Beginn eines Spektakels
Mantua, 24. Februar 1607: Am Hof der Gonzaga im Palazzo Ducale wird ein großes Fest gegeben. Herzog Vincenzo I. hat – unter der Schirmherrschaft seines Sohnes Francesco – illustre Gäste zur Uraufführung eines ganz besonderen Spektakels geladen: L’Orfeo. Favola in musica heißt das Werk. Textdichter ist Alessandro Striggio (der Jüngere; 1573–1630), ein aus einer Musikerfamilie stammender Dichter und Diplomat in des Herzogs Diensten, Angehöriger der Accademia degli Invaghiti, einer intellektuellen Gesellschaft der „Verrückten, Vernarrten, Verliebten“, die sich zur Aufgabe gemacht hat, das Unmögliche möglich zu machen. Claudio Monteverdi, seit 1602 Hofkapellmeister von Herzog Vincenzo I., hat das Drama vertont. Er ist für seine extravagante Tonsprache bekannt; mit seinen neuartigen, dissonanzreichen und ausdrucksstarken Madrigalen hat er kürzlich einen musiktheoretischen Streit vom Zaun gebrochen, der mit Spannung verfolgt wird. Nun also ein Bühnenwerk aus seiner Feder!
Schon vor der Aufführung gehen neugierige Gerüchte hin und her. Es heißt, die Darsteller würden ausschließlich singen, selbst im Dialog. Das ist ungewohnt, denn in den Tragödien und pastoralen Schäferspielen gibt es bislang nur die sogenannte Inzidenzmusik – Lieder, Chöre und Tänze, Schilderungen von Blitz und Donner, musikalische Untermalungen von Seeschlachten und dergleichen mehr. Dass Götter, Feen und allegorische Figuren in kunstreichen Versen singen, kennt man aus den Intermedien. Aber handlungsführende Dialoge wurden bislang gesprochen – bis vor wenigen Jahren die Mitglieder der Florentiner Camerata die Monodie erfunden hatten, eine Art von gehobenem Sprechgesang mit begleitender Instrumentalstimme in tiefer Lage. Damit glaubten sie, der Aufführungspraxis der antiken Tragödien des Aischylos und Sophokles am nächsten zu kommen.
Aus den künstlerischen Experimenten der Florentiner Camerata waren zwei neuartige Tragödien hervorgegangen: La Dafne (1598) und L’Euridice (1600). Letztere wurde in der Vertonung von Jacopo Peri und mit Einlagen von Giulio Caccini bei der legendären und ebenso prachtvollen wie kostspieligen Florentiner Hochzeit von Vincenzos Schwägerin Maria de‘ Medici mit König Heinrich IV. von Frankreich vor einem kleinen Kreis neugieriger Experten in Szene gesetzt. So, glaubte man, habe die antike Tragödie geklungen. Monteverdi war fasziniert, aber er war nicht ganz zufrieden. Wenn schon Musik in der Tragödie, dann wollte er auf die Fülle der musikalischen Ausdrucksformen nicht verzichten.
Als Hofkapellmeister in den Diensten des kunstsinnigen Herzogs zu Mantua war er mit allen musikalischen Gattungen bestens vertraut. Der kleine, quicklebendige Hof der Gonzaga war seit Generationen ein Parnass. Andrea Mantegna (1431–1506) hatte den Palazzo Ducale mit wunderbaren Fresken geschmückt. Später hatte Peter Paul Rubens (1577–1640) hier seine ersten Hauptwerke geschaffen. Der franko-flämische Komponist Giaches de Wert (1535–1596) besorgte zu seinem Tod 1595 die geistliche Musik an der Hofkirche Santa Barbara und schuf nebenbei zum Ergötzen des Herzogs zauberhafte Madrigale mit kunstvoll virtuosen und rhetorisch plastischen Textausdeutungen. Sogar Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594) hatte sich dazu hinreißen lassen, einige Messen für die Hofkirche zu komponieren. Maler und Musiker, Schauspieler und Philosophen, Alchimisten und Astrologen bildeten hier einen erlauchten und kunstsinnigen Kreis.
Monteverdi wirkte seit 1590 hier, zuerst als Violaspieler, dann als Cantore, schließlich als Hofkapellmeister. Er hatte alle Hände voll zu tun. Der musikbegeisterte Herzog beschäftigte zu Zeiten mehr als vierzig Musiker. Sie mussten Streich- Zupf- und Blasinstrumente spielen, singen, trommeln und komponieren – und dies, wann immer es dem Herzog gefiel, bei Tag oder bei Nacht, Sommers wie Winters, im Freien oder im Saal – mitunter sogar auf kriegerischen Feldzügen, Hochzeits- oder Badereisen. Musik war überall und jeden Tag gefordert: Fanfaren, um die Gäste zu begrüßen, Tanz- und Tafelmusik, Prozessionen, Turnierspiele und Pferdeballette, Intermedien und Feuerwerksmusiken im Freien, geistliche Werke für die Kirche, Konzerte mit Instrumental- und Vokalensembles in den herzoglichen Gemächern und anderes mehr.
Von den Gelegenheitskompositionen, die Monteverdi stets ebenso pünktlich zu liefern hatte wie der Bäcker seine Brötchen, ist nichts erhalten. Berühmt war er dagegen für seine kunstvollen Madrigale, mehrstimmige Vokalkompositionen auf weltliche Texte voller gesuchter Symbole und Anspielungen in einer aus Schäfern, Nymphen und mythologischen Figuren kunstvoll stilisierten bukolischen Staffage.
Revolution der Tonsprache
Monteverdis musikalische Sprache war revolutionär – beinahe ebenso umwälzend wie die neuen astronomischen Erkenntnisse, die in den Akademien und an den Universitäten diskutiert und von der Kirche vehement mit Feuer und Schwert verfolgt wurden. Seine Musik passte perfekt in eine Zeit, in der buchstäblich alles ins Wanken geriet – nicht nur die Kunst, sondern auch und vor allem das Bild von der Welt.
