Oft wird Bach als genialer, aber – im Unterschied etwa zu Händel oder Telemann – nicht weltgewandter Kirchenmusiker betrachtet. Diese Einschätzung beruht auf Unkenntnis.
Hermeneutischer Horizont
Bach – ein Intellektueller des 18. Jahrhunderts
Bach war zwar kein Akademiker, aber dennoch durch seine (Gymnasial-)Lehrer in Eisenach, Ohrdruf und Lüneburg mit dem zeitgenössischen philosophisch-theologischen Denken bekanntgemacht worden. In Eisenach und Ohrdruf dominierten Einflüsse der theologischen Fakultäten Jena und Leipzig, während die Lüneburger Lehrer ihre akademischen Grade fast alle in Wittenberg erworben hatten.
Nicht zuletzt hat Bach sich in seiner Reifezeit um entsprechende Literatur bemüht und diese auch gekauft, was einen enormen finanziellen Aufwand bedeutete und für einen Kirchenmusiker ganz und gar nicht typisch war. Weshalb etwa auch Carl Philipp Emanuel Bach im Nekrolog auf seinen Vater jedes einzelne Buch aus dessen Bibliothek aufführte – immerhin 52 Bände, teils mit mehreren Schriften in einem Band zusammengebunden. Neben pietistischer Erbauungsliteratur finden sich z. B. Predigtsammlungen (Postillen) zum Kirchenjahr. 1742 erwarb Bach antiquarisch die Altenburger Luther-Ausgabe sowie andere orthodox-dogmatische Lehrbücher. „Zweifellos dienten diese Bücher und Schriften als theologisches Arbeitsinstrument für die von Bach als Kirchen-Komponist geforderte Textexegese im Rahmen und in Fortsetzung der Predigtfunktion der zur Kirchenmusik bestimmten Dichtungen“, wie Hans Heinrich Eggebrecht schreibt.
Zentrale Bedeutung kommt indessen der mit etlichen Randnotizen aus Bachs Feder versehenen sogenannten Calov-Bibel zu. Aus den beiden letzten Lebensjahrzehnten entstammen seine Anmerkungen; sie kreisen um Fragen des Gottesdienstes und die Rolle der Musik darin. Für unseren Kontext ist der Eintrag zu 2Chronik 5,3 bedeutsam: Das chronistische Geschichtswerk schildert hier die Tempelweihe durch König Salomo, die begleitet wird vom Pauken- und Saitenspiel der Leviten. Diese Szene war auch als Schmucktitelblatt abgebildet auf dem Eisenacher Gesangbuch von 1673, das Bach seit seiner Kindheit vertraut gewesen sein muss. Der erstaunliche Kommentar Bachs zu dieser Tempelszene lautet: „NB. Bey einer andächtigen Musique ist allzeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.“
Dieser enge Gottesbezug der Musik Johann Sebastian Bachs geht auch eindeutig aus verschiedenen Vorreden und Bemerkungen zu seinen Kompositionen hervor. So stellt er seinem 1708 bis1717 entstanden Orgelbüchlein (BWV 599–644) folgendes voran:
„Orgel-Büchlein. Worinne einem anfahenden Organisten Anleitung gegeben wird, auff allerhand Arth einen Choral durchzuführen, anbey auch sich im Pedalstudio zu habilitiren, indem in solchen darinne befindlichen Chorälen das Pedal gantz obligat tractiret wird. Dem höchsten Gott allein zu Ehren, dem Nechsten, draus sich zu belehren.“
Schon dieses frühe Meisterwerk choralbezogener Orgelmusik weist die Einheit von weltlicher und geistlicher Musik auf, hier in Form des Einflusses italienisch geprägter konzertanter Schreibweise, die der Opern- und Instrumentalmusik entstammt. Die Verbindung von Cantus-firmus-Bearbeitungen norddeutsch-protestantischen Typs mit „modernem“ italienischen Konzertsatz von instrumentalem bzw. ariosem Idiom unter Einschluss des Trio-
prinzips geht weit über das zeitgenössische Schaffen hinaus. Dies gilt nicht nur für die formale Qualität, sondern auch für den affektiven Reichtum der Tonsprache sowie die enge Verbindung von Wort und Ton in satztechnischer, figurativer sowie bewegungsorientierter Hinsicht; kurz: Der beredte Charakter der Orgelwerke ist sinnenfällig. Diese Details „prägen das Bild des Orgelbüchleins als ‚Wörterbuch der Bach’schen Tonsprache‘, in dem gleichermaßen Vielfalt in der Einheit und Einheit in der Vielfalt der musikalischen Gedanken herrscht“, wie Michael Kube meint.
Der durch die Vorrede zum Orgelbüchlein offenkundige Konnex von Musik bzw. Musikunterricht und Gotteslob ist von der Materie der Musik selbst her induziert, also geradezu als ein Wesenselement der Musik zu verstehen, wie es Bach in seinen Instruktionen über den Generalbass seinen Schülern einprägt:
„Der Generalbaß ist das vollkommenste Fundament der Musik, welcher mit beyden Händen gespielet wird, dergestalt, daß die linke Hand die vorgeschriebenen Noten spielt, die rechte aber Con- und Dissonantien dazu greifet, damit dieses eine wohlklingende Harmonie gebe zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüts und soll wie aller Musik, so auch des Generalbasses Finis und Endursache anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths sein. Wo dieses nicht in acht genommen wird, da ist’s keine eigentliche Musik sondern ein teuflisches Geplerr und Geleyer.“
Einen weiteren Hinweis auf den religiösen Hintergrund seines Unterrichts bzw. Komponierens geben diverse den Kompositionen hinzugefügte Bemerkungen. Über die ersten (unter Anleitung des Vaters entstandenen) Kompositionsversuche des Sohnes Wilhelm Friedemann (1710–1784) aus dem Jahr 1720 setzte der Vater: „In Nomine Jesu“. Seinen eigenen Partituren pflegt Bach vielfach ein J.J. (Jesu juva) voranzustellen. Oder er setzt eine S.D.G. (Soli Deo Gloria) an das Ende einer Partitur. Diese Praxis dient sogar im Falle der h-Moll-Messe (BWV 232) als Datierungskriterium hinsichtlich der Entstehungszeiten der einzelnen Messteile.
