Kein anders Wort kommt im Koran so häufig vor wie das Wort allāh. Mit ca. 2700 Erwähnungen übertrifft es alle anderen Wörter mit Abstand. Jede Sure beginnt im Namen Allahs. Zahlreiche auf Gott bezogene Attribute, Bezeichnungen und Metaphern treten zusätzlich an vielen Stellen im Koran auf. Allah, Gott, dominiert den Koran; alles andere in diesem Buch steht in seinem Schatten. Der berühmte muslimische Theologe, Jurist und Mystiker al-Ghazālī (gest. 1111) hat in seiner Schrift Die Juwelen des Korans und seine Perlen treffend festgestellt, dass es im Koran eigentlich um nichts anderes geht als um Gott, seine Eigenschaften und seine Werke sowie den Weg, der die Menschen zu ihm führt. Das im Koran entfaltete Weltbild ist theozentrisch, wobei Gott nicht nur im Mittelpunkt steht, sondern omnipräsent ist und alles beherrscht.
Bevor ich mich der Darstellung des koranischen Gottesbildes widme, ist eine begrifflich-theologische Klärung erforderlich. Muslime und Nichtmuslime, darunter auch renommierte Islamwissenschaftler, die in deutscher Sprache zum Islam schreiben, verwenden für Gott das Wort Allah. Sie rechtfertigen diesen eigenartigen Sprachgebrauch durch die Behauptung, der Gott des Islam sei ein anderer als der Gott, an den Juden, an den Christen glauben. Dabei begehen sie einen sprachlichen und einen theologischen Fehler.
1) In sprachlicher Hinsicht ist „allāh“ das arabische Wort für Gott, das höchst wahrscheinlich aus der Kontraktion des Determinationsartikels „al-„ mit dem Wort „ilāh“, d.h. „ein Gott“, entstanden ist. Allah bedeutet also „der Gott“, so wie im Griechischen „o theós“ oder im Englischen „The God“, im Sinne des einzigen Gottes. Also handelt es sich beim Nomen Allah nicht um einen Eigennamen, der nicht übersetzt werden könnte. Das arabische Wort allāh, Gott, ist ein Name, der schon vor dem Islam existierte, wie es Verse der vorislamisch-arabischen Dichtung belegen, die zum Teil von Juden und Christen verfasst worden sind. Arabische Christen und Juden verwenden üblicherweise in ihrem Sprachgebrauch kein anderes arabisches Wort für Gott außer allāh. Allah ist kein Monopol des Islam. Das bestätigt selbst der Koran, wie wir es später sehen werden.
2) Die Behauptung, der Gott des Islam sei nicht identisch mit dem Gott des Judentums und des Christentums, ist aus monotheistischer Sicht theologischer Unfug. Denn alle drei Religionen glauben an den einen Gott. Zu behaupten, der Gott des Islam sei ein anderer als der Gott der anderen beiden monotheistischen Religionen, bedeutet nichts anderes als den Glauben, dass es nicht nur einen einzigen Gott, sondern mindestens zwei Götter gäbe, also Polytheismus. Dass Juden, Christen und Muslime, die sich ihres Glaubens bewusst sind, eine Doppelung oder gar Vervielfachung der Gottheit strikt ablehnen, liegt wohl auf der Hand. Von diesem einen Gott gibt es zwar unterschiedliche Bilder, die sich in jeder dieser Religionen sowie in ihren diversen theologischen und philosophischen Traditionen im Laufe der Geschichte in verschiedenen Denk- und Sprachräumen entwickelt haben. Die verschiedenen Gottesbilder sind jeweils spezifischer Prägung, wodurch sie sich untereinander unterscheiden, genauso wie sie miteinander gemeinsame Merkmale teilen. Nach Auffassung der drei monotheistischen Religionen darf die Einheit Gottes dadurch jedoch nicht beeinträchtigt werden.
I.
Frei von ideologischen Vorurteilen, die eine Sicht auf den Islam als die ganz andere, absolut fremde Religion verursachen, richten wir im vorliegenden Zusammenhang den Blick auf den Koran, um das in ihm geborgene Bild Gottes darzustellen. Dabei werden im Judentum und Christentum vorherrschende Gottesbilder mitberücksichtigt.
