Ein Kurzporträt soll bekanntlich keine opernhafte Länge haben, sondern ist so etwas wie eine Momentaufnahme, durchaus aber mehr als ein Schnappschuss. Ein „komponiertes Kurzporträt“ haben wir in der Veranstaltung schon gehört mit dem Cellisten Jakob Spahn! Eindrucksvoll und hochvirtuos. Es gab einen Eindruck, wie der letztlich unauslotbare Penderecki mit diesem Instrument Violoncello umgeht und wie er dabei komponierend die Freundschaft mit dem Cellisten Siegfried Palm pflegt. Die spieltechnischen Anforderungen treibt er ins Extreme, wobei er zugleich Spiel und Theater miteinander verknüpft.
Eine integrative Persönlichkeit
Auf das virtuose Spiel in der Veranstaltung folgen jetzt für die Dokumentation in der Zeitschrift zur debatte die dürren Worte. Versuchen wir es mit einem Cantus firmus, einem Thema, das für Penderecki charakteristisch ist und das sich mit Beispielen gleichsam orchestrieren lässt. Ich stelle die Überlegungen unter das Stichwort „Integrativ“. Das meint, dass es Penderecki sehr oft um ein „und“ ging, um ein „sowohl-als auch“, und seltener um ein „entweder-oder“; außer wenn Qualität auf dem Spiel steht. Einige persönliche Erinnerungen sollen auch erwähnt werden. Gleich die erste bezieht sich auf ein Gastspiel Pendereckis in der Veranstaltungsreihe Regio mit Konzerten in Basel, Straßburg und Freiburg.
Als er in Freiburg im Breisgau, wo ich herkomme, seine Lukas-Passion mit Studierenden – Solisten, Chor und Orchester – aus drei Musikhochschulen dirigiert hat, war er in Personalunion – wie so oft in seiner Karriere – der Komponist und der Dirigent seines großen oratorischen Werkes. Und er war zugleich ein Pädagoge für die mitwirkenden Studierenden. All das sind ja bereits integrative Tendenzen. Beim Proben war er durchaus streng und fordernd. Aber alles stand im Dienst des Werkes: Er hat genau das gefordert, was diese Passion braucht, um gut zu erklingen – als Musik von Leid und Leidenschaft.
Als charakteristisch für Pendereckis Schaffen nennt die Preisbegründung der Katholischen Akademie in Bayern anlässlich der Verleihung des Romano-Guardini-Preises 2002 Pendereckis „eigene Synthese von Innovation und Tradition“ sowie die „über Grenzen und Kulturen hinweg verständliche Tonsprache“, mit der er „sein Werk in den Dienst einer universalen Humanität und Toleranz“ stellt.
Das sind weitere Integrationen! Tradition und Innovation zum einen, und zum anderen Qualität und Verstehbarkeit im Sinne unmittelbarer Fasslichkeit. Was „Musik verstehen“ heißt, ist ja nicht so einfach zu sagen. Das Stück, das wir in der Veranstaltung gehört haben, denke ich, eröffnet viele Möglichkeiten des Verstehens. Pendereckis Musik bleibt jedenfalls nicht hermetisch, sondern sie hat einen hermeneutischen Grundzug. Ideen für ein Verstehen wären etwa: „Da reizt der Komponist die Möglichkeiten eines Instruments aus!“ Oder: „Da treibt der Interpret ein lustvoll komponiertes Spiel mit seinem Instrument; sie bleiben verschieden, um gleichsam auszuprobieren, wie intensiv Instrument und Spieler eins werden können.“ Bestimmt haben Sie eigene Assoziationen, die zunächst einmal alle ihr Recht haben. Charakteristisch für Penderecki ist, dass er das jeder und jedem ermöglicht, der unbefangen und neugierig zuhört. Man muss – zunächst einmal – nichts wissen und kennen! Man kann das Verstehen aber mit Hör-Erfahrungen und auch mit Aspekten des Wissens vertiefen. Auch deshalb sind wir ja bei der Veranstaltung gewesen.