Die philosophisch-theologischen Implikationen vieler satztechnisch-kompositorischer Eigenheiten des Personalstils tauchen auf im Horizont seines Eintritts von 1747 in die von seinem ehemaligen Schüler, dem Musikwissenschaftler Lorenz Christoph Mizler gegründete Corres-
pondierende Societät der musicalischen Wissenschaften. Als für die Mitglieder verpflichtende Jahresgabe überreichte Bach 1747 den Druck der Canonischen Veränderungen über Vom Himmel hoch (BWV 769), das Musikalische Opfer (BWV 1079) für 1748 – dem Jahr der vermutlichen Entstehung des Credo aus der h-Moll-Messe; für 1749 war wohl die Kunst der Fuge (BWV 1080), deren Drucklegung Bach in dieser Zeit vorbereitete, vorgesehen. Allesamt Werke mit höchstem Anspruch auf kontrapunktische Gelehrsamkeit und – mit aller Vorsicht gesagt – weltanschaulicher Prägung. Das heißt, in der fast hermetisch anmutenden Welt des Kontrapunkts, der zugleich in radikale harmonische Verdichtungen und Konsequenzen geführt wird, manifestiert sich ein Weltbild, das von einem grundlegenden Ordo-Gedanken erfüllt ist, der sich einer Schöpfungsüberzeugung verdankt, die zutiefst theologisch fundiert ist. Dies bedarf der Begründung.
Die Welt der Zahlen als Bindeglied zwischen Welt und Gott
Da Bach orthodoxer Lutheraner war, dürfte ihm auch die Musikphilosophie des Augustinus – Luther war Augustiner-Mönch – geläufig gewesen sein. Bei Augustinus also finden wir wesentliche Hinweise auf die für Bach typische Behandlung theologischer Fragen, liturgischer Texte und frömmigkeitsspezifischer Ideen in musikalischem Idiom. Auf der Suche nach biblisch begründeten Leitgedanken zur philosophisch-theologischen Qualität von Musik wird von den Kirchenvätern zumeist das alttestamentliche Buch der Weisheit herangezogen, wo es heißt: „Gott hat alles nach Maß und Zahl und Gewicht geordnet“ (Weish 11,20). So liegt denn auch für Augustinus der Musik als klingender Zahl (Pythagoras) die ewige, rein geistige Zahl zugrunde. Darüber hinaus ist sie Geschenk der göttlichen Vorsehung und Ausdruck der Gottesliebe eines frommen Herzens. Die Seele wird zur Gottesliebe provoziert durch das Prinzip der Zahlen und der Ordnung, welche die Seele in den Dingen liebt: „Ad Dei amorem provocatur anima ex numerorum et ordinis ratione quam in rebus diligit“ (De musica VI, cap. XII, 35).
Die Einheit des dreifaltigen Gottes spiegelt sich auch im Werk des Schöpfers und garantiert also die Einheit bei aller Vielfalt der weltlichen Erscheinungsformen. Dies gilt auch für das Individuum selbst, das in sich trinitarisch verwiesen ist: Sein, Leben und Verstehen sind im augustinischen Cogito dreieinig präsent. Die Trinität Gottes ist die alles begründende Leitidee, denn der Dreischritt findet sich – mit Karl Jaspers gesagt – „in allen Dingen, in der Seele, in jeder Realität. Der Dreitakt im Denken alles Seienden ist ein Abbild der Gottheit“. Die Zahlen interpretiert Augustinus dann auch psychologisch, da sie „nach den ‚körperlichen‘ Zahlen im äußern Objekt stufenweise emporführen von den Rhythmen der Sinne über die Rhythmen des Gedächtnisses zu den von der Seele aktiv hervorgebrachten Leibesrhythmen wie Atem und Herzschlag bis zum Rhythmus des judicium sensibile, das seinerseits dem Urteil des Geistes und den ihm von Gott her eingegebenen geistigen Rhythmen untersteht“, so Hans Urs von Balthasar. Diese Erkenntnis der Zahlen-Analogien geschieht aber in der illuminatio durch das Licht des absoluten Geistes Gottes. Deshalb versteht es sich, wenn bei der Kontemplation der göttlichen Dinge auch leibliche Rhythmen mitschwingen; umso mehr werden die Menschen nach der Auferstehung bei der visio beatifica die Rhythmen, die den Leib beseelen, voll Freude fühlen (De musica 6, 49).
Balthasar resümiert: „Es gibt den Einklang von Gott und Welt auf Grund dieses Verhältnisses der Urzahlen, die sich im Sein und Wesen alles Weltlichen darstellen … es gibt ihn noch höher deshalb, weil auch das Unendliche Gottes nicht ohne Maß ist, sondern vom Sohn als dem Gleichbild des Vaters durchmessen wird und weil an dieser Stelle in Gott die Möglichkeit und Wirklichkeit einer gemessenen Welt entspringt.“
Martin Luther wertschätzte die Wirkung der Musik als recreatio cordis, Erneuerung oder Erfrischung des Herzens und als Reinigung vom Bösen: Sie vermag nämlich „das Gemüt ruhig und fröhlich zu machen, zum offenbaren Zeugnis, daß der Teufel, der Urheber der traurigen Sorgen und unruhigen Gedanken vor der Stimme der Musik fast ebenso flieht, wie vor dem Wort der Theologie“, so schreibt der Reformator im Jahr 1530 an den Komponisten Ludwig Senfl. Und in einer Predigt über Psalm 33,3 konstatiert Luther, Musik „ist das beste Labsal einem betrübten Menschen, dadurch das Herze wieder zufrieden, erquickt und erfrischt wird“. Er sah auch den religionspädagogischen Nutzen der Musik („Wenn sie es nicht singen, glauben sie es nicht“) und betrachtete sie als vollgültige Form des Gotteslobes: Er selbst schrieb Kirchenlieder, teils völlig neu, teils als Übertragungen von lateinischen Texten ins Deutsche samt entsprechender Angleichung der gregorianischen Melodien, die liturgischen Rang besaßen.
