und Ethikerinnen sich keineswegs immer einig über ihre Bedeutungen sind.
Lassen Sie uns zunächst einen Blick auf den Begriff Ethik werfen. Er meint die wissenschaftlich-kritische Reflexion moralischer Handlungen und der diesen Handlungen zugrundeliegenden moralischen Werte, Prinzipien und Normen. Die Ethik als akademische Disziplin lässt sich dabei weiter untergliedern. Neben der Fundamentalethik, die sich grundlegenden Fragen des Faches widmet, lassen sich eine Vielzahl von Bereichsethiken ausmachen, so zum Beispiel die Medizinethik, die Militärethik, die Umweltethik oder die Cyberethik.
Die Ethik ist Teil der sogenannten Humanwissenschaften, das heißt, derjenigen Wissenschaften, die den Menschen und seine Besonderheiten erforschen. Hierzu gehört nicht zuletzt seine Befähigung, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und entsprechend zu handeln; etwas, das sich mit den Begriffen Moralität oder Sittlichkeit beschreiben lässt. Tatsächlich lohnt es sich darüber nachzudenken, was Moralität oder Sittlichkeit bedeuten. Ethisches Denken ist eng gekoppelt, an die Einsicht ein moralisch oder sittlich begabtes Wesen zu sein! Wann haben Sie sich das letzte Mal als ein solches wahrgenommen?
Unser Leben ist gekennzeichnet durch unzählige Handlungen, die wir tagtäglich vollziehen. Nicht immer machen wir uns darüber Gedanken, ob eine Handlung richtig oder falsch ist. Wird diese Frage bei der Handlungsentscheidung zum Thema, lässt sich von einer moralischen Handlung sprechen, die Ausdruck unserer moralischen Werte, Prinzipien und Normen ist.
Die Rede von moralischen Werten, Prinzipien und Normen ist Ausdruck unserer moralischen Orientierung. Sie spielen als Orientierungshilfe bei der Handlungsentscheidung eine wichtige Rolle. Als ein bedeutsamer Wert lässt sich zum Beispiel das Leben benennen und hiervon ausgehend das Prinzip des Lebensschutzes ableiten. Dieses Prinzip wiederum spiegelt sich in einer Reihe von Normen, wie beispielsweise „Rette Ertrinkende!“ oder „Gib Verhungernden zu essen!“
Wir Menschen verfügen über eine Vielzahl gemeinsam geteilter, aber auch individueller Werte, Prinzipien und Normen. Ihre Vermittlung und Aneignung erfolgt in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise in der Familie, der Schule oder aber auch der Bundeswehr. Die Summe der Werte, Prinzipien und Normen eines Individuums oder einer Gemeinschaft lässt sich mit dem Begriff Moral zusammenfassen.
Um eine Handlungssituation moralisch zu beurteilen und entsprechend handeln zu können, braucht es eine moralische Kompetenz. Alternativ könnte man auch von moralischer Fitness (Moral Fitness) sprechen, ein Begriff, den ich persönlich in diesem Zusammenhang gerne verwende. Dabei ist die Analogie zum Fitnessbegriff im Sport durchaus gewollt! Wenn Sie sich entschließen, einmal in Ihrem Leben einen Marathon zu laufen, dann macht Sie dieser Entschluss noch lange nicht zu einem Marathonläufer oder einer Marathonläuferin. Es bedarf vieler, oft mühseliger Vorbereitungen, bis es soweit ist. Vielleicht werden Sie ein Buch zum Thema lesen oder sich mit jemandem unterhalten, der das schon einmal gemacht hat. Sie werden sich Gedanken über Ihre Ernährung machen. Vor allem aber werden Sie mit dem Lauftraining beginnen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Entschluss, ein moralischer Mensch zu sein. Nur der Entschluss, dass es erstrebenswert ist, gerecht zu sein, macht Sie noch lange nicht zu einem gerechten Menschen. Sie müssen ran an die Baustelle und theoretisch wie praktisch mit dem Training beginnen.