Zunächst betrachten wir kurz das Umfeld, in dem das koranische Gottesbild zustande gekommen ist. Hat der Koran mit allāh ein Novum in den arabischen Kontext seiner Genese eingeführt? Mit Sicherheit nicht. Historischen Überlieferungen zufolge gab es unter den Arabern neben Juden und Christen auch eine Gruppe von Gottesanbetern namens al-Ḥunafāʾ, die einer monotheistischen Glaubensrichtung folgten. Muhammad soll vor seiner Berufung zu ihnen gehört haben. Wie bereits erwähnt, taucht der Name allāh in vorislamisch-arabischen Versen auf. In diesem Zusammenhang sind die Gedichte von Umayya bin Abī ṣ-Ṣalt (gest. um 630) hervorzuheben, die sprachlich und inhaltlich frappierende Ähnlichkeiten mit dem Koran aufweisen. Mag die Authentizität vorislamisch-arabischer Gedichte überhaupt angezweifelt werden, liefert selbst der Koran sichere Beweise dafür, dass die polytheistischen Araber an die Existenz eines Gottes namens allāh glaubten. Sie glaubten an ihn als Schöpfer der Welt (Q 29:61), als Spender des Regens und mithin des Lebens auf Erde (Q 29:63) und als Vertrauensinstanz in gefährlichen Situationen (Q 29:65).
Im Pantheon der polytheistischen Araber war allāh offensichtlich eine Art Obergott; sie gesellten ihm weitere Götter bei. Die folgende Passage Q 23:84-92 veranschaulicht die Problematik und wie die koranische Verkündigung damit umgeht:
Sprich: „Wem gehört die Erde und was auf ihr ist, wenn ihr es wisst?“ Sie werden sagen: „Gott!“ Sprich: „Wollt ihr euch nicht mahnen lassen?“ Sprich: „Wer ist der Herr der sieben Himmel und der Herr des großen Throns?“ Sie werden sagen: „Gott gehört es!“ Sprich: „Wollt ihr nicht gottesfürchtig sein?“ Sprich: „In wessen Hand ist die Herrschaft über alle Dinge, der da Schutz gewährt und selbst des Schutzes nicht bedarf, wenn ihr es wisst?“ Sie werden sagen: „In der von Gott!“ Sprich: „Wie konntet ihr euch nur betören lassen?“ Nein, wir brachten ihnen doch die Wahrheit, doch siehe, sie sind wahrhaftig Lügner. Gott hat keine Kinder angenommen, und neben ihm sind keine Götter. Denn dann würde jeder Gott mit dem davongehen, was er schuf, und der eine von ihnen würde sich über den anderen erheben. Gott ist erhaben über das, was sie da behaupten. Der Kenner des Verborgenen und des Sichtbaren! Ja, er ist hoch erhaben über das, was sie beigesellen.
Andere Stellen im Koran lassen erkennen, dass die Araber Gott, allāh, Söhne und Töchter oder nur Töchter zuschrieben (Q 6:100; 16:57). Die wichtigste Aufgabe der koranischen Verkündigung bestand darin, die polytheistischen Araber nicht mit einem neuen Gott namens allāh bekannt zu machen, sondern sie zum Glauben an ihn als den einzigen Gott zu bewegen, sie vom Polytheismus zum Monotheismus zu bekehren. Zahlreiche Verse erklären in diesem Sinn, dass es keinen anderen Gott gibt außer Gott, allāh:
Gott. Kein Gott außer ihm. Auf Gott sollen die Gläubigen vertrauen! (Q 64:13)
So wisse, dass es keinen Gott gibt außer den einen Gott, und bitte um Vergebung für deine Schuld und für die gläubigen Männer und die gläubigen Frauen! Gott weiß, wo ihr euch bewegt und wo ihr Wohnung nehmt. (Q 47:19)
Die Formulierung „lā ilāha illā llāh“, „Es gibt keinen Gott außer dem Gott“, bildet den ersten Teil der Schahāda, des islamischen Glaubensbekenntnisses. Der Monotheismus, der die koranische Verkündung proklamierte, beanspruchte, eine wiederhergestellte Form des reinen Monotheismus Abrahams zu sein, der weder Jude noch Christ war, sondern der erste Muslim, d.h. der erste Mensch, der sich dem Einen Gott bedingungslos ergab (Q 3:67f.). Nach koranischer Auffassung ist der Islam im Sinne der umfassenden Ergebenheit gegen Gott die ursprüngliche Religion, welche Abraham unbefleckt, natürlich, unverfälscht gründete und Muhammad wiedereinführte (Q 2:135; 3:95; 4:125; 16:123).
Um das Konzept des absolut Einen Gottes zu entwickeln, musste sich der Koran mit zwei einflussreichen Ideen auseinandersetzen: 1) mit der göttlichen Natur Jesu verbunden mit der christlichen Trinität auf der einen und 2) mit der altarabischen Vorstellung von der Herrschaft der endlosen Zeit über das Menschenleben auf der anderen Seite.