Den Transfer dieser philosophisch-theologischen Ausgangslage in die kompositorische Fantasie leistet Gottfried Wilhelm Leibniz, der in seinen Epistulae ad diversos 1712 von der Musik als „der geheimen arithmetischen Übung des unbewußt zählenden Geistes“ spricht. Eine solche Übung des Geistes setzt aber die vorgängige Ordnung aller Elemente und deren Bezogenheit auf ein grundlegendes Ordnungsprinzip voraus. In der Denkvorstellung von Monaden wird dies begreifbar: „von der Monade, der einfachen unteilbaren Substanz, dem ‚wahrhaften Atom der Natur‘, stieg die Rangfolge über die Zentralmonade der anima. Über die ‚mens‘ zur ‚ultima ratio rerum‘ auf, zu Gott. Und wie die ‚prästabilierte Harmonie‘ diesen Weltenbau zusammenhält, so waltet in den Bauteilen einer Fuge … die mikrokosmische Spiegelung dieser ‚prästabilierten Harmonie‘ als sinn- und ziervolle Ordnung … in den Gesetzen der Harmonie und der kontrapunktischen Satzlehre ließen sie (die barocken Komponisten, M.H.) jene metaphysische Ordnung sich widerspiegeln, die ihnen eine Ordnung von Gott war“, so Werner Korte.
Einen der vielen Belege für die zu Bachs Zeiten gängige Überzeugung von der Teilhabe der Musik an der göttlichen Ordnung liefert der zeitgenössische Musiktheoretiker Andreas Werckmeister, dessen Anweisungen zum Stimmen von Tasteninstrumenten das Ziel verfolgten, eine Stimmung herzustellen, die das Klavierspiel in allen Tonarten ermöglicht. Bach selbst hat mit seinem Wohltemperierten Klavier den entsprechenden Nachweis geliefert, unter Anwendung einer Werckmeister-Stimmung. Werckmeister wörtlich: „Und ob diese Musik schon die Kraft von Gott bekommen, so muß sie doch vorhero nach der natürlichen Ordnung und Grundsätzen, so Gott in die Natur geleget, eingerichtet gewesen sein. Denn Gott ist ein Gott der Ordnung. Er wird seine Kraft in keine Unordnung und verwirrtes Wesen miteinengen.“
Die klingende Musik ist auch nach Jakobus von Lüttich Abbild und Sinnbild einer überklanglichen Harmonie, die „auf einem zahlhaften Ordo, auf Proportio und Connexio beruht“. Und nochmals Werckmeister: Die „Zahlen 1.2.3.4.5.6. und 8. (geben) ein Corpus der völligen Harmonie, und … können uns schattenweise das Wesen des allmächtigen Gottes abbilden, wie er von Ewigkeit in seiner ewigen Natur, ehe der Weltgrund geleget war, gewesen ist“. Eine herausragende Stellung nimmt in diesem Kontext der Dreiklang ein. Dieser erhält – wie im Mittelalter der dreizeitige Rhythmus als tempus perfectum – ebenfalls eine trinitarische Deutung. Der elsässische Theologe Johann Lippius sieht im Dreiklang „Bild und Schatten jenes großen Mysteriums der göttlichen Dreieinigkeit“. Und zudem werden nach Werckmeister „Gott (die Unität) durch die 1, der Gottes-Sohn Christus durch die 2, der Heilige Geist durch die 3, alle drei aber in der Trinität durch die Trias harmonica, den Dreiklang versinnbildlicht“.
Näheres zur sinnbildlichen Qualität des Dreiklangs erfahren wir bei Bachs Zeitgenossen, dem Erfurter Organisten Johann Heinrich Buttstedt (1666–1727), aus dessen Schrift Ut mi sol re fa la, tota musica et harmonia aeterna. Hier wird schon im Titel der Dur-Dreiklang ut-mi-sol (c-e-g) mit der ewigen Harmonie in Bezug gesetzt. Und ausdrücklich sieht Buttstedt in diesem Dur-Dreiklang ein Tonsymbol für die göttliche Natur Jesu Christi, während der Moll-Dreiklang re-fa-la (d-f-a) als Ausdruck seiner menschlichen Natur gewertet wird.
Andreas Werckmeister gibt in seiner Schrift Musicae mathematicae Hodogus curiosus die zahlentheoretische Begründung für Bachs entsprechende musikalische Dispositionen gerade auch in der h-Moll-Messe: Die Trias harmonica perfecta, also der Dur-Dreiklang, weist die Proportionen 4:5:6 auf (Schwingungsverhältnisse gemäß der Naturtonreihe); der Moll-Dreiklang mit seinen Proportionen 10:12:15 gilt als Trias harmonica imperfecta, da er weiter entfernt ist von der als vollkommene Proportion verstandenen Oktave (1:2), die wiederum der Unität 1:1 = 1 am nächsten kommt. Nebenbei: Die Quinte ist als sogenannte Dominante zum Grundton deshalb herausragend, weil sie die Proportion 2:3 aufweist. Werckmeister schreibt dazu: „Gott ist selber die Unität“. Und für alle geschaffenen Dinge – auch die musikalischen – gilt: „Je näher ein Ding der Unität, je begreiflicher, je weiter, je unvollkommener und verwirreter es sei.“
Musikalische Parameter als Analogie von Schöpfungskategorien
Die fundamentalen Kategorien von Raum und Zeit als Grundlage jeder Art von Welt- und Selbsterkenntnis hat Immanuel Kant erwiesen. In der Musik finden sich zuhauf analoge Gestaltungsmittel hierzu:
Die Raumwirkung wird konkretisiert in der Gegenüberstellung von hohen und tiefen Stimmen (Sopran und Alt gegenüber Tenor und Bass im Vokalbereich; hohe und tiefe Streicher bzw. Blasinstrumente; dazu wiederum analog die Vielfalt der Orgel-Register). Crescendo-Decrescendo-Effekte werden als sich entfernende bzw. sich nähernde Klänge wahrgenommen. Helle und dunkle Klänge ergeben ebenfalls räumliche Effekte. Die Korrelation von Solo und Tutti, instrumental wie vokal sowie in gemischten Ensembles konstituiert Räumlichkeit bzw. Masse. Verteilung einzelner Chor- und Instrumentalgruppen (vgl. auch die sogenannte Venezianische Mehrchörigkeit, Bachs doppelchörige Motetten oder Chor- und Orchesteraufstellungen wie etwa in der Matthäus-Passion) ergeben eine nicht nur optisch, sondern auch akustisch differenzierte Choreographie.