Die Zeit um 1600 war eine politisch unsichere Epoche. Ausländische Mächte zankten sich um die fruchtbarsten Landstriche Italiens. Eine neue, blutige Art der Kriegsführung, die Verwüstung ganzer Landstriche, Pest und Epidemien verbreiteten Angst und Schrecken. Dazu kam das Zerbrechen der religiösen Ordnung. Die Reformation hatte die Christenheit in Katholiken und Protestanten gespalten, wobei letztere sich wiederum untereinander unerbittlich verfolgten. Die verheerendsten Religionskriege standen noch aus; sie warfen jedoch ihre unruhigen Schatten schon voraus.
Der Mensch der Renaissance hatte zunächst selbstbewusst und freizügig auf diese Herausforderungen reagiert. Mit neu erwachtem Interesse studierte er die Quellen der Antike und suchte Halt in der Ebenmäßigkeit und zeitlos gültigen Schönheit der Kunstwerke und philosophischen Konzepte der griechischen und römischen Überlieferung. Mit zunehmender Lust an der Übersteigerung entstand der Manierismus, die Freude an verrätselter „Sprach-Alchemie“ (Gustav René Hocke), an grotesken Übertreibungen und labyrinthischen Verirrungen.
Dazu kam die Faszination durch das Fremde. Seemänner, Kaufleute und Entdecker brachten fast täglich Fundstücke aus den entlegensten Teilen der Welt mit nach Hause, die bislang auf keiner Karte verzeichnet waren: dunkelhäutige Menschen, sonderbare Tiere und Pflanzen; Indianer, Elefanten, Nashörner. Nicht zu vergessen die naturwissenschaftlichen Entdeckungen: Mikroskop und Fernrohr erlaubten neuartige Einblicke in unvorstellbare Dimensionen des Größten wie des Kleinsten. Unter jedem Staubkorn wimmelte eine Welt, und die unermesslichen Sterne schienen plötzlich zum Greifen nah. Die Welt, wie sie den Menschen vor Augen lag, explodierte und implodierte gleichzeitig in alle Richtungen. Was das Verstörendste war: Sonne, Mond und Sterne drehten sich nicht um die Erde, wie zuverlässige Berechnungen ergaben. Die Sonne war vielmehr das leuchtende Zentralgestirn, um das die Planeten ihre Bahnen zogen. Der Mensch fühlte sich aus dem Zentrum des Universums herauskatapultiert an die Peripherie. Noch war das heliozentrische Weltbild des Nikolaus Kopernikus heftig umstritten, vor allem in kirchlichen Kreisen, denn es stellte alte Glaubensgewissheiten in Frage und widersprach dem Wortlaut der Bibel.
Claudio Monteverdi war Zeitgenosse von Galileo Galilei (1564–1641), dessen astronomische Beobachtungen auf dem kopernikanischen Weltbild beruhten; sein Vater gehörte zur Florentiner Camerata. Er war Zeitgenosse von Johannes Kepler (1571–1630), der das heliozentrische Weltbild bestätigte und die Harmonie der Sphären berechnete, aber auch Horoskope stellte. Und er war Zeitgenosse des Naturphilosophen Giordano Bruno (1548–1600), der am Wendepunkt des neuen Jahrhunderts in Rom auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, weil er die Unendlichkeit des Weltraums und die göttliche Einheit von Geist und Materie postuliert hatte.
All dies ging auch an der Musik nicht spurlos vorüber. Monteverdi stand an der Schwelle zwischen zwei Zeitaltern; musikalisch gesprochen: zwischen modaler Harmonik und Dur-Moll-Tonalität, zwischen Polyphonie und Monodie, zwischen prima pratica und seconda pratica, und er wies die entscheidenden Wege in die Zukunft.
Aus demselben Jahr 1600, in dem Giordano Bruno von der Kirche exekutiert wurde, stammt die berühmte musiktheoretische Kontroverse zwischen Claudio Monteverdi und dem Bologneser Mönch und Musiktheoretiker Giovanni Artusi (um 1540–1630). Der hatte in seinem Traktat L’Artusi ovvero delle imperfettioni della moderna musica die kompositionstechnischen Grenzüberschreitungen in den Madrigalen seines jüngeren Kollegen scharf gegeißelt. Monteverdi ließ Dissonanzen frei und ohne Vorbereitungen auf schweren Taktteilen einsetzen, und er verzichtete nicht selten auf eine regelkonforme Auflösung. Er bevorzugte herbe Querstände und chromatische Reibungen. Das beleidigte nicht nur Artusis Ohr, sondern auch seinen Verstand. Da kenne einer die Regeln nicht, höhnte er.
Monteverdi machte sich gar nicht erst die Mühe, seinen Gegner mit Argumenten zu widerlegen. Im Vorwort zu seinem fünften Madrigalbuch von 1605 stellte er ganz einfach fest, dass Artusi eben die prima pratica, also die „erste Praxis“ verfolge, er dagegen die seconda pratica, die „zweite Praxis“. Die prima pratica ziele auf die Vollkommenheit des Tonsatzes. Der seconda pratica sei dagegen an der Intensität des Ausdrucks gelegen und dürfe sich deshalb einige Regelverstöße leisten, wenn sie vom Text her begründet seien. Ein Streit unter Gelehrten, sollte man meinen. Doch führt er uns, wenn wir genau hinschauen, mitten in das Dilemma dieser Zeit der geistesgeschichtlichen Umbrüche. Wir können die kosmologischen Theorien mit den musiktheoretischen Kontroversen synchronisieren.
Die prima pratica, vertreten durch den Kanoniker Artusi, einen Mann der Kirche, entspricht dem kosmologischen Modell des Ptolemaios, in dem die Himmelskörper in vollkommenen Kreisbahnen um die Erde schweben – eine prästabilierte Harmonie, die von Gott als dem unbewegten Beweger erschaffen und in ihrem ewigen Gleichmaß erhalten wurde. Sie sucht die vollkommene Schönheit einer naturgesetzlich gegebenen Ordnung. Unterhalb des Mondes, in der sublunaren Welt, ist alles veränderlich und wechselvoll. Hier – und nur hier – entsteht auch der Schmerz. Deshalb sind Dissonanzen in dieser Musik durchaus erlaubt, aber sie müssen schrittweise und gezielt vorbereitet und sogleich wieder in Wohlklang aufgelöst werden, um die Vollkommenheit der Ordnung nicht zu stören und den Blick des Menschen himmelwärts zu lenken. In der Nachahmung göttlicher Vollkommenheit der Intervallproportionen schenkt uns der Komponist ein tönendes Abbild der ewigen Himmelsharmonie.