Der Koran enthält keine ausführliche Beschreibung der christlichen Trinität. An einer Stelle wird unmissverständlich als Unglaube die Auffassung zurückgewiesen, dass Gott (allāh) einer von drei sei:
Ungläubig sind, die sagen:
„Siehe, Gott ist der Dritte von dreien.“
Kein Gott ist außer einem Gott!
Und wenn sie nicht mit dem aufhören, was sie sagen,
so wird die Leugner unter ihnen schmerzhafte Strafe treffen. (Q 5:73)
Unmittelbar davor wird ebenfalls für Unglauben erklärt, dass Gott Christus, der Sohn Mariä ist:
Ungläubig sind, die sagen:
„Siehe, Gott ist Christus, Marias Sohn.“
Denn Christus spricht:
„Ihr Kinder Israel! Dient Gott, meinem Herrn und eurem Herrn!“
Siehe, wer Gott etwas beigesellt,
dem wird Gott den Paradiesgarten verwehren,
und sein Zufluchtsort wird das Höllenfeuer sein.
Die Frevler haben keine Helfer. (Q 5:72)
Vor allem in späteren Suren lässt sich beobachten, dass die koranische Verkündigung die Konturen ihres Gottesbildes vornehmlich im Zuge der Auseinandersetzung mit den Buchbesitzern (ahl al-kitāb), das sind die Juden und die Christen, schärft. Ein deutliches Beispiel dafür ist die im letzten Beitrag von mir behandelte Sure 112, in der die Einheit Gottes, sein Wesen und seine absolute Einzigartigkeit in Replik auf den Christlichen Glauben, der Sohn Gottes sei mit Gott wesensgleich, in prägnanter Formulierung festgestellt werden. In diesem Zusammenhang ist es des Weiteren bemerkenswert, dass die im Koran artikulierte Auffassung von der aus drei Göttern bestehenden Trinität nicht identisch ist mit der christlichen Trinitätslehre mit einem einzigen dreifältigen Gott.
Der zweite Ideenstrang, vor dessen Hintergrund das koranische Gottesbild mit Eigenschaften gefüllt wird, betrifft die vorislamische Auffassung von der Herrschaft der Zeit über die Geschicke der Menschen. Die Auseinandersetzung mit dieser paganen Auffassung verläuft durch den ganzen Koran, insbesondere an Stellen, an denen Gottes Macht über die Zeiten feierlich mit konkreten Ausdrücken beschrieben wird. So bestimmt Gott jedes Mal den Wechsel von Tag und Nacht (Q 25:62). Er lässt die Nacht in den Tag eindringen und den Tag in die Nacht (Q 3:27; 22:61), er lässt die Nacht den Tag überdecken (Q 7:54), er zieht den Tag von der Nacht weg (Q 36:37), er dreht die Zeiten umeinander (Q 24:44) und windet die Nacht über den Tag und den Tag über die Nacht (Q 39:5), wie ein Turban um den Kopf gewunden wird. Der Zweck solcher Äußerungen besteht darin, eindeutig zu verkünden, dass keine andere Macht die Welt, die Natur und das Menschenleben beherrscht außer Gott, der unmittelbar eingreift, um Naturphänomene und Lebensumstände zu bewirken. In diesem Zusammenhang können koranische Aussagen, die Gottes Dominanz über den menschlichen Willen thematisieren, dahingehend als rhetorische Bekräftigung seiner Macht verstanden werden, im Gegensatz zu der verbreiteten Meinung der Araber, sie seien der unentrinnbaren Macht der schicksalshaften Zeit ausgeliefert. Dieses Thema bedarf jedoch weiterer Untersuchung.
II.