Dies ist umso wichtiger, als es eine Vielzahl von Handlungssituationen gibt, in denen es eine einfache Lösung im Sinne von richtig oder falsch nicht gibt. Diese moralischen Dilemmata wird dadurch gekennzeichnet, dass zwei oder mehr gleichrangige moralische Werte, Prinzipien oder Normen aufeinandertreffen. In diesen Fällen hat Ihre Entscheidung sowohl positive als auch negative Folgen, was sehr belastend, manchmal traumatisierend sein kann. Im militärischen Kontext kann ein moralisches Dilemma nicht selten den Charakter eines doppelten Loyalitätskonfliktes (Dual Loyalty Conflict) annehmen. Hierbei handelt es sich um eine Konfliktsituation, die sich beispielsweise aus einer ärztlichen und militärischen Doppelverwendung ergibt. Hier kollidieren die Werte, Prinzipien und Normen der Angehörigen eines Heilberufes mit soldatischen Werten, Prinzipien und Normen. Dies kann zum Beispiel im Einsatz der Fall sein, wenn aus einsatztechnischen Gründen eine Versorgung der Zivilbevölkerung nicht möglich ist und militärischen Zielen untergeordnet werden muss.
Ethische Herausforderungen im militärischen Alltag
Die Beschäftigung mit dem Begriff des doppelten Loyalitätskonfliktes hat uns schon mitten hineingeführt in den nächsten Teil meines Vortrages, in dem es um die ethischen Herausforderungen im militärischen Alltag gehen soll. Dabei steht die Frage „Warum soll ich mich überhaupt mit ethischen Fragen beschäftigen?“ am Anfang einer zielführenden Beschäftigung mit ethischen bzw. moralischen Fragen. Es wird Sie wenig überraschen, wenn ich auf diese initiale Frage die Antwort gebe: Weil es hier eine wichtige und zentrale Kompetenz zu erwerben gilt! Und wir brauchen nur einen kurzen Blick auf die aktuelle Werbekampagne der Bundeswehr zu werfen, um zu erkennen, dass Ethik und Moral hierbei eine wichtige Rolle spielen. Slogans wie beispielsweise „Hier kämpfst du für deine Patienten. Nicht für den Profit.“ oder „Hier lernst du den Unterschied zwischen Führen und Vorführen.“, die sich in großen Buchstaben auf den Plakaten zur Kampagne finden, vermitteln ein konkretes Bild vom Soldatenberuf und seinen Werten, Normen und Prinzipien.
Die Frage „Was für Soldaten und Soldatinnen möchten wir sein?“ ist untrennbar verbunden mit einer Reihe weitere Fragen, die sich aus den Rollen ergeben, die wir in unserem Leben einnehmen. So lässt sich darüber hinaus fragen: „Was für Eltern möchten wir sein?“ oder „Was für Ärzte und Ärztinnen?“ oder „Was für Staatsbürger und Staatsbürgerinnen?“ Diese Fragen münden letztlich in die übergeordnete Frage „Was für Menschen möchten wir sein?“ Und diese Frage steht und fällt mit der Annahme der ethischen und moralischen Herausforderungen im militärischen oder privaten Alltag. Beide Bereiche sind untrennbar miteinander verbunden. Die ethischen Entscheidungen im Dienst wirken zurück auf mein Privatleben und umgekehrt. Die verschiedenen Rollen, die mich und mein Leben kennzeichnen, lassen sich nur integrativ, niemals losgelöst voneinander, geschweige denn gegeneinander verwirklichen. Dies stellt eine nicht zu unterschätzende Aufgabe dar.
Wenn es um die unterschiedlichen Sphären soldatischer Kompetenz geht, kommt also der Ethik eine wichtige Funktion zu. In Modifikation des Comprehensive Soldier Fitness Model der US-Army hat die Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik vor einigen Jahren ein dreigliedriges Modell entwickelt, das mit drei soldatischen Kompetenzbereichen arbeitet. Ausführlich habe ich das in meinem Text Medizinische Ethik im militärischen Kontext. Eine Herausforderung für Forschung und Lehre, in der Zeitschrift Ethik und Militär, Heft 02/2019, auf den Seiten 50–56 abgehandelt. Neben der körperlichen Fitness und der mentalen Fitness weist dieses Modell auch die moralische Fitness aus.
Von körperlichen, seelischen und moralischen Verletzungen
Dies erscheint nicht zuletzt mit Blick auf die Bedeutung möglicher moralischer Traumata geboten. Neben physischen und psychischen Verletzungen spielen moralische Verletzungen eine zunehmend wichtige Rolle. Auch wenn es sie der Sache nach schon immer gegeben hat, werden sie heute infolge der bereits angesprochenen interdisziplinären Moral-Injury-Forschung auch in der Öffentlichkeit vermehrt wahrgenommen. Dabei treten moralische Verletzungen im Rahmen psychischer Traumafolgestörungen auf.