Die seconda pratica dagegen wendet sich vom Himmel ab und dem Menschen zu. Sie antwortet auf die Herausforderung des heliozentrischen Weltbilds, das den Menschen vom Mittelpunkt an die Peripherie versetzt. Auf sich allein gestellt beginnt er, sich selbst zu erforschen. Die menschlichen Leidenschaften werden zum Objekt dieser Erkundung. Die seconda pratica folgt dem Gesetz des Ausdrucks. Sie nimmt den Text, den sie vertont, beim Wort. Ist von Grausamkeit die Rede, so muss es im Ohr des Hörers weh tun. Monteverdi wollte mit seiner Musik die Zuhörer zum Weinen bringen. Und das gelang ihm. An die Stelle der Darstellung tritt das Mitleiden.
Das Madrigal mit seinen bukolischen Hirtenklagen wird für Monteverdi zum Experimentierfeld seiner neuen Ausdruckskunst. Doch das genügt ihm nicht. Als er die ersten Versuche der Florentiner Camerata einer Wiedererweckung der antiken Tragödie aus dem Geist des instrumentalbegleiteten Sologesangs zur Kenntnis nimmt, begreift er sofort, welches Potenzial in der neuen Ausdrucksform steckt. Aber er will seine expressive Tonsprache in den Dienst des Dramas stellen und dem neuen Menschen dieser von Umbrüchen erschütterten Zeit eine Stimme geben. Und er will die Macht der Musik ins rechte Licht rücken.
Gemeinsam mit seinem Freund Alessandro Striggio entwirft er eine Favola in musica, eine in Musik gesetzte Erzählung fürs Theater. Ihr Protagonist ist, nicht anders als bei Ottavio Rinuccini und Jacopo Peri, der halb göttliche und in seiner leidenschaftlichen Liebe zu Eurydike doch so unmittelbar menschlich anrührende Sänger Orpheus, Sohn des Apollon und der Muse Kalliope, der mit seinem Gesang die wilden Tiere besänftigt und die Götter der Unterwelt bezwingt, der den Tod überwindet und das Übermenschliche vollbringt – und der doch, buchstäblich um eines einzigen Augenblickes willen, alles wieder verliert. In Orpheus erkennt Claudio Monteverdi den Prototyp des neuen Menschen, der seine Leidenschaften lebt und bereit ist, dafür an den Toren des Todes zu rütteln.
Die Geburtsstunde der modernen Oper
Am Abend des 24. Februar 1607 sind die Räumlichkeiten im Palazzo Ducale schnell überfüllt. Staunend drängen sich Gäste um die winzige Kulisse und das überraschend große Instrumentalensemble. Siebenunddreißig Instrumente schreibt die Partitur vor. Zwei Cembali sind dabei, zwei Truhenorgeln (Organi di legno, also Flötenorgeln mit hölzernen Pfeifen), ein Regal, zwei Theorben (Chitarroni), eine große Anzahl von reich differenzierten Streichern (von den extrem hohen Violini piccoli alla francese bis zum tiefen Violone), Doppelharfe, Blockflöten, vier Posaunen und zwei Zinken, nicht zu vergessen die Trompeten für die Toccata zu Beginn.
Monteverdi hat die Verteilung der Instrumente in der Partitur nicht immer eindeutig bestimmt; den Interpreten bleibt genügend Freiheit. Doch an der Grundidee ist nicht zu rütteln: Streicher und Flöten, Chitarrone, Lauten, Harfe und Cembali begleiten die Musik des Lebens, die Lieder und Tänze der Hirten. Das schnarrende Regal, die groben Zinken und die schauerlich tönenden Posaunen symbolisieren das Totenreich. In der Unterwelt, heißt es in der Partitur, haben Streicher, Orgeln und Cembali zu schweigen.
Zu dem klanglich so vielfältigen Instrumentalensemble kommen ein Chor und eine nicht unbeträchtliche Anzahl an Solisten. Die Zahl der Zuhörer übersteigt wohl kaum die der Ausführenden. Doch was sie zu hören bekommen, verändert die Musikgeschichte für immer. Es ist, wie wir heute wissen, die Geburtsstunde der modernen Oper.
Die Toccata mit der berühmten Gonzaga-Fanfare zu Beginn lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bühne und gibt gleichsam die Visitenkarte des Gastgebers ab. Nur hier kommen die Trompeten zum Einsatz. Die Spieler sind nicht Musiker, sondern Offiziere, sie gehören zum Hof, nicht zum Orchester, wie Nikolaus Harnoncourt schreibt. Dreimal erklingt die Fanfare; danach folgt ein sanftes Orchesterritornell, das uns sofort in eine andere Welt entführt. Kann es einen größeren Gegensatz geben? Hier der herrische Ton der Gonzagas, aggressiv und behauptend, eine Demonstration von Macht. Dort die abwärts gerichteten, pastosen Klänge. Mit dem ersten Ritornell wird gleichsam ein Bühnenprospekt hochgezogen, und wir wissen sofort, wo wir sind.
Alessandro Striggio und Claudio Monteverdi haben die Handlung des Orfeo nach Arkadien verlegt, in jene idyllische Traumwelt eines längst vergangenen goldenen Zeitalters, in der die Sonne mild und freundlich über die Hirten und ihre Herden scheint, in der die Schäferinnen anmutige Blumenkränze flechten und unter schattigen Bäumen ruhen. Das zarte Ritornello ist ihr „klingendes Bühnenbild“ (Nikolaus Harnoncourt). In seiner melancholischen Färbung mag es die Sanftheit der bukolischen Idylle demonstrieren, aber auch an die vergangenen Liebesleiden des Orfeo erinnern, der lange Zeit vergeblich um Euridice geworben hatte und nun sein Glück kaum zu fassen weiß.