Kehren wir aber zurück zu Pendereckis Integrationen. Seine „Synthese von Innovation und Tradition“ war durchaus umstritten. Warum? Im allbekannten Modell des „Entweder–oder“ heißt die Frage: Innovativ und Modern im Sinne einer Avantgarde, oder Rückwendung und Bindung an Traditionen. Pendereckis komponierte Antworten unterlaufen die Frage mit der Position des „Sowohl – als auch“. Das meint die Integration traditioneller Aspekte in ein neues Komponieren, das durch solche Momente und Perspektiven der Tradition nichts verliert, sondern vieles gewinnt.
Drei Preise beim Kompositionswettbewerb
Blicken wir kurz auf sein Leben: Geboren wurde Krzysztof Penderecki 1933 im polnischen Städtchen Debica, 130 Kilometer südöstlich von Krakau. Durch seinen Vater, der von Beruf Rechtsanwalt und zugleich ein begeisterter Violinspieler war, kam er früh mit Musik in Berührung. Er erhielt Violin- und Klavierunterricht. Nach dem Abitur 1951 begann er in Krakau zunächst mit dem Studium der Philosophie, Kunst- und Literaturgeschichte, wechselte aber bald an das dortige Konservatorium, zunächst mit dem Hauptfach Violine, ab 1954 dann im Fach Komposition. 1958 legte er in Krakau sein Diplom in Komposition ab und übernahm sogleich eine eigene Kompositionsklasse.
Pendereckis erster, noch regional begrenzter Durchbruch war 1959 beim zweiten Warschauer Wettbewerb Junger Polnischer Komponisten. Für seine anonym eingereichten Werke, „sicherheitshalber drei Werke“ sagt er in einem Interview – sie heißen „Aus den Psalmen Davids“, „Emanationen“ und „Strophen“ – erhielt er alle drei Preise (einen ersten und zwei zweite). In der Jury saßen so berühmte Komponisten wie Witold Lutoslawski und Kazimierz Sikorski.
Jahrzehnte später wies Penderecki in einem Interview darauf hin, dass er zur Wahrung der Anonymität eines der drei eingereichten Werke rechtshändig geschrieben hat und das zweite linkshändig; das dritte ließ er von einem Freund abschreiben. Die Überraschung der Jury über ihre Entscheidung soll groß gewesen sein. Bei einem längeren Radiointerview hat er auch mir diese Geschichte ganz humorvoll und zugleich ernsthaft geschildert. Ernsthaft, weil dies ein überaus wichtiger früher Schritt seiner Karriere war: Ein Schritt in Richtung Emanzipation und Selbstständigkeit. Der erste Preis war damals die Reise in den Westen! Im Westen winkte die Stadt Darmstadt als Ort der Neuen Musik. Aber diese Faszination verblasste. Penderecki reiste auf Kosten des polnischen Kultusministeriums nach Italien, auch um den Komponisten Luigi Nono zu treffen.
Intermezzo: Der Baumexperte und die kranke Dorflinde
An dieses Interview mit Penderecki im Sommer 2003 erinnere ich mich sehr gern. Wir trafen uns im Funkhaus in Stuttgart. Während die Mikrophone eingerichtet wurden, sollte wie immer etwas geplaudert werden. In der Technik müssen ja die Stimmen zu hören sein. Man redet dann am besten über das Wetter und nicht über das eigentliche Thema, weil man sonst vieles vorwegnimmt und dann im Gespräch doch wieder aus Versehen weglässt. Also sprachen wir über Pendereckis großen Park mit Bäumen aus aller Welt – und ich erwähnte beiläufig, dass die Dorflinde im kleinen Schwarzwalddorf, in dem ich wohne, an irgendetwas erkrankt ist und vielleicht sogar gefällt werden muss. Penderecki nahm wirklich Anteil und gab sofort fachkundige Ratschläge, wie man eine über hundertjährige Linde vielleicht doch noch retten kann. An die Einzelheiten kann ich mich nicht mehr so genau erinnern. Aber an seine Liebenswürdigkeit noch sehr gern. In seinem Arboretum wuchsen damals ca. 1600 verschiedene Arten von Sträuchern und Bäumen.