Die Zeitwahrnehmung kommt verschiedenartig ins Spiel:
- ursprünglich mit der Tondauer, also dessen Ver-
gänglichkeit, - Takt und Rhythmus als musikalische Fundamentalparameter gliedern Musik in ihrem zeitlichen Ablauf,
- durch die Modifikationen des Tempos – etwa accelerando/ritardando, Fermaten (eigentlich Aussetzen des Taktes und Unterbrechung der regulären Zeitfortschreitung),
- die Synchronizität wird optisch und akustisch wahrnehmbar in der Überlagerung von verschiedenen Takten (z. B. 2er-Takte in einer Stimme gegen simultan laufende 3er-Takte in einer anderen); Hemiolen als Unterbrechung der Betonungen; Phasenverschiebungen zwischen Stimmen, die erst nach mehreren Takten wieder zusammenkommen,
- und nicht zuletzt durch Pausen!
Dazu tritt die von Kant nicht berücksichtigte Kategorie der Geschichtlichkeit des Daseins. Diese betrifft natürlich auch die Musikgeschichte und deren diverse Entwicklungslinien. Hier hat Bach schon in Schülertagen enormen Wissendurst gezeigt, als er etwa aus der Bibliothek in Lüneburg die Orgelsammlung Fiori musicali von Girolamo Frescobaldi eigenhändig kopierte, oder Concerti von Antonio Vivaldi und französische Orgelmusik von Nicolas de Grigny oder Louis Marchand sowie französische Tanz-Suiten studierte. Ebenso fand die klassische Vokalpolyphonie der Niederländischen Schule und von Giovanni Pierluigi da Palestrina sein großes Interesse. Vielfältige Spuren dieser Auseinandersetzung und Aneignung finden sich allenthalben in seinem eigenen Œuvre.
Im Werk Bachs ist schließlich noch die Überlagerung von profaner und geistlicher Welt zu beachten. Konkret: Urchristliche Traditionen werden aufgegriffen wie z. B. Bibeltexte, Bibelparaphrasen und liturgische Texte wie das Credo etc. und mit avancierten kompositorischen Mitteln verklanglicht. Weltliche Tanzformen werden in geistliche Musik aufgrund des affektiven Gehalts der Tänze integriert. Symbolische Konnotationen von Instrumenten und musikalischen Figuren werden eingebracht: Flöten als Hirteninstrumente, Streicher als edle oder himmlische Klangquellen – man denke nur an die Streicherbegleitung für die Jesus-Worte in der Matthäus-Passion, sie bilden quasi einen Strahlenkranz um das Haupt Jesu. Dazu kommt die Zuweisung bestimmter Notationsweisen an Ideen von Alter und Dignität, besonders die alte Mensuralnotation, wenn es um Gott-Vater geht.
Schließlich ist der Bereich der Umsetzung von Affekten und Emotionen in musikalische Figuren zu beachten. Das einschlägige Stichwort heißt „musikalische Rhetorik“. Um nur wenige zu nennen: Passus duriusculus (allzu harter Gang; chromatisch geführte Tonfolge meist im Umfang einer Quart), Suspiratio (Seufzerfiguren), Hyperbolé (Übertreibung: Wenn etwa eine Tonleiter den Umfang einer Oktave überschreitet, um somit ein Wort bzw. eine Idee hervorzuheben), Repetitio (Tonwiederholungen), Chiasmus (X für Christus und damit auch Kreuzsymbol), Onomapoesie (der Begriff selbst enthält einen Hinweis auf die Deutung, etwas ein musikalisches „Kreuz“ als Hinweis auf Kreuzigung).
Jetzt kann die einleitend zitierte Definition des Buches der Weisheit bezüglich der schöpferischen Tätigkeit Gottes konkretisiert werden im Blick auf ihre musikalische Realisierung:
- Dem Maß entsprechen musikalisch die jeweils angewandten Formen und Gattungen; der Wechsel der in Musik vermittelten Emotionen und sittlichen Haltungen und deren letztendliche Auflösung in Harmonie;
- der Zahl korrespondieren etwa die Anzahl der Stimmen, die Intervalle, die Takt- und Rhythmus-Varianten und deren jeweilige Verhältnisse; oder geometrische Feinheiten wie die Anwendung des Goldenen Schnitts für das Binnenverhältnis etwa von Tripelfugen (vgl. Es-Dur-Präludium aus der sogenannten Orgelmesse);
- dem Gewicht entsprechen z. B. die wechselnden Besetzungen: Solo und Tutti, Mehrchörigkeit, Echoeffekte etc.
Werkanalyse
Die axialsymmetrische Anordnung mit dem Crucifixus in der Mitte
Das Zentrum der Credo-Vertonung bildet das Crucifixus. Um diesen Satz, den fünften von insgesamt neun Sätzen, als Achse sind symmetrisch jeweils ein Chorsatz (Et incarnatus – Et resurrexit), eine Solo-Arie bzw. ein Duett (Et in unum Dominum – Et in Spiritum Sanctum) sowie ein Satzpaar Chor a cappella und Tutti-Chor (Credo in unum Deum/Patrem omnipotentem – Confiteor unum baptisma – Et exspecto resurrectionem) zugeordnet.