Wenn der göttliche Sänger zum ersten Mal seine Stimme erhebt, wendet er sich zuerst der Sonne zu – und damit indirekt auch seinem Vater Apollon, dem Sonnengott. „Rosa del ciel“ – „Rose des Himmels, Leben der Erde und würdige Schöpfung dessen, der das Universum lenkt, Sonne, die du alles umschließt und alles erblickst, wenn du zwischen den Gestirnen deine Kreise ziehst, sag mir, ob du je einen fröhlicheren und glücklicheren Liebenden gesehen hast?“
Über einem zwölftaktigen Orgelpunkt auf G, dem Sonnenton (sol), erhebt sich zunächst ein schlichter rezitativischer und dennoch erhabener Sprechgesang. Was als feierlicher Hymnus mit aufwärts gerichteten Blicken beginnt, wendet sich jedoch alsbald abwärts und nach innen, der eigenen Seele zu. Der Mensch des neuen Zeitalters reflektiert vor allem über sich selbst. Wenn er die Sonne zum Zeugen des eigenen Glücks anruft, wird der Bass durch harmonische Schritte belebt; der Tonsatz wird kleinteiliger, lebendiger, individueller.
Striggios Text ist reich an Symbolen, die uns über das Weltbild seiner Dichtung Auskunft geben. „Rosa del ciel“ ist zweifellos eine Anspielung auf Dante. Dessen Divina Commedia, entstanden zwischen 1307 und 1321, breitet, ähnlich wie Monteverdis Orfeo, das Gefüge der Welt vor dem Leser aus; es geht von der Erde hinab zur Hölle und von dort steil aufwärts über die Sphären der Himmelskörper bis zum Empyreum. Engel und selige Geister umschweben dort den Sitz der Gottheit; ihre verklärten Gestalten bilden aus Flügeln und Leibern eine tausendblättrige „Himmelsrose“. Was hat dieses Gedankengut der christlichen Mystik in einem bukolischen Schäferspiel um den antiken Orpheus verloren? Es ist zunächst einmal eine Analogie, ein assoziatives Spiel, das eine tiefere, theologische Dimension eröffnet.
Fließende Grenzen zwischen Antike und Christentum
In der Zeit des Manierismus, zwischen Renaissance und Barock, waren die Grenzen fließend, auch die zwischen Antike und Christentum. Die mythologischen und religiösen Bilder wurden als Symbole verstanden, die untereinander in Beziehung gesetzt wurden. So, wie Orpheus als Vorläufer Christi gedeutet werden konnte, stand der Sonnengott Apollon stellvertretend für den, „der das Universum lenkt“. Das musste noch nicht einmal ketzerisch sein, im Gegenteil. Auf diese Weise holte man die Welt der Antike in die christliche Erlösungstheologie.
Von dem barocken Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher (1602–1680) stammt das Werk Ars magna lucis (1665). Eine Tafel zeigt den Sonnengott Apollon als „unbewegten Beweger“ mit dem Attribut des göttlichen Auges über dem Firmament des Himmels; unter ihm ziehen in gleichmäßigen Sphären die neuen Musen ihre Bahnen. Ganz unten sehen Sie die Erde. Eine Schlange ringelt sich vom Schwanz aus abwärts, es ist der ägyptische Uroboros, ein Sinnbild der Lebenskraft. Ihre drei Köpfe symbolisieren die drei Dimensionen des Raumes und der Zeit. Beachten Sie, dass die Schlange abwärts stürzt, vom Himmel auf die Erde. Das Modell folgt der Vision des Neupythagoräers Martianus Capella aus dem 5. Jahrhundert nach Christus. Urania, die höchste der Musen, regiert die Sternenkunde; Thalia, die unterste, das Theater.
Wenn Orfeo in seinem Hymnus die Sonne „zwischen den Gestirnen“ ihre „Kreise“ ziehen lässt, dann beschwört Striggio ausdrücklich das geozentrische Modell des Ptomelaios. Mehr noch: Auch die Sonne ist, wie Orfeo sagt, eine „Schöpfung“ dessen, „der das Universum lenkt“. An ihn, den „unbewegten Beweger“ jenseits der himmlischen Sphären, wendet sich Orfeo interessanterweise jedoch nicht, nur an sein leuchtendes Geschöpf. Das Spiel mit Licht und Schatten wird in Dichtung und Musik des Orfeo immer wieder konkret auf die seelischen Prozesse und emotionalen Exzesse des Protagonisten bezogen. Orfeo holt gleichsam das Licht vom Himmel auf die Erde, wenn er ihren Abglanz in den „luci serene“, den „heiteren Lichtern“ in den Augen der Geliebten wiederfindet. Deshalb, so dürfen wir schließen, ist sein Glück vergänglich und wandelbar, wie alles in den irdischen Gefilden, die unterhalb des Mondes gelegen sind.
Seine ausgelassenen Gefährten meinen sogar, die Sonne selbst möge ihre Tänze bewundern, weil sie „viel lieblicher sind als jene, mit denen die Sterne bei dunkler Nacht am Himmel den Mond umtanzen“. Das ist, wenngleich dem Übermut der Freude geschuldet, zweifellos eine Blasphemie, denn sie kehrt die Ordnung der Welt um und lässt die ewigen Sterne nach der vergänglichen Pfeife der Menschen tanzen. Wir dürfen deshalb in diesen Versen, die aufgrund ihrer lebhaften, in Tänzen und Ritornellen festlich bewegten Musik leicht überlesen werden, den wahren Grund für das kommende Unglück vermuten.
Mit archaischer Wucht fährt die Nachricht vom Tode Euridices wie mit steinerner Faust in die Freude der Feiernden. „Ahi, caso acerbo“ – „Weh, grausames Verhängnis!“ klagt die Botin. Das ist ein dramatisch inszeniertes Memento Mori, ein Symbol der Vanitas, wie sie uns auf den barocken Stillleben begegnet, wenn inmitten üppiger Fruchtkörbe die Sanduhr rinnt oder ein Totenschädel seine leeren Augenhöhlen auf uns richtet. Wer weiß, hat nicht Apollon selbst die Schlange vom Himmel auf die Erde geschickt, um den allzu übermütigen Sohn zu strafen? Die sinnliche Liebe und der Sündenfall, Euridice als Präfiguration der Eva – solche traditionellen Dimensionen der Deutung legt der Text nahe. Für Monteverdi jedoch spielt das alles keine Rolle. Ihm geht es um das Leiden der Menschen. Er holt die Geschichte ganz nah zu uns heran.