Doch zurück zum Stichwort „integrativ“, das wir vielleicht gar nicht verlassen haben. „Integrativ“ meint auch das Wirken auf verschiedenen Klaviaturen. Penderecki konnte seine verschiedenen Tätigkeiten geradezu virtuos miteinander verbinden. Vor dem erwähnten Radio-Interview hat er in der Musikhochschule Stuttgart komponiert. Und anschließend waren dann Proben in Schwäbisch Gmünd für die Lukas-Passion, die er dort am nächsten oder übernächsten Tag zu dirigieren hatte. Im Interview meinte er, dass er trotz der 60 Konzerte, die er damals jährlich dirigiert hat, doch immer versucht, „im Komponieren zu bleiben“. Er könne – das als kleines Beispiel für seinen Humor – nicht nur verschiedene Tempi komponieren (das kann ja jeder!), sondern er kann in verschiedenen Tempi komponieren. So kann er ein Werk zunächst im andante beginnen, um gegen Ende dann, wenn die Zeit knapp wird, das Stück im Tempo agitato zu vollenden.
Geistlich und weltlich als Einheit
Eine Ausnahmeerscheinung im Musikleben war Penderecki in mehrfacher Hinsicht. Wie kaum ein anderer Komponist – von Olivier Messiaen abgesehen – hat er sich der geistlichen Musik gewidmet. Er wählte die geistliche Musik und die Zwölftonmusik zunächst auch deshalb, weil beides damals verboten war!
Der „Avantgarde als Dogma“ wollte er die „Avantgarde mit menschlichem Antlitz“ entgegensetzen: etwas Individuelles, etwas geschichtsbewusstes. Die Tradition zu kopieren schien ihm ähnlich töricht wie das Dogma, sich immer wieder neu von ihr zu distanzieren. Er suchte und fand ein unbefangenes Verhältnis, eher spielerisch und eben integrativ. Entscheiden Sie am besten selbst, ob solche Maximen nur etwas für Komponisten sind – oder ob das nicht grundlegende Fragestellungen sind: gesellschaftlich und kulturell, kirchlich und persönlich.
Einen sehr schönen Satz sagte er zu seiner Lukas-Passion – auf die Frage, wie es denn hier mit der Bach’schen Tradition steht, die auch eine Blockade sein kann. Penderecki gab zur Antwort: „Jeder Komponist hat Angst vor Johann Sebastian Bach. Aber ich war zu jung, um Angst zu haben.“
Den internationalen Rang Pendereckis begründete 1966 seine Lukas-Passion: entstanden anlässlich der 1000-Jahrfeier der Christianisierung Polens und im Dom zu Münster in Westfalen uraufgeführte Lukas-Passion mit dem Titel Passio et mors Domini Jesu Christi secundum Lucam in lateinischer Sprache, für die er mehrere Preise erhielt. In diesem überaus komplexen vokal-instrumentalen Werk begegnet die altehrwürdige Tradition der Passionsmusik erstmals der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Auch das eine spannungsvolle Integration. Das biblische Thema der Passion bietet ein Potenzial von Personen und Affekten, Ereignissen und Gesten sowie Möglichkeiten der reflektierenden Anteilnahme, das Penderecki mit seiner Musik tief-theologisch auslotet und zugleich höchst effektvoll in Wort und Ton inszeniert.
Christi Leiden und das Leiden in Auschwitz
Die Klangexperimente, die in den avantgardistischen Werken noch formbegründend waren, wie etwa der Sprechgesang oder die Clustertechnik, werden jetzt zwar nicht ad acta gelegt, aber doch nur noch, gezielt kalkuliert, für einzelne Momente und Bedeutungen eingesetzt, etwa als chorisches Zischen bei der Verspottung Jesu. Klangliche Neuerungen fungieren somit gleichsam als Vokabeln für Bedeutungsfelder, ähnlich wie auch die fremd und zugleich triumphal gleißenden Dur-Akkorde im fortissimo am Ende des Stabat Mater und als Schlussakkord der gesamten Passion.