Kurz möchte ich deshalb auf die Dimensionen psychischer Verletzungen eingehen, die zumeist die Folge starker seelischer Erschütterungen aufgrund von (lebens-)gefährdenden Ereignissen sind und mit einem starken Erleben von Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen einhergehen. Verhältnismäßig knapp formuliert in diesem Zusammenhang die Internationale Definition von Krankheiten (ICD 11) der Weltgesundheitsorganisation: „Die Betroffenen waren einem kurzen oder langanhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt.“
Ein eingehender Blick auf die Ursachen erlaubt hier eine Differenzierung zwischen akzidentiellen und interpersonellen Traumata. Während akzidentielle Traumata vor allem den Charakter von Natur- oder Technikkatastrophen haben, charakterisiert interpersonelle Traumata (wir sprechen hier auch von „man made“ im Sinne von „menschengemacht“) eine zwischenmenschliche Handlung. Beispielsweise wären hier zu nennen: kriminelle Gewalt, sexueller Missbrauch, bewaffneter Raub, häusliche Gewalt, Krieg, Kampf, Folter, Geiselnahme oder Gefangenschaft im Konzentrationslager. Julia Schellong et al. beschreiben das ausführlich im Praxisbuch Psychotraumatologie im Jahr 2018.
Diese interpersonellen Traumata lassen allesamt erkennen, dass es hierbei im Unterschied zu den akzidentiellen Traumata um schwerwiegende moralische Fragen geht. Diesem Unterschied trägt auch die traditionelle philosophische Unterscheidung möglicher Übel Rechnung, die Menschen widerfahren können: Neben den als malum physicum bezeichneten Naturkatastrophen, wird menschenverursachtes Übel als malum morale ausgewiesen. Es ist interessant zu sehen, dass sowohl die Rede vom interpersonellen Trauma als auch vom malum morale indirekt schon immer auf das heute als Moral Injury bezeichnete Phänomen verwiesen haben.
Die Erkenntnis, dass moralische Verletzungen im Kontext von Traumafolgestörungen eine wichtige Rolle spielen können, führte um das Jahr 2010 zur Formulierung des Moral-Injury-Konzeptes. So formulierte im Jahr 2010 Peter Zimmermann vom Psychotraumazentrum in Berlin folgende Fragen: „Inwieweit können explizit Ereignisse mit einer moralischen Dimension zu einer psychischen Beeinträchtigung führen? Besteht das Risiko, eine länger andauernde Störung zu entwickeln? Lässt sich eine eigene (Unter-)Gruppe an einsatzbedingten Störungen aufgrund von Verletzungen der eigenen Moralvorstellungen abgrenzen? Welche Konsequenzen hätte eine Störung dieser spezifischen Ätiologie für die Therapie und auch Prävention?“
Zehn Jahre später sind die meisten dieser wichtigen Fragen Gegenstand intensiver interdisziplinärer Forschung in Psychiatrie, Psychologie, Soziologie, Philosophie und Theologie. Auch wenn Moral Injury ein relativ junges Krankheitsbild darstellt, dass im Rahmen von Traumafolgestörungen auftreten kann, der Sache nach hat es moralische Verletzungen immer schon gegeben. Interpersonelle Traumata (oder die Erfahrung eines moralischen Übels) und der von ihnen bedingte tiefgreifende Wert- und Normenkonflikt stellten seit jeher eine besondere Herausforderung dar und fanden vielfältigen Niederschlag nicht zuletzt in Kunst und auch Literatur.
Mit Blick auf den derzeitigen Wissens- und Forschungsstand lässt sich Moral Injury wie folgt definieren: Moral Injury bezeichnet eine tiefgreifende moralische Erschütterung im Rahmen psychisch traumatisierender Ereignisse, bei der eigenes oder fremdes Handeln/Nichthandeln im Widerspruch zum Werte- und Normenbewusstsein der Betroffenen steht und mit demselben nicht mehr zur Deckung gebracht werden kann. Hierbei lassen sich drei Aspekte besonders hervorheben: Es handelt sich um eine tiefgreifende moralische Erschütterung im Rahmen psychisch traumatisierender Ereignisse; es geht um eigenes oder fremdes Handeln/Nichthandeln; dieses Handeln steht im Widerspruch zum Werte- und Normenbewusstsein der Betroffenen.