Denn nun geht es los mit schneidenden Dissonanzen und herben Querständen, mit chromatischen Schmerzenslauten und zerreißenden Totenklagen. Ein Sextakkord auf cis schneidet scharf in den arglosen C-Dur-Dreiklang der Hirten wie ein Messer in rosiges Fleisch. Die Schilderung von Euridices Tod gehört zu den expressiven Höhepunkten nicht nur dieser Oper, sondern der Geschichte der Gattung überhaupt. Nach einem langen Orgelpunkt auf d-Moll, der Todestonart noch in Mozarts Requiem und im Don Giovanni, bewegt sich die Harmonik zunehmend auf schwankenden Akkorden, so als würde den Anwesenden der Boden unter den Füßen weggezogen. Es gibt keinen Halt, sondern nur Fassungslosigkeit und Entsetzen. Orfeo stimmt eine ergreifende Totenklage an. Nur die Theorbe und die sanft tönende Flötenorgel mit ihren weich angeblasenen Holzpfeifen begleiten seinen traurigen Gesang. Es sind hauchzarte Klänge der Innigkeit. „Du bist tot, mein Leben, und ich atme noch? Du bist von mir gegangen, um niemals zurückzukehren, und ich muß bleiben?“ Die Wörter „respiro“ und „rimango“ – „ich atme“ und „ich bleibe“ führen mühsam, gleichsam gegen die Schwerkraft, nach oben ins Leben, doch der Sog des Todes zieht Orfeo in die Tiefe.
Er könnte sich an die Sonne wenden, an die Himmelsrose, an den Lenker des Universums. Doch der ist offenbar ein Deus absconditus, ein abwesender, abstrakter Gott der Dichter und der Philosophen. Orfeo muss die Geister der Unterwelt selbst beschwören und mit menschlichen Mitteln das Übermenschliche wagen: „Ich werde durch die Macht meiner Lieder in die tiefsten Abgründe gelangen“ – das ist sein Entschluss. Zu dem Wort „abissi“ („Abgründe“), fällt der Bass von c nach f, und die Melodiestimme sinkt auf den tiefsten Ton c hinunter. „Wenn ich das Herz des Königs der Unterwelt bezwungen habe“, bekundet Orfeo, „werde ich dich zum Licht der Sterne führen“. Zum Licht der Sterne, nicht zum Strahlen der Sonne, wohlgemerkt. „Leb wohl, Erde! Lebt wohl, Himmel und Sonne! Lebt wohl!“, sind seine letzten Worte.
Von nun an ist eine nächtliche Szenerie über Arkadien ausgebreitet. „Heute hat ein grausamer Sturm die beiden hellsten Lichter unserer Wälder ausgelöscht“, klagen die Hirten. Monteverdi taucht seine Partitur in ein geheimnisvolles Chiaroscuro, wie wir es aus den Gemälden von Caravaggio oder aus Adam Elsheimers Brand von Troja kennen. Immer wiederholt sich in den Chören der schreckliche Beginn des Botenberichts: „Ahi caso acerbo“, „Weh, grausames Verhängnis“. Wie eine unfreiwillige Erinnerung brennt sich die Spur des Schreckens in ihre Seelen ein. Das orphische Ritornell des Anfangs wird im Klagegesang der Hirten mit einem Flor der Tränen umhüllt. Der Vorhang der Trauer senkt sich über der Szene.
Orfeo ist ein Mann der Tat. Während sich die Hirten in ihrem Schmerz ergehen, hat er sich längst auf seinen einsamen Weg gemacht, den Weg in die Tiefe, auf dem ihm keiner zu folgen vermag. Die italienische Literatur kennt einen anderen unerschrockenen Wanderer, der Monteverdis Orfeo schon vorausgegangen ist: wiederum ist es Dante Alighieri, an den wir uns erinnern. Doch Orfeo hat keinen Vergil an seiner Seite. Das einzige, was ihn begleitet, sind seine Lieder und seine Hoffnung. „Von dir geleitet, Göttin Hoffnung, die du das einzige Gut des trauernden Sterblichen bist“, so wendet sich Orfeo zu Beginn des dritten Aktes dankbar an seine Begleiterin, „bin ich nunmehr in jene traurigen und düsteren Reiche gelangt, die noch kein Sonnenstrahl jemals erreichte“.
Der Strahl der Hoffnung ersetzt das Licht der Sonne. Die „glücklichen Lichter“ in den Augen der Geliebten wiederzusehen, wiegt den Verlust auf. Orfeos Stimme ist dunkel und umschattet, aber gefasst; die Harmonien bewegen sich in Molltonarten, aber sie schreiten sicher und fest.
Die Schrecknisse der Unterwelt, welche die Hoffnung ihm schildert, sind auch in Dantes Inferno genau beschrieben: der dunkle Sumpf, das schwarze Moor, das Land der Tränen und der Schmerzen. Nur sein großes Herz und sein schöner Gesang können ihm nun helfen, sagt die Hoffnung zu Orfeo, und dazu lichtet sich die Harmonie für einen Augenblick auf. Doch dann verlässt sie ihn, an jenes Gesetz erinnernd, das der Pforte von Dantes Inferno eingeschrieben ist: „Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate“ –„Lasst alle Hoffnung zurück, die ihr hier eintretet“. Zweimal sagt sie das, das erste Mal auf der Quinte eines d-Moll-Akkords verharrend, das zweite Mal, dringlicher, in einer Rückung aufwärts nach e-Moll. Orfeo schreit auf: „Wohin, ach wohin gehst du, einziger süßer Trost meines Herzens“, sehnsüchtig sich umschauend, doch da ist sie schon verschwunden, und er bleibt allein. In diesem Augenblick ändert sich die musikalische Klangfarbe grundlegend. Nur eine Fermate auf dem letzten a-Moll-Akkord des Wortes „speranza“ ist geblieben – und schon befinden wir uns in einer anderen Welt. Der Fährmann Charon steht da, groß und dunkel, der Wächter über das Totenreich, der die nackten Seelen ins Land der Schrecken übersetzt. Er singt, und es schaudert uns. „Caronte canta al suono del regale“, heißt es in der Partitur.