Integrativ ist auch Pendereckis ästhetisch-theologische Grundoption, denn seine Passion basiert auf dem Willen zur Spiegelun“ des in der Bibel geschilderten Leidens im heutigen Leiden und umgekehrt: „Die Passion handelt von Christi Leiden und Tod, aber sie stellt auch das Leiden und den Tod in Auschwitz dar, die tragische Erfahrung der Menschheit in der Mitte des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne sollte sie nach meiner Absicht und meinem Gefühl einen universalen, humanistischen Charakter haben“, so Penderecki wörtlich.
Einzelgänger und Zeitgenosse
In einem der vielen Interviews hat Penderecki sich einmal als „Einzelgänger“ bezeichnet. „Ich bin ein Einzelgänger“ sagte er der Zeitschrift Musik und Kirche im Jahr 2000. Das war er auch in dem Maße, wie ein Künstler und ein Komponist es sein muss. Zugleich aber war er ein wacher Zeitgenosse. Er hat Position bezogen und den Bereich des Ästhetischen gerade nicht milieuhaft eingeigelt. Cineasten begegnen seiner Filmmusik. Konzertbesucher treffen auf seine geistliche Musik.
Funktionale Kirchenmusik hat ihn allerdings weniger interessiert! Zwischen Kirche und moderner Musik sah er eine problematische Dissonanz: weil die Gottesdienste bisweilen „banal“ geworden sind. Die gläubigen katholischen Komponisten – Olivier Messiaen und Maurice Duruflé, Petr Eben oder Hans Zender und Penderecki – und die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils, das wäre ein eigenes spannungsvolles Thema, bei dem es auch um das Scheitern einer möglichen Integration geht! Die Reserviertheit teilt Penderecki mit etlichen religiösen Komponisten seiner Generation. Er war mit Latein und Gregorianik eigentlich ganz zufrieden. „Ich gehe nur in die lateinische Messe“, sagte er. Eine Kirchenmusik in polnischer Sprache wollte er nicht schreiben. Die Antwort ist lakonisch: „Latein als Sprache lässt sich viel besser komponieren als polnisch.“
Zum Schluss: Könnte nicht Musik und Religion eine weitere Synthese, eine Integration sein? Ich denke, ja. Und damit wären wir irgendwie auch schon bei der ersten Oper, deren Thematik und Diskussion ich nicht vorwegnehmen will. Eine kurze Bemerkung nur: Mir scheint, dass auch das ein Qualitätskriterium von Musik und Theater ist, dass Werke eine Art von komponierter „Phänomenologie“ entfalten: So zeigt sich Religion mit ihren Licht- und mit ihren Schattenseiten. Dass das menschliche Antlitz entstellt werden kann, erleben wir ja in der Passionsmusik ebenso wie in Pendereckis erster Oper.
„Hoffnung“ war für ihn ein überaus wichtiges Wort. Und vielleicht ist das eine ganz besondere Integration, nämlich die von „immanent“ und „transzendent“. Penderecki will Perspektiven aufzeigen, die mehr als irdisch sind. Er spricht vom „Labyrinth“ und von den verschiedenen Wegen. „Ich liebe auch die Umwege, weil sie dazugehören“, sagt er. Die Tendenz zum Transzendieren betrifft freilich auch die Technik des Spielens: Penderecki dehnt die Möglichkeiten aus und tritt so in einen Dialog mit den Interpreten, auch heute, ich denke sogar bei jeder Aufführung.
Als ich ihn nach seinem Stichwort „Avantgarde mit menschlichem Antlitz“ fragte, kam als Antwort zuerst ein Lächeln. Dann aber auch ein Statement mit den Worten: „Es geht um persönliche Musik. Um eine Musik, die nicht nur aus dem Kopf kommt, sondern um eine Musik mit Gefühl. Das trifft auch auf die Werke meiner wilden Avantgarde-Zeit zu.“ Also ist vielleicht das die letzte Integration: Das einheitliche Schaffen, das verschiedene Phasen kennt – oder die aufeinanderfolgenden Perioden des Komponierens, die bei aller Unterschiedlichkeit, ja Gegensätzlichkeit doch von einem einheitlichen Grundton getragen sind. Welche Obertöne seine erste Oper Die Teufel von Loudun hinzubringt, kann uns noch beschäftigen.