Die Basmala, „bi-smi llāhi r-raḥmāni r-raḥīm“, geläufig übersetzt mit „Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers“, steht am Anfang von 113 Suren (Ausnahme: nicht am Anfang der neunten Sure) sowie an der Stelle Q 27:30. Fromme Muslime beginnen ihre Reden und ihre Handlungen im Namen Gottes, indem sie die Basmala sprechen. Es fällt auf, dass Gott in der Basmala mit drei Ausdrücken bezeichnet wird: allāh, ar–raḥmān, ar–raḥīm. Neben allāh für Gott besteht die Dreierstruktur aus zwei Ausdrücken, die aus derselben Wurzel abgeleitet und Attribute der Barmherzigkeit sind. Gott wird in der Formel zweimal hintereinander als barmherzig bezeichnet: als raḥmān und raḥīm. In der Korangelehrsamkeit ist vielfach versucht worden, das Wort ar–raḥmān und seine Stellung in der Basmala zu erklären. Die historischen Quellen liefern dazu eine nützliche Angabe: ar-raḥmān hieß der Gott, dessen Anbetung zur Zeit Muhammads in Südarabien verbreitet war. Gleichzeitig mit Muhammad trat ein mit ihm konkurrierender Prophet namens Musaylima auf, der behauptete, er erhalte Offenbarungen von ar-raḥmān, ähnlich wie Muhammad von allāh, Gott. Musaylima wurde von Anhängern Muhammads bekämpft und schließlich getötet. Der Name ar-raḥmān wurde mit dem Namen allāh assoziiert, um die Identität der beiden herzustellen:
Sprich: „Ruft Gott an, oder ruft den Erbarmer an:
Wie immer ihr ihn nennt, sein sind die Schönen Namen.“ (Q 17:110)
Eine Reihe von Suren, die vermutlich um dieselbe Zeit verkündet worden sind, zeichnen sich durch die intensive Verwendung des Wortes ar-raḥmān aus. All diese Maßnahmen dürften dem Zweck gedient haben, die Anbeter des Raḥmān von Muhammads Mission zu überzeugen. Ar-Raḥmān wird geläufig als Attribut Gottes verstanden, obwohl manch ein muslimischer Gelehrter der Auffassung ist, ar-Raḥmān sei ein Eigenname Gottes, der nicht übersetzt werden kann.
Die Barmherzigkeit Gottes prägt ebenfalls die erste Sure, al-Fātiḥa, die Eröffnung des Korans. Sie ist die meistzitierte Sure und Bestandteil des rituellen Gebets. Ähnlich wie die letzten zwei Suren 113 und 114 im Koran hat die erste Sure die Struktur eines Gebets, weshalb alle drei Suren in frühen Codices nicht enthalten waren. Welche Elemente des koranischen Gottesbildes beinhaltet die eröffnende Sure?
1 Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers.
2 Lobpreis sei Gott, dem Herrn der Welten / Weltbewohner,
3 dem barmherzigen Erbarmer,
4 dem Herrscher am Tage des Gerichts!
5 Dir dienen wir, dich rufen wir um Hilfe an.
6 Leite uns den rechten Weg,
7 den Weg derer, denen du gnädig bist,
nicht derer, denen gezürnt wird,
noch derer, welche irregehn!
Nach der Basmala wird Gott, „der Herr der Welten“, gepriesen. Genauso wie in der Bibel wird Gott im Koran auch rabb, Herr, genannt. Seine Herrschaft steht in Relation mit der Welt, vor allem mit den Menschen. Er ist „rabb al-ʿālamīn“, „Herr der Welten“, eine Bezeichnung, die im Koran häufig vorkommt und an ähnliche Formulierungen im Judentum und Christentum erinnert. Dass es mehrere Welten, aionen, gibt, die zyklisch aufeinanderfolgen, war eine Meinung spätantiker Gnosis, die im Koran rezipiert worden sein dürfte. Nach wiederholt zweifacher Betonung der Barmherzigkeit Gottes wird er – je nach Lesart des ersten Wortes im vierten Vers: malik oder mālik – als König oder als Besitzer des jüngsten Tages bezeichnet.
Mit dem Jüngsten Tag wird in jedem Fall Gottes Eigenschaft als Richter in den Vordergrund gerückt, der am Gerichtstag das ewige Schicksal des Menschen bestimmt. Genauso wie in dem am häufigsten verwendeten Gebet im Christentum, dem Vaterunser, schließt sich auch in der Fātiḥa an den ersten doxologischen Teil ein bittender Teil an. Der fünfte Vers fungiert als Übergang zwischen den zwei Teilen. Gott wird darin als Gegenstand der Anbetung und Instanz der Hilfeleistung dargestellt. Damit wird ebenfalls Gottes Kommunikabilität hervorgehoben.
Gott im Koran befindet sich in einem Kommunikationszusammenhang mit dem Menschen. Er offenbart diesem seinen Willen, vermittelt durch die Propheten. Die dem Menschen obliegende Reaktion ist die Anbetung, die im Islam theoretisch und praktisch ausgerichtet ist. Indem die Menschen Gott um Hilfe bitten, bekennen sie sich zu ihrer natürlichen Einschränkung, zu ihrer Hilfsbedürftigkeit. Das wichtigste, was Gott den Menschen gewährt, ist die Rechtleitung. Sie ist die umfassende Anweisung zur richtigen Lebensführung, die gleichermaßen rechten Glauben und rechtes Handeln bedeutet. Der rechte Pfad ist der Pfad derjenigen, die die Gnade Gottes genießen; sie werden von zwei anderen Menschengruppen unterschieden: der Gruppe derjenigen, die Gottes Zorn auf sich ziehen, und der Gruppe der Irrenden.