Das Regal ist eine tragbare kleine Orgel in Form eines schmalen Kastens, der mit einer Windlade und Zungenpfeifen bestückt ist. Es klingt schnarrend und befremdlich. Nikolaus Harnoncourt spricht von der „herrlich aggressiven ‚Häßlichkeit‘“ seines Klangs. Als Begleitinstrument der tiefen Blechbläser in der Kirchen- und Theatermusik erfreute sich das Regal seit dem späten Mittelalter einer gewissen Beliebtheit. Gemeinsam mit Zink und Posaune staffiert es die musikalische Kulisse der infernalischen Gestalten aus. Den Einsatz dieses ungewohnten Klangs hat sich Monteverdi für genau diesen Moment aufgespart. Er erinnert an die klappernden Skelette der Totentänze, an die Teufels- und Geistererscheinungen im Theater, an das Dies Irae der Totenmesse.
Von der Exposition bis zur Katastrophe
Die klassische Dramaturgie der fünfaktigen Tragödie führt über Exposition und Steigerung zum Höhepunkt, um mit einer Peripetie der Katastrophe zuzueilen. In Monteverdis Orfeo führt der Spannungsbogen steil in die Tiefe. Der Höhepunkt liegt ganz unten, in den finsteren Abgründen des Inferno. Und er liegt nicht in einer Tat, sondern in einem Gesang. Doch zuvor hält das Drama für einen Augenblick inne. Ein retardierendes Moment schiebt sich dazwischen. Ein Instrumentalstück erklingt. Auch die Unterwelt hat ihr „klingendes Bühnenbild“ in Gestalt einer feierlichen Sinfonia, die immer wieder erklingt: zu Beginn, aber auch an diesem entscheidenden Wendepunkt. Man kann sich vorstellen, wie die Zuhörer des Jahres 1609 den Atem anhielten: hier die funkelnden Augen des schrecklichen Caronte mit seinen Drohgebärden zu schnarrenden Regalklängen, dort der von seiner Hoffnung verlassene Orfeo am anderen Ende des Acheron.
Der Topos des mehrstimmigen Posaunenklangs in tiefer Lage, den Nikolaus Harnoncourt für seine Aufnahme wählt, kommt aus der geistlichen Musik. Er erbt sich fort, über den Gesang der Geharnischten in Mozarts Zauberflöte bis hin zur Todverkündigung in Wagners Walküre. Hier, in der Urszene der europäischen Operngeschichte, ist alles schon angelegt.
Orfeo mag seine Hoffnung verloren haben, seine Musik hat ihn jedoch nicht verlassen. Er stimmt einen Gesang an: „Possente spirto“ – „Mächtiger Geist und furchtbare Gottheit“. Er zollt dem Fährmann Reverenz, erweist ihm Ehre, zieht in ins Vertrauen und erzählt ihm seine Geschichte. Einfach und schlicht, ohne etwas zu verbergen, aber in höchsten Maße kunstvoll, in sechs Terzinen (zu jeweils drei Versen). Er schenkt dem Fährmann seine schönsten Koloraturen. Dieser Gesang, unerschrocken, sensibel und authentisch, ist der eigentliche Höhepunkt des Dramas. Es ist die Heldentat des Sängers, der furchtlos die wilden Tiere zähmte. Ein Bittgesang, getragen von den weichen Klängen der Flötenorgel und der zart gezupften Theorbe wie in der vorangegangenen Totenklage, dazu sanft umflossen von den Figurationen zweier obligater Violinen.
Wieso, möchten wir fragen, spielt Orpheus nicht, wie die mythische Tradition es will, sein angestammtes Zupfinstrument, die Leier? Hermes hatte sie einst aus einem Schildkrötenpanzer gebaut und seinem Bruder Apollon geschenkt, als Sühne für stibitzte Rinderherden. Apollon wiederum hatte sie seinem Sohn Orpheus vermacht, der damit Wunderdinge vollbrachte. Mit der manchmal fünf-, oft auch siebensaitigen Lyra (die als tönendes Symbol der sieben Himmelssphären gedeutet wird), ist Orpheus vielfach abgebildet, so auf einer rotfigurigen Vase des sogenannten Orpheusmalers aus der Zeit um 440 v. Chr., aber auch auf zahlreichen römischen Mosaiken.
Doch für die Wahl der obligaten Violinen im Orfeo gibt es gute Gründe. Erstens war Monteverdi selbst ein Virtuose auf dem Streichinstrument; womöglich wollte er sich selbst mit dem unsterblichen Sänger identifizieren. Schwerer wiegt ein zweites Argument. Auf vielen Orpheus-Darstellungen des 16. und 17. Jahrhunderts sind Apollon und sein Sohn Orpheus nicht mit der Lyra, sondern mit einem Streichinstrument abgebildet. Das prominenteste Beispiel ist Raffaels Darstellung des Parnassus in der vatikanischen Stanza della Segnatura (1510). Es zeigt Apollon singend und musizierend im Kreis der Musen. Er blickt zum Himmel auf und begleitet seinen Gesang mit einem Lauteninstrument, das er wie eine Violine linksseitig auf seine Schulter gelegt hat und mit einem Bogenstrich zum Klingen bringt. Das gleiche Instrument begegnet uns auf dem (offensichtlich von Raffael inspirierten) Sebastian Vrancx zugeschriebenen Gemälde Orpheus und die Tiere (Rom, um 1595), auf dem Geschöpfe aller möglichen und unmöglichen Erdteile (einschließlich Affe, Löwe, Strauss und Einhorn) sich ein Stelldichein geben. Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen. Auch die Holzschnitte von Matthäus Merian und anderer Künstler bilden Orpheus mit der Lira da braccio ab.
Bei dem apollinischen Instrument handelt es sich, auch wenn das auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen mag, ebenfalls um eine Lyra, genauer gesagt: um eine Lira da braccio. Aufgrund ihres flachen Steges erzeugt sie bei jedem Bogenstrich vierstimmige Akkorde, darunter auch liegende Bordunklänge. Dass Apollon und Orpheus auf den Darstellungen des Barock zu diesem Instrument ihre Gesänge anstimmen, entspricht einer seinerzeit vielgeübten italienischen Musizierpraxis. Seit dem 15. Jahrhundert wurde die Rezitation der großen Versepen mit der Lira da braccio improvisierend begleitet. Mit der Wahl der beiden obligaten Violinen holt Monteverdi den antiken Sänger Orpheus aus den verblassten Zeiten der Antike in seine eigene Gegenwart.