Der gekreuzigte menschgewordene Gottessohn stellt für Bach offenkundig mehr dar als einen Glaubensartikel neben anderen, er ist für ihn persönlich Halt und Hoffnung. Er lässt sich vom Schicksal Jesu nicht nur berühren, sondern setzt sich intellektuell damit auseinander, was der Lebensweg Jesu, sein erniedrigender Gang zum Kreuz, sein Tod und seine Auferstehung mit ihm selbst, Johann Sebastian Bach, zu tun haben. Um ein Wort Paul Tillichs abzuwandeln: Jesus ist die Person, die den Komponisten „unbedingt etwas angeht“.
Auffällig – und hörbar – sind die drei unterschiedlichen musikalischen Ebenen: Die Komposition entwickelt sich auf der Grundlage des Continuos, das als Chaconne gestaltet ist. Die unverändert wiederkehrende 4-Takt-Tonfolge hat etwas Bezwingendes im negativen Sinn und legt die Assoziation zur Ausweglosigkeit des Gekreuzigten nah, zur Unerbittlichkeit der Folter; die Unausweichlichkeit des Todes ist hier spürbar. Zugleich bildet die Tonfolge einen Passus duriusculus: Der Gang ans Kreuz ist mit unerträglichen Schmerzen verbunden.
Sehr wichtig und keinesfalls Zufall ist dessen zwölfmaliges Erscheinen. Die Zahl 12 steht – wie auch in der barocken bildenden Kunst – für die Vollendung eines Zeitraums, einer Aufgabe, einer Struktur: 12 Monate, 12 Stämme Israels, 12 Apostel, 12 Tore des neuen Jerusalems. Auch ein altes Volkslied besagt: „Zwölf, das ist das Ziel der Zeit, Mensch, bedenk die Ewigkeit“. Hier wird gezeigt: Mit dem Tod Jesu ist die Zeit erfüllt – nicht nur seine eigene irdische Lebenszeit. Durch seinen Kreuzestod und die daran anschließende Auferstehung ist auch der irdische Äon mit seiner Finsternis und Bosheit grundsätzlich an ein Ende gekommen; die Macht des Teufels (für den gibt es einen eigenen musikalischen Terminus: die übermäßige Quarte Diabolus in musica) ist definitiv gebrochen. Mit der Auferstehung Jesu bricht der neue Äon an: Der Himmel – und damit die Zeitlosigkeit der Ewigkeit – steht grundsätzlich jedem Menschen offen.
Diese Hoffnung lässt Bach unvergleichbar aufleuchten, indem er eine 13. Durchführung des Chaconne-Themas anstimmt, jedoch in dessen Mitte abbiegt und den Satz, der in e-Moll steht, umleitet in die parallele Dur-Tonart G-Dur. Dabei schweigen die den Satz begleitenden Flöten und Streicher. Zudem schreibt Bach piano vor. Beides bildet die Grabesruhe bei et sepultus est ab. Flöten und Streicher haben nämlich die zweite Ebene gebildet, indem sie unentwegt Seufzerfiguren (Suspiratio) spielen oder übermäßige Onomapoesie (Übermaß des Leidens) bzw. verminderte Dreiklänge (Takte 8, 20, 26; mit dem Tritonus als Diabolus in musica) oder Invocationes (Anrufungen: aufwärts geführte Sextsprünge) einbringen. Nebenbei bemerkt: Flöten sind auch zugange bei den geifernden Kreuzige-Rufen der Menge in Bachs Passionen.
Die dritte Ebene bilden die Vokalstimmen, die in den Takten 5 bis 12 abwärtsgeführt werden (Katabasis) und ebenfalls Seufzerfiguren singen. Diese sind quasi unterstrichen durch die bei Bach sehr selten angegebenen Bogenstriche, die ein klagendes Motiv ergeben. Dieser Crucifixus-Satz ist der Mittelpunkt einer Axialkonstruktion. Auch in seinem 1747 entstandenen Orgelwerk Kanonische Veränderungen über Vom Himmel hoch hat Bach die ursprüngliche Fassung geändert und die zuerst den Zyklus beschließende Variation in die Mitte des Werkes gesetzt, um das sich wiederum axialsymmetrisch die Variationen gruppieren. Auch in seiner Johannes-Passion findet sich die Axialsymmetrie: dort um den Choral Durch dein Gefängnis Gottes Sohn ist uns die Freiheit kommen zentriert. Eine ähnliche Position nimmt in der Kunst der Fuge der Choral Mit Fried und Freud fahr ich dahin ein. Jeweils steht der menschgewordene und leidende, aber auferstandene Gottes-Sohn Jesus Christus im Zentrum der Überlegungen bzw. der musikalischen Meditation. Bereits im siebenteiligen Laudamus te des Gloria der h-Moll-Messe hat Bach dieses Verfahren angewandt. Auch hier steht der gekreuzigte, erniedrigte Gottessohn im Mittelpunkt, um den sich symmetrisch sechs Sätze gruppieren. Dieses Qui tollis peccata mundi charakterisiert Walter Blankenburg „als eine demütig flehende Hinwendung zu dem Gekreuzigten“.
Die übrigen Sätze im Überblick
Nun zum einleitenden Credo in unum Deum (1. Satz des Credo) und dem 2. Satz Patrem omnipotentem, factorem coeli et terrae, visibilium omnium et invisibilium. Gott-Vater, der Schöpfer-Gott, spricht gemäß dem ersten Buch Mose, der Genesis, sein Wort und die Schöpfung hebt an: Deshalb beginnt der Tenor allein – nur vom Continuo begleitet – Credo in unum Deum. Das Schöpfungswort, das die Welt- und Kosmosgeschichte anstößt, wird von derselben Stimmlage vorgebracht, die in den Passionen, Oratorien und Kantaten Bachs die Frohe Botschaft des Evangeliums, das Erlösungswort also, vorträgt. Die Rezitative des Evangelisten werden stets vom Tenor vorgetragen; das heißt, Schöpfungswort und Heilswort entstammen derselben göttlichen Quelle.