Auf Gottes Rechtleitung bezogen teilt sich die Menschheit nach koranischer Auffassung also in drei Gruppen ein: die Begnadeten, die Erzürnten und die Irrenden. Unmittelbar wird es nicht ersichtlich, ob die Muslime schon zu den Begnadeten gehören. Eine andere Stelle schafft allerdings diesbezüglich Klarheit:
Heute habe ich euch eure Religion vollständig gemacht und meine Gnade an euch vollendet und habe daran Gefallen, dass der Islam eure Religion ist. (Q 5:3)
Die Frage, wie sich Gottes aktive Rechtleitung bzw. Irreführung der Menschen mit seiner gerechten Belohnung bzw. Bestrafung derselben am Jüngsten Tag vereinbart, bleibt im Islam – wie übrigens auch im Christentum – ungelöst. Dennoch bietet die folgende Stelle einen Lösungsansatz aus der Sicht des Korans, womit – je nach Kontext auf unterschiedliche Weise – der angedeutete Widerspruch entschärft werden kann:
Sie sprechen: „Das ist ja nur unser Leben hier auf Erden.“
Und: „Wir werden doch nicht wieder auferweckt!“
Das Leben hier auf Erden ist nichts als Spiel und Zeitvertreib,
und die jenseitige Wohnstatt ist wahrlich besser für die,
die gottesfürchtig sind.
Wollt ihr denn nicht begreifen?
Wir wissen wohl, dass dich fürwahr betrübt, was sie da sagen.
Doch nicht dich erklären sie zum Lügner,
sondern die Frevler bestreiten die Zeichen Gottes.
Schon vor dir wurden Gesandte zu Lügnern erklärt,
und sie ertrugen in Geduld,
dass man sie der Lüge zieh und ihnen Leid antat,
bis unsere Hilfe sie erreichte.
Und es gibt keinen, der die Worte Gottes ändern kann –
zu dir kam doch Kunde über die Abgesandten!
Auch wenn es schwer für dich ist, dass sie sich abwenden –
und wenn du einen Schacht in die Erde finden könntest
oder eine Leiter in den Himmel,
um ihnen dann ein Zeichen herzubringen –
hätte Gott gewollt, hätte er sie allesamt auf den rechten Weg gebracht.
Doch du sollst ja keiner von den Toren sein!
Eine Antwort geben nur die, die hören.
Die Toten wird Gott erwecken,
Dann werden sie zu ihm zurückgebracht.
Sie sprechen: „Warum wurde kein Zeichen von seinem Herrn auf ihn herabgesandt?“
Sprich: „Siehe, Gott hat die Macht, ein Zeichen herabzusehen.“
Doch die meisten von ihnen haben kein Wissen.
Weder gibt es ein Tier auf Erden
noch einen Vogel, der mit seinen Flügeln fliegt,
die nicht, gleich euch, Gruppen wären.
Nichts ließen wir im Buch unbeachtet.
Dann werden sie bei ihrem Herrn versammelt.
Die unsere Zeichen Lügen nennen,
in Finsternissen sind sie, taub und stumm.
Gott führt in die Irre, wen er will,
und er lässt auf geradem Weg sein, wen er will.
So sagt mir doch:
Wenn die Strafe Gottes zu euch kommt,
oder ‚die Stunde‘ euch erreicht –
gibt es da einen anderen als Gott, den ihr anrufen könnt,
wenn ihr wahrhaftig seid? (Q 6:29, 32-40).
Nach dieser Passage handelt Gott offenbarungsökonomisch. In diesem Sinne heißt es an weiteren Stellen im Koran, dass dieser deshalb in arabischer Sprache verkündet wurde, damit die Araber die Verkündigung verstehen konnten:
Siehe, wir sandten es herab als Lesung auf Arabisch,
Vielleicht begreift ihr ja. (Q 12:2)
Wir sandten keinen Abgesandten, außer in der Sprache seines Volkes,
um ihnen Klarheit zu verschaffen. So führt Gott in die Irre, wen er will.
Er ist der Mächtige, der Weise. (Q 14:4).
Gott möchte, dass seine Rede verstanden wird und dass sie bei den Menschen wirkt. Wenn Menschen sich dagegen sperren, wenn sie ihr Gehör für die Verkündigung schließen, wenn ihre Herzen verstockt bleiben, kann dieser Zustand dem eifrigen Verkünder nicht angelastet werden. Er ist nach koranischer Auffassung ohnehin nur ein Sprachrohr seines göttlichen Auftraggebers, ohne dessen Erlaubnis er nichts machen kann. Der Verkünder verdient Ermutigung, damit er über Enttäuschungen hinwegsieht und unermüdlich weiter die Botschaft verkündet. Omnipotent, omnipräsent, gerecht und allwissend, ist der Gott des Korans letztendlich der Urheber jeder Handlung – sogar der negativen Haltung der Gegner Muhammads, da er sie zulässt, obwohl er sie stoppen könnte. Seine Einmischung würde aber der Sanktionierung menschlichen Handelns überflüssig machen, was sich keine Religion leisten könnte.