Die musikalische Gestaltung der Szene ist ganz darauf bedacht, den göttlichen Sänger in Szene zu setzen. Der Generalbass beschränkt sich auf wenige Klänge, zumeist ganztaktige Harmonien, die von den Spielern harmonisch frei ausgestaltet werden dürfen. Von Strophe zu Strophe steigert sich die Intensität des Ausdrucks und der Ornamentik. Die gesungenen Strophen werden durch Instrumentalritornelle voneinander abgesetzt, die jeweils unterschiedliche Klangfarben in den Vordergrund rücken: zunächst die beiden Violinen, sodann (wenn vom Totenreich die Rede ist) zwei Zinken (Cornetti) und schließlich die Doppelharfe.
Der Zink ist eine Art Grifflochhorn aus Holz oder Elfenbein, mit dem sich die menschliche Stimme trefflich imitieren lässt, aber auch ein typisches Instrument der Unterwelt. Er wird wie eine Trompete geblasen und hat einen charakteristischen, obertonreichen, mitunter leicht nasalen Klang, der dem schnarrenden Regal zweifellos nähersteht als die Violine. Auf diese Weise, so möchte man vermuten, macht sich Orfeo dem seelenlosen Fährmann vertraut, er möchte verwandte Saiten in seiner mitleidlosen Seele berühren.
In der dritten Strophe wird die Doppelharfe zum ersten und einzigen Mal solistisch eingesetzt; sie korrespondiert mit den „heiteren Lichtern“ der Augen der Geliebten, nach der Orfeo sich sehnt. Sie ist das Instrument der Engel und erinnert an Dantes Paradiso, das der Liebende an Euridices Seite zu finden hofft.
Die Singstimme ist in zwei Varianten notiert: klar und kunstlos die eine, reich verziert die andere. Die erste Version enthält den Kern der kompositorischen Invention. Er stellt das Gerüst dar, über dem ein erfahrener Sänger normalerweise seine eigenen Koloraturen improvisiert. Doch genau das wollte Monteverdi diesmal verhindern, deshalb legt er in der zweiten Version alle Verzierungen fest.
„Du sollst dich nicht fürchten“, beruhigt Orpheus den Fährmann, „denn ich habe nur die süßen Saiten meiner goldenen Leier als Waffe“. Mit dem Instrument in der Hand schläfert er den geschmeichelten Caronte ein und setzt eigenhändig das Boot über den Fluss. „Nichts unternimmt der Mensch vergeblich“, resümiert der Chor der Geister – im feierlichen Motetten-Stil einer Sinfonia sacrae –, „noch kann die Natur ihn überlisten“. Der Mensch ist Herr über die Schöpfung, wenn er sich nur selbst beherrscht.
Das Unglück nimmt seinen Lauf
Auf einmal scheint alles ganz leicht. Orfeo muss kein zweites Mal um Euridice bitten, die liebliche Proserpina hat seinen Gesang aus der Ferne belauscht. Gern gibt Pluto sie nicht frei, da „ein strenges, unabänderliches Schicksal deinen Wünschen, geliebte Gattin, im Wege steht“. Und so stellt er die bekannte Bedingung: „bevor sein Fuß nicht diese Abgründe verlassen hat, darf er seinen verlangenden Blick nicht nach ihr wenden, denn durch nur einen einzigen Blick wird sie für immer verloren sein“. Es geht um Selbstbeherrschung. Eine Kleinigkeit, sollte man meinen, für einen, der den Schrecknissen der Hölle getrotzt hat. Orfeo hält sich mit Zweifeln gar nicht erst auf. „Welche Ehre ist deiner würdig, meine allmächtige Leier?“ fragt er übermütig zu einem fröhlichen Lied. Wieder erklingen die beiden Violinen; auf unserer Aufnahme treten noch Blockflöten hinzu. „Du wirst deinen Platz unter den schönsten Sternbildern finden, und zu deinem Klang werden die Sterne ihren langsamen und schnellen Reigen tanzen.“
„Halt ein!“ möchten wir dem Sänger zurufen, der im Begriff ist, sich neuerlich an die Stelle Gottes zu setzen. Denn nur dem, der „das Universum lenkt“, gehorcht der Reigen der Gestirne. Wiederum stehen wir vor einem theologischen Problem. Und so kommt es, wie es kommen muss, das Unglück nimmt seinen Lauf. Denn nicht der Zweifel, ob Euridice ihm auch wirklich folge (ein zutiefst anrührendes und menschlich verständliches Zagen), lässt Orfeo den verbotenen Blick wagen, sondern vielmehr seine trotzige Überheblichkeit: „Vielleicht sind die Götter des Hades von Neid erfüllt und verweigern mir das vollkommene Glück, euch anzusehen ihr glücklichen, fröhlichen Augen“, mutmaßt er, und setzt bewusst alles aufs Spiel: „Was Pluto verbietet, befiehlt die Liebe. Einem so mächtigen Gott, der Menschen und Götter besiegt, muß auch ich gehorchen“. Und er wendet sich um.
Amor vincit omnia lautet der Titel eines 1602 entstandenen Gemäldes von Caravaggio. Frech und mit spöttischer Verachtung lacht uns der Knabe mitten ins Gesicht. Seine Flügel sind dunkel wie die Schwingen der Geister der Unterwelt, der Hintergrund des Gemäldes ist finster, nur die Gestalt des Siegers ist in grelles Licht getaucht. Ein infernalisches Szenario. Die Sehne seines Bogens ist gerissen. Zu seinen Füßen liegen Musikinstrumente umhergestreut, darunter eine Violine und eine Laute, wie sie aus dem Instrumentarium des Orfeo stammen könnten. Der Himmelsglobus hinter seinem rechten Oberschenkel ist kaum noch zu sehen. Kunst und Wissenschaft, Tugend und Erkenntnis sind nichtig. „Alles besiegt Amor; so wollen denn auch wir uns Amor fügen!“ So heißt es in den Bucolica des Vergil, auf die sich sowohl Caravaggios Gemälde als auch Striggios Libretto beziehen. Ein Text, den alle kennen, die der Uraufführung des Orfeo lauschen. Ein geistreiches Spiel mit Zitaten, ein augenzwinkerndes Wiedererkennen.