Der Satz selbst ist schon optisch altertümelnd konzipiert: als alla breve (wie in der klassischen Vokalpolyphonie). Die Schlüsselung ist analog zu verstehen wie die Darstellung Gott-Vaters mit Bart in der bildenden Kunst. Den Bezug zur Musikgeschichte und damit auch zur Tradition der Liturgie demonstriert Bach über Konfessionsgrenzen hinweg, indem er eine uralte gregorianische Melodie der Credo-Vertonung verwendet.
Das Continuo beginnt nicht gleichzeitig mit dem Tenor, sondern um eine Viertelnote später: Gott spricht sein Schöpfungswort aus, und sogleich kommen Zeit und Raum zur Existenz: Die Continuostimme durchläuft gleich zu Beginn eine komplette Oktave, acht Töne, Diapason genannt, das heißt durchs Ganze gehend, die ganze Schöpfung andeutend. Pausenlos in durchgehenden Vierteln wird der Satz vorangetrieben. Wie ein Uhrwerk läuft die Schöpfung unter der Obhut Gott-Vaters ihrem Ziel entgegen. In toto durchläuft das Continuo zwei volle Oktaven, ein Ausdruck der Größe und Erhabenheit des Schöpfungswerks. Erst im letzten Takt endet die Bewegung in zwei ganzen Noten. Der ganze Satz stellt eine siebenstimmige Fuge dar (von zwei Violinen und fünf Chorstimmen durchgeführt), völlig stringent, ohne Zwischenspiele. Das Kopfmotiv besteht aus sieben Silben, der erste Takt des Generalbasses umfasst sieben abwärtsgeführte Noten: Gott neigt sich seiner Schöpfung zu. Sieben als göttliche Zahl: Sie steht für die Vollkommenheit eines Ganzen, besonders für die göttliche Struktur von irdischen Dingen, vom Siebentagewerk der Schöpfung, über die Einteilung des Festkalenders bis zu den sieben Wundern und „Ich bin es“ (ego eimi)-Selbstzeugnissen Jesu im Johannesevangelium.
Das nachfolgende Geschehen bringt die Vielfalt der Schöpfungselemente vom Sichtbaren bis zum Unsichtbaren ins Spiel: Trompeten, Pauken, Oboen, fünfstimmiger Chor, ein großartiger Hymnus auf den Schöpfer, der Himmel und Erde gemacht hat und beherrscht. Für diesen Zusammenhang erfindet Bach eine beredte Vokalfigur: factorem coeli et terrae beginnt in den höchsten Lagen der jeweiligen Stimme und durchmisst eineinhalb Oktaven abwärtsgeführt: Gott wendet sich aus dem Himmel seiner Schöpfung auf Erden zu. Am Ende des 2. Satzes notiert Bach völlig überraschend in seine autographe Partitur: 84 Takte! Also das Produkt aus 7 und 12, die Vollendung des gesamten göttlichen Plans andeutend: Sowohl die Kosmosgeschichte als auch die Heilsgeschichte liegen allein in Gottes Hand und gelangen deshalb (daher auch der Festjubel dieses Satzes) auch an ihr in Gott gelegenes Ziel!
Mit Satz 3 Et in unum Dominum Jesum Christum beginnt die Vertonung des zweiten, dem Sohn Gottes gewidmeten Glaubensartikels. Das Duett von Sopran und Alt wird begleitet von Streichern, zwei Oboe d’amore (sog. Liebesoboe) und Basso continuo (Generalbass). Als Form wählt Bach einen Kanon, der die engste Verbindung zwischen zwei Stimmen ermöglicht. Der Symbolgehalt erschließt sich sofort: Vater und Sohn sind aufs engste miteinander verbunden. Der Sohn (ihm ist die zweite Stimme zugewiesen) folgt im Abstand einer Viertel, das heißt der Vater ist der Ursprung des Sohnes. Die Gleichheit des Themas bezeugt musikalisch die Einheit des Wesens. Die von Bach vorgenommene akribische Phrasierung des den Vokalstimmen vorausgehenden Instrumentalkanons differenziert jedoch das einheitliche Tonmaterial in der Wiedergabe: Die beiden letzten Achtel (4. und 5. Note) des Motivs sind in der Oberstimme gestoßen artikuliert, in der nachfolgenden Unterstimme aber legato zu spielen. Dies symbolisiert die Unterschiedlichkeit und Realität der Personen. Dies unterstreicht auch der Wechsel der Imitationsintervalle, wodurch die relative Eigenständigkeit der Stimmen angezeigt ist. Zu den Worten descendit de coelis intonieren die Streicher eine auffällige bis zu zwei Oktaven umfassende Abwärtsbewegung.
Der vierte Satz Et incarnatus est ist deutlich in drei Ebenen angelegt: Die beiden Violinen durchwirken den ganzen Satz mit einer unverkennbaren Melodie-Floskel aus fünf Tönen, wobei die Töne 2 bis 4 (zwei aufwärtsgerichtete Achtelgruppen) den sogenannten Chiasmus bilden: Verbindet man mit einer Linie jeweils die beiden äußeren und beiden inneren Noten, ergibt sich ein liegendes Kreuz, in Form des Buchstabens X, der für Christus steht (das griechische Chi als erster Buchstabe des Namens). Nimmt man die erste Note hinzu, dann bilden die Töne 1, 3 und 5 einen Moll-Dreiklang, den wir bei Buttstedt u. a. als Ausdruck der menschlichen Natur des Logos gesehen haben, hier allerdings zusätzlich als abwärtsgerichtete Tonfolge, worin in diesem Kontext das Lebensschicksal Jesu, sein Leiden und Sterben, assoziiert werden. Die ganze Figur steht in h-Moll, der Paralleltonart von D-Dur, was wiederum mit seinen zwei Kreuzen auf den Logos hinweist (In der Johannes-Passion wird die gleiche Tonlage – nämlich die Umspielung des Übergangs von kleiner zur eingestrichenen Oktave – verwendet bei den Worten: „Es ist vollbracht“. Das auf diese Passage Bezug nehmende Praeludium und Fuge h-Moll für Orgel (BWV 544) verwendet dieselbe Tonfolge und weist sich dadurch als Passions-Musik aus). In den letzten fünf Takten übernimmt auch der Generalbass dieses Motiv und führt es über eineinhalb Oktaven in die Tiefe zu den Worten et homo factus est: Der Erlöser ist in der Welt angekommenen, wird die ganze Schöpfung durchmessen und wieder herausführen ins göttliche Licht. Bereits hier lässt sich an die Worte denken: hinabgestiegen in das Reich des Todes.