III.
Gottes Omnipotenz wird im Koran an zahlreichen Stellen verkündet, unter anderem am Ende von Versen mit dem Attribut al-ʿazīz, mächtig, und der Formel „allāhu ʿalā kulli šayʾin qadīr“, „Gott ist aller Dinge mächtig“ bzw. „Gott hat zu allem die Macht“. Solche Attribute wie auch diejenigen, die z.B. seine Weisheit, Herrschaft, Herrlichkeit und sein umfassendes Wissen bekunden, stellen sich als ein Rhythmus dar, der sich durch den ganzen Koran hindurchzieht und dazu beiträgt, dieses Buch zu einem einzigen Zeugnis über Gott und seine Eigenschaften und Handlungen zu gestalten. Wie bereits erwähnt dominiert unter den Eigenschaften Gottes im Koran die Barmherzigkeit; es heißt sogar dort, dass er sich dazu verpflichtet hat:
Sprich: „Wem gehört, was in den Himmeln und auf Erden ist?“
Sprich: „Gott!“
Er hat sich selber der Barmherzigkeit verschrieben.
Fürwahr, er wird euch versammeln zum Tag der Auferstehung,
über den kein Zweifel herrscht.
Die aber, die sich selbst verloren haben, glauben nicht. (Q 6:12)
Diese Aussage löste eine intensive theologische Debatte darüber, ob Gottes Barmherzigkeit seine Allmacht einschränken würde. Im Islam hat Gott 99 Namen, die schönsten Namen, wie es im Koran heißt:
Und Gott hat die Schönen Namen – ruft ihn damit an!
Und achtet nicht auf jene, die seinen Namen leugnen!
Denn ihnen wird vergolten, was sie taten. (Q 7:180)
Bis auf allāh bedeuten diese Namen Eigenschaften, die Gott im Verhältnis zum Menschen offenbart. An der folgenden Stelle werden einige dieser Namen aufgezählt:
Er ist Gott – der, außer dem es keinen gibt,
der das Offenbare und Verborgene kennt.
Er ist der barmherzige Erbarmer.
Er ist Gott – der, außer dem es keinen gibt.
Der König, der Heilige, der Heile,
der Sicherheit Verleihende, der Wächter,
der Mächtige, der Gewaltige,
der Hocherhabene!
Gott sei gepriesen; fern sei, was sie beigesellen!
Er, Gott, der Schöpfer, der Erschaffer, der Gestalter.
Sein sind die Schönen Namen.
Ihn preist, was in den Himmeln und auf Erden ist.
Er ist der Starke, der Weise. (Q 59:22-24)
Im Koran werden Gott ebenfalls scheinbar moralisch mangelhafte Attribute zugeschrieben: er handelt listig mit denjenigen, die seine Zeichen verleugnen, und führt sie täuschend, wohin sie nicht wissen (Q 7:182-3); er schmiedet Ränke (Q 3:54; 7:99) und betrügt (Q 4:142). Stehen solche Bezeichnungen auf den ersten Blick im krassen Widerspruch zu Gottes Vollkommenheit, können sie doch auch in einer solchen Weise gedeutet werden, dass sie die Anpassungsfähigkeit Gottes im Umgang mit den Menschen zeigen. Genauso wie er ihnen nach koranischer Auffassung Offenbarungen in ihrer Sprache herabsendet, damit sie sie verstehen können, verhält er sich mit ihnen in einer Weise, die ihren Handlungen angemessen ist. Er begibt sich auf ihr moralisches Terrain, um ihnen zu zeigen, dass er sie mit ihren eigenen Waffen besiegen kann, dass er in jeder Hinsicht der beste und größte ist. Ähnlich lautet es zum Beginn des Gebetsrufes, al-aḏān: „Allāhu akbar!“, „Gott ist größer!“ Er ist größer als alles andere Sein. Er ist stets der größere, unabhängig davon, womit er verglichen wird. Derart gedeutet können auch solche negativen Eigenschaften in Bezug auf Gott dazu beitragen, seine Überlegenheit zu demonstrieren.