Doch die Musik spricht eine andere Sprache als der Text. Mit welcher Zartheit und Trauer hat Monteverdi die Begegnung der Blicke, die unwiederbringlich letzte, inszeniert! Auch hier möchten wir uns an Richard Wagner erinnern, an Tristan und Isolde insbesondere, wo das Aufeinandertreffen der Blicke den Beginn der Liebe ebenso markiert wie ihr Ende. Für einen Augenblick steht die Zeit still. Die Geisterstimme mit dem schnarrenden Regal fährt dazwischen; Euridices Stimme erklingt schon aus der anderen Welt, von ätherischen Harfenklängen umflossen. Moralisierend zieht der Chor der Geister sein Fazit: „Orpheus besiegte die Hölle und wurde von seiner Leidenschaft besiegt. Ewigen Ruhm aber verdient nur der, der sich selbst besiegt.“ Das klingt vernünftig, aber unser Herz ist bei den Liebenden.
Ebenso wie Wagners Tristan wird auch Orfeo aus dem Reich des Todes vom Sog einer „geheimnisvollen Macht“ dem „verhaßten Licht“ wieder entgegengeschleudert. Die Zinken, Posaunen und Regale schweigen jetzt, sagt die Partitur, und die Instrumente der Hirtenwelt treten wieder in Erscheinung, mit demselben Ritornell, das wir zu Beginn des Werkes gehört haben, genauso unschuldig und naiv wie zu Beginn die Sonne scheint auf die heitere Landschaft – aber die Welt des Menschen ist von Dunkelheit und Trauer überbeschattet. Das kennen wir alle: Wir haben Katastrophen erlebt, die unser Leben für immer verwandeln. Wir haben schwere Verluste erlitten. Wir kehren von einer Reise zurück – innerlich oder äußerlich verwandelt. Aber die Welt, die wir zurückließen – das Haus, die Freunde, die Familie – haben sich nicht verändert.
Das Sternenbild der Lyra
Werfen wir noch einen Blick auf den Schluss. Wie soll das Drama enden? In der Mythologie wird Orpheus von den Mänaden, den wilden, blutrünstigen Bacchantinnen, zerrissen; nach manchen Versionen treibt sein abgeschlagener Kopf, noch immer Lieder singend, in den Wellen des Flusses Hebros, bis er bei Lesbos an Land gespült wird; erst als Apollon ihm zu schweigen gebietet, verstummen seine schauerlichen Gesänge.
Auch im Libretto der Uraufführung ist von den wilden Bacchantinnen die Rede, die Orfeo wütend verfolgen. Nicht jedoch in der Partitur. Apollon, der Sonnengott, nimmt sich der Sache an. Auf einer Wolke schwebt er herab – ein immer wieder gern bestaunter Effekt der barocken Theatermaschinerie – und tröstet den Untröstlichen mit einer väterlichen Ermahnung. „Es ist niemals der Rat eines weisen Herzens gewesen, der eigenen Leidenschaft zu dienen“, macht er ihm klar. „Noch weißt du nicht, daß hier unten“ – damit meint er die sublunare Welt der Vergänglichkeit – „Heiterkeit und Unglück nichts bedeuten“. Und Orpheus lenkt ein wie ein gehorsames Kind. „Ich wäre der unwürdige Sohn eines so großen Vaters, wenn ich deinen weisen Rat nicht befolgen würde“, bemerkt er bescheiden. Und wird zu den Sternen entrückt.
„Saliam cantando al cielo“ – „Singend steigen wir zum Himmel empor, wo die wahre Tugend den ihr gebührenden Preis erhält: Freude und Frieden.“ Wir hören die wolkige Himmelfahrt der beiden in scharfen Punktierungen und bebenden Koloraturen. Der Chor stimmt eine fröhliche Weise an. Wir reiben uns etwas verwundert die Augen. Wäre die andere Lösung denkbar gewesen? In seiner Totenklage hatte Orfeo gelobt, die Abgründe der Hölle mit Euridice zu teilen, sollte das Rettungswerk misslingen. Auch in Dantes Inferno bleiben die Liebenden, wenn sie sich versündigt haben, zusammen; denken wir an Paolo und Francesca da Rimini. Nicht so Orfeo. In der Sonne und in den Sternen soll er fortan das verlorene Ebenbild der geliebten Augen Euridices erkennen – eine kosmologische Lektion.
Das Sternbild Leier, das allabendlich am sommerlichen Nachthimmel aufsteigt, erinnert an den göttlichen Sänger. Sein hellster Stern ist die Wega. Arabische Astronomen sahen in ihm einen herabstürzenden Adler. Erinnern wir uns noch einmal an das Bild aus der Ars magna lucis von Athanasius Kircher. Hier ist es die Schlange, die sich erdwärts windet. Urania, die Sternenkunde, steht von den neun Musen dem apollinischen Sonnengott am nächsten. Zu ihr wird nun auch Orpheus aus der irdischen Welt des Theaters entrückt. Im Licht des damaligen Symbolverständnisses war dies ein naheliegender und vollauf befriedigender Abschluss.
Kein Grund zu trauern also! Was aber wird aus Euridice? Sie muss auf ewig in den dunklen Verliesen der Unterwelt schmachten. Von den Anwesenden wird sie bald vergessen. Wie um alle Zweifel vom Tisch zu wischen, beendet Monteverdi sein Werk mit einer Moresca. Das ist ein wilder Tanz, dessen Name sich von den moriscos, den in Spanien lebenden Mauren, ableitet. Schräg und exzentrisch geht es dabei zu. Allerlei Sprünge und akrobatische Verdrehungen sind angesagt, ein lustiges und ausgelassenes Treiben, entfesselt und karnevalesk.
Je tiefer die Trauer, desto entschiedener fordert sich das Leben wieder ein. Das kennen wir von Beerdigungsfeiern. Die Accademia degli Invaghiti (die Gesellschaft der „Verrückten, Vernarrten, Verliebten“), die das Spektakel veranstaltet hatte, wollte sich am Schluss noch einmal so richtig austoben. Und schließlich ist der Mohrentanz auch eine ferne Reminiszenz an die Bacchantinnen, die mit ihren ekstatischen Festen blutige Spuren zogen. Wir jedoch schauen zum Himmel und erkennen im ewigen Abbild der Sterne den traurigen Hirten und seine Verklärung.