Besonders augenfällig ist die einleitende und in den Takten 20 bis 27 auf der Dominante erneut erscheinende Repetition auf ein und demselben Ton: Jeweils 24 Mal ertönen h bzw. fis. 24 als Zahl der Tagesstunden ist ein Hinweis auf die Fülle der Zeit, oder anders gesagt: Die Zeit ist erfüllt. So hat Bach in seiner Kantate „Liebster Gott, wann werd ich sterben“ (BWV 8) diese Zahl interpretiert, darauf macht Walter Blankenburg aufmerksam. Das Thema des Chores wiederum besteht direkt aus dem abwärts gerichteten h-Moll-Dreiklang und betont die Kenosis, die Erniedrigung des Gottessohnes.
Nach dem Cruzifixus erscheint wiederum axialsymmetrisch ein Chorsatz (Satz 6), diesmal aber in völlig veränderter Stimmungs- und Kompositionsweise: Das Et resurrexit zieht alle Register und überwältigt die Sinne nach dem Stillstand bei et sepultus est. Jetzt aber jubilieren das gesamte Orchester und der Chor, der real fünfstimmig geführt ist, und zwar im Tempus perfectum, dem 3er-Takt, in D-Dur. Die zentrale Melodie auf den Text ist in sich wiederum axialsymmetrisch gegliedert: Von den Triolen des zweiten Taktes geht es spiegelbildlich zurück auf den Ausgangston a´. Die kleine rhythmische Variante (zwei Viertel- statt zwei Achtelnoten) ist ein Hinweis auf das Neue, das in der Auferstehung aufbricht: derselbe Jesus Christus, doch im neuen Äon (jetzt in der endzeitlichen Phase; die Zeit läuft nicht linear weiter, sondern hat eine neue Qualität).
Nach dem ersten kurzen Instrumentalzwischenspiel wird die Auferstehung musikalisch ab Takt 9 bis hin zum Sopran 1 höchst sinnenfällig musiziert. Der Sopran erreicht den Spitzenton h´´, der ansonsten nur noch einmal in der gesamten Messe erreicht wird, beim Gloria auf das Wort excelsis (Takt 94). Der Sinn ist klar: Der gekreuzigte und auferstandene Jesus ist zu seinem allmächtigen Vater in den Himmeln zurückgekehrt und thront seither selbst als die Person der Trinität im Himmel, die den Seinen eine himmlische Wohnung bereitet. Ein Fundamentalgeheimnis des christlichen Glaubens wird hier aufgezeigt: Christus hat die menschliche Natur mit in den Himmel aufgenommen. Dies zeigt das wahre Wesen der Trinität: die liebende Zuwendung der göttlichen Personen untereinander und zu den Geschöpfen. Das verdeutlicht auch die immer wiederkehrende Triolen-Figur im Thema.
Die enge Verzahnung von Himmel und Erde als Folge der Auferstehung Jesu, die auch im Himmel Freude und Lobpreis der Engel auslöst, wird in der weitausgreifenden Instrumentalführung hörbar: Von den insgesamt 131 Takten dieses Satzes sind 55 Takte reine Instrumentalmusik. Walter Blankenburg erläutert: „Diese haben nun keineswegs nur eine gliedernde Funktion, sondern sollen in Verbindung mit den Glaubensaussagen von der Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft Christi die himmlische Welt symbolisieren, gleichsam ein Himmelskonzert darstellen.“ Der Continuo-Bass spielt den aufwärts gerichteten Dur-Dreiklang als Indiz der göttlichen Natur Jesu Christi. Nur noch ein Detail: Sehr gut hört man z. B. im Bass beim Et iterum die raumgreifende und zeitumspannende Richtertätigkeit des Auferstandenen bei den Worten vivos et mortuos, die fast zwei Oktaven umfassen (e´ bis Fis).
Mit dem Et in Spiritum Sanctum (Satz 7) wird der dritte, auf den Heiligen Geist bezogene Glaubensartikel eingeleitet. Die Bass-Arie spielt vielfältig mit der Dreizahl. Die Tonart ist A-Dur, also drei „Kreuze“. Doch stets ist auch der Hinweis auf die zweite göttliche Person, Christus, den Logos, versteckt enthalten. Zunächst in der Taktwahl: 6/8 bedeuten zwei Zähl- bzw. für die Dirigenten Schlagzeiten. Dann aber natürlich durch die Wahl eines Bassisten und nicht einer hohen Frauenstimme wie sonst üblich. Die Absicht dabei: Die Bassstimme wählt Bach auch in den Passionen und Kantaten für die Person Jesu. Das heißt, der Heilige Geist ist derjenige, der von Jesus im Abendmahlssaal seinen Jüngern verheißen wurde, es ist der Geist Jesu, der anwesend ist und zugleich der Geist des Vaters. Die darin liegende Betonung der zweiten göttlichen Person wird verständlich auf dem Hintergrund der Streitigkeiten über das „Filioque“ vor und auf dem Konzil von Nikaia (Symbolum Nicenum ist das Credo bei Bach überschrieben).