Wie in der Bibel wird Gott auch im Koran mit Körperlichkeit versehen. Gott hat ein Gesicht (Q 2:115. Vgl. Q 2:272; 6:52; 13:22; 18:28); er hat ein Auge (Q 20:39); er besitzt eine Hand (Q 3:73) oder zwei (Q 38:75); er sitzt auf einem Thron:
Gott: Kein Gott ist außer ihm
dem Lebendigen und Beständigen.
Ihn fasst nicht Schlummer und nicht Schlaf.
Ihm gehört, was in den Himmeln und auf Erden ist.
Wer kann bei ihm Fürsprecher sein,
Es sei denn, dass er es erlaubt!
Er weiß, was vor und hinter ihnen ist.
Doch sie erfassen nichts von seinem Wissen,
es sei denn, was er will.
Sein Thron umgreift die Himmel und die Erde,
sie zu bewahren ist ihm keine Last.
Er ist der Erhabene, Gewaltige!
(Q 2:255)
Gelten diese und ähnliche Anthropomorphismen im Koran inzwischen unumstritten als metaphorische Bezeichnungen göttlicher Aspekte und Eigenschaften, entbrannten im achten und neunten Jahrhundert unter islamischen Theologen heftige Debatten über ihre Deutung. Während die rationalistisch ausgerichteten Muʿtaziliten und später wirkende Philosophen für die allegorische Interpretation plädierten, vertraten die traditionalistischen Hanbaliten (die Anhänger von Aḥmad bin Ḥanbal, gest. 855) ein wörtliches Verständnis solcher Aussagen. Die Einmischung der politischen Herrschaft in der Debatte, um anfangs die Rationalisten zu unterstützen und ihre Widersacher zu verfolgen, dann aber unter einem späteren Kalifen das Gegenteil zu tun, brachte weitere Komplikationen mit sich. Der politisch herbeigeführte Sieg der Traditionalisten führte längerfristig dazu, dass sich im Islam rationale Deutungen des Korans nicht durchsetzen und nicht zu einer wissenschaftlichen Hermeneutik weiterentwickeln konnten. Auch allegorische Deutungen solcher Koranstellen durch Sufis werden in der islamischen Orthodoxie nicht gern gesehen. Wobei der Koran schöne Beispiele für solche Interpretationen bietet, wie es besonders am sogenannten Lichtvers demonstriert werden kann:
Gott ist das Licht der Himmel und der Erde.
Sein Licht ist einer Nische gleich, in welcher eine Leuchte steht.
Die Leuchte ist in einem Glas, das Glas gleicht einem funkelnden Gestirn,
entflammt von einem segensreichen Ölbaum, nicht östlich und nicht
westlich.
Sein Öl scheint fast zu leuchten, auch wenn das Feuer es noch nicht
berührte.
Licht über Licht! Gott leitet, wen er will, zu seinem Licht.
Gott prägt Gleichnisse für die Menschen, und Gott weiß alle Dinge.
(Q 24:35)
Ebenfalls geeignet für mystisch-spekulative Deutungen sind Verse, die Gottes Liebe und Vergebung für die Menschen thematisieren:
Er ist der Vergebungsbereite, der Liebevolle. (Q 85:14)
Sprich: „Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir nach,
denn dann liebt euch auch Gott
und vergibt euch eure Missetaten!“
Siehe, Gott ist bereit zu vergeben und barmherzig. (Q 3:31)
O ihr, die ihr glaubt! Wenn jemand von euch sich von seiner Religion
abkehren will,
dann wird Gott Menschen bringen, die er liebt und die ihn lieben,
demütig gegen die Gläubigen, streng gegen die Ungläubigen,
die kämpfen werden auf dem Wege Gottes
und sich nicht vor dem Tadel eines Tadlers fürchten.
Das ist die Gnade Gottes – er gibt sie, wem er will.
Gott ist umfassend, wissend. (Q 5:54)
Ein Vers verkündet, dass Gott dem Menschen näher als seine Halsschlagader ist (Q 50:16). Gott erschuf den Menschen mit seinen Händen, er gestaltete ihn auf eine schöne Weise (Q 64:3) und machte ihn zum Statthalter der Erde (Q 2:30). Der biblischen Lehre, Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbild und seinem Bildnis geschaffen, erteilt der Koran indirekt eine Absage (Q 42:11).
In medinensischen Suren beteiligt sich Gott an den Kriegen der Muslime. Er gebietet ihnen zu kämpfen (Q 2:190 f.; 9:5) und ihren Anführer, seinen Gesandten, nicht im Stich zu lassen (Q 3:32; 9:24), Gott interveniert in den Kampf, schickt den Muslimen Engel, die ihre scheinbar unvermeidliche Niederlage in einen von ihm geschenkten Sieg zu verwandeln (Q 3:123-125). Auch vor der Entstehung des Islam rettete er mit einer wundersamen Militäraktion Mekka vor der Eroberung durch die Leute des Elefanten (Q 105). Der exegetischen Literatur zufolge ist damit der gescheiterte Feldzug des himyaritischen Königs Abraha aus Südarabien vermutlich um das Jahr 552 gemeint.