Die Betroffenen können also durch eigenes Handeln/Nichthandeln eine moralische Verletzung erleiden, indem sie beispielsweise zu einer Handlung/Nichthandlung gezwungen wurden. Oder sie können durch fremdes Handeln/Nichthandeln eine moralische Verletzung erleiden; als Opfer, weil sich die Handlung/Nichthandlung direkt gegen die Betroffenen richtet, oder als Zeuge resp. Zeugin, weil man die entsprechende Handlung beobachtet und nicht intervenieren kann.
Das Moral-Fitness-Modell
Für die Ethik hat das Thema der Moral Injury in meinen Augen in mehrfacher Hinsicht eine erhebliche Bedeutung. Es zeigt sich, dass ethische und moralische Fragen eine direkte klinische Relevanz haben im Hinblick auf Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Prävention moralischer Verletzungen. Denken Sie beispielsweise an die Bedeutung ethischen Denkens im Hinblick auf den therapeutischen Dialog. Moralische Konflikte als solche zu erkennen, zu benennen und zu besprechen, setzt sowohl auf therapeutischer Seite als auch auf Seite des Patienten resp. der Patientin ein nicht unerhebliches Maß an ethischer Kompetenz voraus.
Im Folgenden möchte ich Ihnen ein Modell vorstellen, mit dem ich das Phänomen der Moral Injury in den größeren Zusammenhang ethischen Lernens und ethischer Kompetenz stelle. Entstanden ist dieses Modell im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Literatur zur Moral-Injury-Thematik, die zwar unterschiedliche Aspekte beleuchtet, diese jedoch zumeist nicht miteinander in Verbindung bringt, so dass sich eine Art Zusammenschau ergibt. Anhand von zehn Einzelschritten werde ich Sie im Folgenden durch dieses Modell, wie Sie es in der Grafik sehen, geleiten und einzelne Aspekte näher darstellen.
Beginnen wir auf der Ebene des Ethical Training, an dem die Soldaten und Soldatinnen teilnehmen. Das Ethical Training dient der Erarbeitung einer Moral Fitness, die wiederum eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit einem moralisch schädigenden Ereignis (Moral Harm) im Einsatz spielt. Was lässt sich eigentlich unter moralischer Fitness (Moral Fitness) konkret verstehen? Moral Fitness meint zunächst einmal die Erkenntnis, dass wir Menschen moralische Wesen sind. Hiermit einher geht ein Verständnis für die Bedeutung ethischer Fragen und die Bereitschaft, sich mit diesen zu beschäftigen. Das ist letztendlich die Voraussetzung für den ethischen Kompetenzerwerb.
Eine wichtige Rolle spielt sicherlich auch das Arbeiten an und Eintreten für moralische Werte, Prinzipien und Normen. Auch die Förderung der Vermittlung ethischer Bildung ist Ausdruck von moralischer Fitness, beispielsweise in der Familie, bei der Erziehung der Kinder, aber auch im Dienst. Dies gilt natürlich in besonderer Weise für Sie als Offiziere und Offizierinnen in Vorgesetztenfunktion. Am Beispiel der Moral Fitness in der Wehrmedizin lässt sich das noch einmal konkretisieren: Auch hier steht an erster Stelle das Verständnis für die Bedeutung wehrmedizinethischer Fragen und die Bedeutung, sich hiermit zu beschäftigen. Hinzu kommt das Wissen um spezielle moralische Entscheidungssituationen, die im Alltag von Sanitätspersonal bisweilen die Form eines doppelten Loyalitäten-Konfliktes annehmen können. Zentrale Bedeutung hat die Kenntnis der medizinethischen Referenztexte (Genfer Ärztegelöbnis, Selbstbild, Leitbild und Leitspruch des Sanitätsdienstes etc.). Damit einher geht das Eintreten für medizinethische Werte gerade auch in militärischen Kontexten (Stichwort: „Der Menschlichkeit verpflichtet!“ und „Waffenloser Dienst“). Heute kommt das Wissen um Moral Injury hinzu. Auch die Kenntnis des Moral-Fitness-Modells könnte man hier anführen.