Der Heilige Geist geht aus dem Vater und dem Sohn hervor. Ganz deutlich ist dies vernehmbar in den Takten 43 bis 45, wo der Bassist ex patre Filioque procedit in einer geradezu ausbrechenden Melodie vom cis bis e´, also eine Dezime umfassend (was als Figur der Hyperbolé, als Übertreibung zu deuten ist), dieses Mitwirken des Sohnes bei der „Processio“ des Heiligen Geistes verkündet. Das ganze Stück bringt auch subtil den Vater ein: Alle drei Textabschnitte (Et in Spiritum sanctum; Qui cum Patre et Filio adoratur; Et in unam sanctam catholicam) werden auf der Eins mit dem Continuo eröffnet, auf Zwei setzt der Bass-Solist ein.
Es musizieren drei Solisten, wobei neben dem Bassisten zwei Oboe d’amore musizieren; sie beginnen simultan, die zweite Oboe aber stets um eine Quart oder Terz tiefer spielend. Meist aber setzen sie um einen halben Takt versetzt ein; dabei beginnt stets die Oboe 1, was als engste Verbindung von Vater und Sohn, unter Primat des Vaters zu deuten ist.
Der vorletzte Satz Confiteor unum baptisma in remissionem peccatorum ist – symmetrisch auf den Beginn des Credo verweisend – ein A-Cappella-Satz, lediglich vom Continuo begleitet. Wieder alla breve, und sowohl im Satzbild wie in der Faktur auf alte, niederländische Kompositionstechniken (klassische Vokalpolyphonie) verweisend: Der Satz beginnt mit paarweiser Imitation von Sopran I und II sowie Alt und Tenor. Der Bass ist sozusagen überzählig. Ihm kommen besondere Aufgaben zu, etwa der aufwärtsgeführte Passus duriusculus in den Takten 64 bis 66 als Hinweis auf die Überwindung der Sünde. Die fundamentale Bedeutung der Taufe als Ursakrament der Kirche und der Erlösung wird damit unterstrichen, zumal der Taufbefehl auf Jesus selbst zurückgeht. Die Taufe verweist also in den Ursprung der Kirche; „alte“ Kompositionstechniken und der Rückgriff auf gregorianische Melodik sind da angezeigt. Und folgerichtig ist es der Bass, der in den Takten 73 bis 87 die altkirchliche, bereits zu Beginn des Credo in unum Deum zitierte Gregorianik-Weise wieder aufnimmt. Der Tenor unterstreicht nachdrücklich die Botschaft von der Notwendigkeit der Taufe zur Sündenvergebung, indem er den Cantus firmus nun vom Bass übernimmt und in doppelten Notenwerten vorträgt (Takte 92 bis 117).
Den sensiblen Hörer erfasst ein beinahe mystischer Schauer beim Übergang dieses Satzes zum abschließenden neunten Satz Et expecto resurrectionem mortuorum, et vitam venturi saeculi. Amen. Denn plötzlich staut sich der Satz im Takt 121, weil Bach ein Adagio einführt, während gleichzeitig das Continuo in gleichmäßige, repetierte Viertel übergeht (vgl. Crucifixus). Zudem wird als Vorwegnahme des letzten Satzes schon Et expecto resurrectionem mortuorem deklamiert. Diese Übergangspassage nimmt exakt 24 Takte ein: Die Fülle der Zeit ist gekommen, die Stundenzählung ist ausgereizt, da die 24 Stunden eines Tages mit dem Jüngsten Tag, dem Tag des Gerichts durch den Gottessohn (man denkt an Michelangelo „Jüngstes Gericht“ in der Sixtina) obsolet geworden sind. Denn mit der Auferstehung wird alles neu, alles verwandelt. Leid, Schuld und Tod sind abgeurteilt und überwunden, der neue Äon, das Zeitalter der Erlösten ist angebrochen. Eben diese Phase der Verwandlung zeigen diese 24 Takte auf unerhörte Weise an, die eine selbst für Bach extreme Harmonik aufweist: Eine Kette von nur vorübergehend aufgelösten Dissonanzen zeigen ein hin- und herwogendes Geschehen, das einer letzten harmonischen Auflösung entgegenstrebt. Auf diesem Weg markieren die Takte 137 bis 140 den Übergang in die neue Welt, indem nach kompakter Fünfstimmigkeit nur der Sopran 1 anhebt und im Takt 139 mit der enharmonischen Umdeutung (=Verwandlung) von c auf his einen (im Quintenzirkel weit entfernten) Cis-Dur-Akkord einleitet.
Dann bricht mit Vivace e Allegro im vierfachen Tempo der Auferstehungsjubel herein, den sämtliche Instrumente und Chorstimmen vollziehen. Die jeweiligen Tutti-Einsätze des Chores sind stets von aufstrebenden gebrochenen Dur-Dreiklängen bestimmt, der Trias harmonica perfecta. Der Satz steht in der Haupttonart D-Dur (auch die Haupttonart des Weihnachtsoratoriums) und verweist auf die zweite göttliche Person, die mit ihrer Auferstehung die Auferstehung jedes einzelnen Menschen ontologisch möglich macht. Diese christologische Basis des den ganzen Satz durchziehenden Lobpreises auf die Trinität unterstreicht auch die Wahl eines 2er- anstatt eines 3er-Taktes.
Der überbordende Jubel wird kurzfristig unterbrochen bei Eintritt der abschließenden Worte des Credo et vitam venturi saeculi. Der Satz baut sich in Engführung der Vokalstimmen neu auf, um beim Amen in eine zunehmend fließende Bewegung einzutreten. Im Takt 77 ff. wirft die Trompete 1 dreimal eine Dreitonfolge ein (an das gregorianische Kyrie erinnernd), unterbrochen von einem signifikant hingesetzten e-Moll-Dreiklang (als Reminiszenz an die menschliche Natur des Logos), gefolgt von einem D-Dur-Dreiklang als Signal der göttlichen Natur des Logos.
Mit dem abschließenden Amen-Fugato, das schnell alle Stimmen in ein vorwärtsstürmendes Achtelgewebe hineinreißt, nimmt das Credo seinen fulminanten Abschluss, der ohne ritardando und unter Verzicht auf weitere rhythmische oder harmonische Vertracktheiten geradezu blitzartig hereinbricht: Es ist alles gesagt – die Zukunft ist offen in die Herrlichkeit Gottes hinein.