IV.
Zum Schluss lässt sich Folgendes sagen: nach islamischem Glauben ist Gott Einer, er ähnelt in seiner soliden kompakten Einheit dem aristotelischen Unbewegten Beweger. Seine 99 Namen stehen für seine Eigenschaften. Wie sie sich zu seinem Wesen verhalten, ist eine in der islamischen Theologie reichlich diskutierte Frage. Seine Eigenschaften sind seine Haltungen dem Menschen gegenüber. Gott ist der allmächtige Schöpfer des Alls und der gerechte Richter am Jüngsten Tag. Er weiß alles und kontrolliert alles. Er ist barmherzig. Von der Unendlichkeit seiner umfassenden Barmherzigkeit überzeugt, vertreten manche muslimischen Theologen sogar die Ansicht, Gott werde am Ende die Hölle eliminieren. Zwischen Gott und dem Menschen ist eine unüberbrückbare ontologische Kluft, die es keinem Menschen erlaubt, Gott unmittelbar anzuschauen oder in direkten Kontakt mit ihm zu treten (Q 42:51). Einen Mittler zwischen Gott und den Menschen wie Christus kennt der Islam nicht; auch heilige Menschen mit Fürbitter-Funktion lässt die islamische Orthodoxie nicht zu. Im schiitischen und volkstümlichen Islam wird dieses Thema jedoch gewissermaßen lockerer behandelt.
Gott verzieh Adam die Übertretung seines Gebots. Da der Mensch schwach ist, kann er nicht immer Satans von Gott erlaubten Versuchungen widerstehen. Deswegen schickt Gott den Menschen immer wieder Propheten, die seinen Willen wiederholt verkünden und die Menschen ermahnen, sie zu befolgen. Alle Offenbarungen, alle heiligen Schriften stammen aus einer einzigen Quelle. Trotz ihrer Vielfalt verbindet sie miteinander eine wesentliche Einheit. Dem Menschen obliegt es, sich Gott bedingungslos zu ergeben – eine Haltung, die die ursprüngliche Form der Religion ist, die nach koranischer Sicht im Islam, von Verformungen und Fehlentwicklungen bereinigt, wiederhergestellt wird.
Verglichen mit dem in der Bibel und somit im Judentum und Christentum vorherrschenden Gottesbild trägt das Bild Gottes im Koran und somit im Islam stärkere deterministische Züge. Gottes Handeln im Koran lässt dem Menschen weniger Raum für freie, eigenständige Entfaltung. In diesem Sinne lässt Gott Adam im Koran nicht die Dinge selbst benennen, sondern bringt ihm diese Namen bei (Q 2:31). Gott interveniert direkt und lässt Joseph nicht sündigen (Q 12:24). Ohnehin kann er es nicht erlauben, dass sich seine erwählten Gesandten und Propheten falsch verhalten oder dass sie bei der Verkündigung seiner Botschaft versagen. Deshalb interveniert er unmittelbar, wann immer dies nötig ist. Gott im Koran ist der Gott der Stärke. Selbst Jesus, der im Koran zwar nicht als Gottes Sohn, aber doch als wichtiger Prophet gilt, wird deswegen im Koran nicht gekreuzigt: Gott errettet ihn heimlich.
Auch im Hinblick auf die Abläufe in der Natur erfolgen diese in der Bibel gemäß der Gesetzmäßigkeit, die Gott ihr bei der Schöpfung eingegeben hat. „Die Sonne weiß ihren Niedergang“, heißt es in Psalm 104:19. Wie bereits dargestellt bewirkt Gott im Koran hingegen jeden Periodenwechsel selbst unmittelbar. Er ist allgegenwärtig, unaufhörlich tätig, er kennt keine Ruhe, keinen Sabbat (Q 2:255). Auch die Vernunfttätigkeit des Begreifens wird im Koran ausschließlich als Mittel zum Glauben eingesetzt. Wissen, das nicht zu Gott hinführt, ist Ignoranz.
Ist also der Gott des Koran ein grausamer Despot, ein schrecklicher Diktator? Nein, zumal die Barmherzigkeit seine wichtigste Eigenschaft ist. Er ist allerdings ein Gott der Macht. Und er wurde von Muhammad, dessen Nachfolgern und den Anhängern seiner Botschaft auch so wahrgenommen. Mit Macht haben sie den Islam zur Weltreligion gemacht.