Wenn wir jetzt auf das Stichwort Moral Harm schauen, also auf das potenziell moralisch verletzende Ereignis, aus dem eine moralische Verletzung resultieren kann, dann gilt es festzuhalten, dass ein Unterschied besteht zwischen Moral Harm und Moral Injury. Moral Harm meint die Ursache, also das traumatisierende Ereignis, während Moral Injury die mögliche pathopsychologische Folge bezeichnet.
Ich hatte Ihnen bereits den psychologischen Begriff des interpersonellen Traumas vorgestellt; Moral Harm ist hierzu der ethische Referenzbegriff, für den ich Ihnen jetzt noch einige Beispiele aus dem militärischen Kontext geben möchte. Vor allem lassen sich folgende Ereignisse ausmachen: Erleben von Gewalt und Zerstörung, Waffengebrauch, Verletzung und Verwundung, Tod und Verstöße gegen die Genfer Konvention. Im Zusammenhang mit Gewalt und Zerstörung spielen folgende Aspekte eine wichtige Rolle: der Anblick zerstörter Häuser und Ortschaften, die Zeugenschaft von Brutalität, Gewalt und Misshandlung, aber auch das Erleben eines Angriffes oder Überfalls.
Hinsichtlich des Waffengebrauchs erweisen sich der Befehl zum Beschuss gegnerischer Kräfte, das Zielen und Schießen auf gegnerische Kräfte und die Verantwortung für den Tod generischer Kräfte als bedeutsam. Bei Verletzungen und Verwundungen sind vor allem der hilflose Anblick kranker und verletzter Frauen und Kinder, der Anblick schwer verwundeter Kameraden resp. Kameradinnen oder das eigene Verwundet- oder Verletztwerden von großer Bedeutung. Der Umgang mit dem Tod stellt natürlich immer eine besondere Herausforderung in unserem Leben dar, verschärft sich jedoch in der Einsatzsituation durch den Anblick und/oder die Identifikation von Leichen und Leichenteilen.
Hier wären ferner noch zu nennen: Zeuge des Todes eines Kameraden oder einer Kameradin zu sein und die Verantwortung für den Tod eines Kameraden oder einer Kameradin. Bei Verstößen gegen das Humanitäre Völkerrecht handelt es sich um ein weites Feld. Im Hinblick auf moralische Verletzungen sind jedoch insbesondere folgende Punkte zu nennen: Folter, Missachtung des Schutzzeichens und Waffengebrauch durch Sanitätspersonal.
Dass diese Erlebnisse mit zum Teil erheblichem moralischem Stress (Moral Stress) einhergehen, versteht sich von selbst. Dieser moralische Stress kann – analog zum klassischen Stressmodell und je nach Resilienzlage – entweder als moralischer Dysstress (Moral Dystress) oder moralischer Eustress (Moral Eustress) erfahren werden. Moralische Resilienz (Moral Resilience) meint in diesem Zusammenhang das individuell ausgeprägte Verhältnis von moralischer Verletzbarkeit (Moral Vulnerability) und moralischer Stärke (Moral Strength).
Je nachdem prägt im Weiteren eine Moral Challenge oder eine Moral Injury die individuelle Entwicklung der Betroffenen. Entsprechend kann zwischen einem Moral-Challenge-Complex (M-C-Complex) und einem Moral-Injury-Complex (M-I-Complex) unterschieden werden.
Wenn wir uns das jetzt einmal gesondert anschauen, zunächst für den Moral-Challenge-Complex, dann kann es über verschiedene Zwischenstufen (Moral Awareness, Moral Processing und Moral Adaption) zu einem moralischen Wachstum (Moral Growth) kommen. Auf der anderen Seite (Moral-Injury-Complex) steht die klinische Auseinandersetzung mit Moral Injury im Fokus. Als Schritte sind hier Diagnostik, Therapie und Rehabilitation zu nennen, die im Idealfall in eine Moral Recovery münden.
Zum klinischen Bild der moralischen Verletzung möchte ich an dieser Stelle noch ein paar Gesichtspunkte ergänzen: Bei Moral Injury haben wir es mit einem Symptomenkomplex zu tun, der vordergründig gekennzeichnet ist durch das Erleben von Schuld und Scham, Entfremdung, sozialem Rückzug und Anhedonie (Verlust der Fähigkeit Freude zu empfinden in Situationen, die früher Freude bereitet haben). In der Folge kann es zu Depressionen und Aggressivität kommen. Im Unterschied zur Posttraumatischen Belastungsstörung ohne Moral Injury spielen Anpassungs- und Angststörungen, Intrusionen bzw. Flashbacks (Wiedererinnern und Wiedererleben von traumatischen Ereignissen sowie den damit verbundenen Gedanken und Emotionen) eine weniger ausgeprägte Rolle.
Im Hinblick auf die Therapie lässt sich sagen, dass in der sanitätsdienstlichen Behandlung von Traumafolgestörungen moralische Fragen des Einsatzgeschehen einen zunehmenden Stellenwert einnehmen. Neben trauma-therapeutischen Methoden wie der EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) spielt die gruppentherapeutische Aufarbeitung von moralischen Konflikten und Veränderungen im Wertesystem eine wichtige Rolle. Voraussetzung hierfür ist eine einsatzbedingte psychische Erkrankung (PTBS, Angst-, Anpassungsstörung etc.) aktiver oder ehemaliger Soldaten resp. Soldatinnen in therapeutischer Anbindung. Der therapeutische Ansatz ist interdisziplinär, d. h. Angehörige von Psychiatrie, Psychologie, Seelsorge und Fachpflege widmen sich der Versorgung der Betroffenen.
Ein wichtiger Aspekt des Modells, auf den ich noch zu sprechen kommen muss, sind die säulenartigen Gebilde, die Sie rechts und links außen auf der Grafik sehen. Hierbei handelt es sich um eine Reihe unterstützender Faktoren: Military Support, Spiritual Support, Mental Support und Social Support. Unter Military Support lässt sich die Unterstützung seitens der Institution Bundeswehr festhalten. Das reicht von den Kameraden und Kameradinnen über militärische Vorgesetzte, die ein offenes Ohr für die Probleme der Soldaten und Soldatinnen haben, bis hin zu den Mitgliedern des Deutschen Bundestags. Spiritual Support bezeichnet in diesem Zusammenhang die Militärseelsorge. Hier findet sich zumeist eine erste Anlaufstelle, wenn es zu entsprechenden Konflikten kommt. Auch die Psychologen und Psychologinnen wirken als wichtiger unterstützender Faktor im Sinne eines Mental Support. Von großer Wichtigkeit ist der Social Support. Hierunter lässt sich die Unterstützung der Familie und Freunde zusammenfassen. Die unterstützenden Faktoren spielen eine wichtige Rolle bei der Be- und Verarbeitung potenziell traumatisierender Ereignisse. Eine mangelhafte Unterstützung kann dazu führen, dass ein moralisch eutressiges Erleben in moralischen Dystress umschlägt und umgekehrt.
Abschließend gilt es festzuhalten, dass es in der Folge zu einer Re-Evaluierung des Ereignisses und einer Stärkung der Moral Fitness kommen kann. Die gemachten Erfahrungen und ihre Verarbeitung werden im Idealfall durch die Betroffenen in den weiteren ethischen Lernprozess (Ethical Training) eingebracht.
Zusammenfassung und Ausblick
Moral Injury findet zunehmend Beachtung als neues Krankheitsbild, dessen Erforschung durch einen interdisziplinären Ansatz in Psychiatrie, Psychologe, Soziologie und Ethik erfolgt. Hierbei zeigt sich die Bedeutung ethischer Kompetenz im Hinblick auf Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation der Moral Injury.
Die Bedeutung ethischen Lernens für den militärischen Alltag verdeutlicht das Moral-Fitness-Modell für den Umgang mit potenziell moralisch schädigenden Ereignissen. Die klinische Relevanz moralischer Verletzungen unterstreicht die Bedeutung der Weiterentwicklung ethischer Lehrformate in Theorie und Praxis im Rahmen einer kompetenzorientierten Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Vermittlung ethischer Bildung und Kompetenz in der Bundeswehr in den nächsten Jahren nicht zuletzt mit Blick auf die Moral-Injury-Problematik wichtige Impulse erhalten wird. Dabei wird die Moral Fitness als soldatische Kernkompetenz zunehmend an Bedeutung gewinnen.