David, der Gründer der Stadt Jerusalem, und Salomo, der Erbauer des Tempels, stehen am Anfang unserer gemeinsamen jüdisch-christlichen Religionsgeschichte. Ohne Jerusalem und ohne seinen Tempel wären Judentum und Christentum nicht denkbar. Das Mittelalter und noch die frühe Neuzeit stellen in Weltkarten die bewohnte Welt um Jerusalem als ihr Zentrum herum ausgelegt dar.
Der Jerusalemer Tempel wiederum, das „Haus“ par excellence, hebr. bayit, lebt in unseren „Domen“ mit Altar und Tabernakel fort. Frühe Synagogen im Vorderen Orient, wie etwa die von Dura Europos aus dem 3.Jh., stellen sich durch ihre Bildausstattung unmissverständlich als Erben des Tempels dar, während spätere Synagogen in westlichen Ländern architektonisch den christlichen Vorbildern der Tempel-Imitation folgen. Es ist also keine Übertreibung zu sagen, dass Davids Gründerwerk, zusammen mit dem seines Sohnes Salomo, in die DNA unserer jüdisch-christlichen Kultur eingeschrieben ist.
Im Kontext unserer Besinnung auf David im Islam ist zu fragen: Gilt diese genealogische Beziehung auch für den Islam? Kann die islamische David-Gestalt für den christlich-islamischen Dialog fruchtbar gemacht werden?
Die biblischen Voraussetzungen und die westliche Rezeption Davids
Der biblische David ist uns aus einer beispiellos dramatischen Narrative vertraut: Seine in den – für seine Person maßgeblichen – Samuelbüchern gezeichnete Biographie präsentiert eine ungewöhnliche Karriere: zunächst ein einfacher Hirt erwirbt sich der junge David durch seine Geschicklichkeit im Kampf und seine Begabung als Sänger und Harfenspieler das Vertrauen des herrschenden Königs und wird später dank eigener militärischer Leistungen selbst zum König über Judah und Israel ausgerufen. Er fällt jedoch durch ein einziges schweres Vergehen aus der göttlichen Gunst: seine Affäre mit der verheirateten Batsheva, deren Ehemann er heimtückisch ermorden lässt. Obwohl er die Bundeslade in das von ihm neu gegründete Jerusalem gebracht hat und so die Errichtung des Tempels vorbereitet hat, bleibt es ihm verwehrt, den Tempel zu erbauen. Und trotz seiner für seine Zeit einzigartigen königlichen Machtfülle wird sein späteres Leben von Unglücksfällen überschattet. Sein Nachleben als historische Gestalt verdankt er denn auch weniger seiner politischen Karriere als seiner persönlichen Ausstrahlung, seiner Sangeskunst, die ihn als Wiederverkörperung des antiken Hades-Bezwingers Orpheus, als Harfenspieler und Sänger, der die Tierwelt und sogar Landschaften zum Gotteslob zu bewegen vermag, verewigt hat. Die Verwandtschaft zu dieser mythischen Figur verleiht ihm den archetypischen Charakter eines Chaos-Bekämpfers.
Vor allem aber als exemplarischer Frommer, als Dichter von Psalmen, die oft biographisch auf ihn bezogen werden, ist er in der jüdischen und christlichen Frömmigkeit einzigartig präsent. Gegenüber dieser emotionalen Offenheit, die ihn auch als reumütigen Büßer für sein von ihm eingestandenes Fehlverhalten ins Bild bringt, was sowohl im Talmud als auch in der kirchensyrischen Literatur anerkannt wird, steht seine kämpferische Seite eher im Hintergrund. Sie wird gelegentlich politisch reklamiert, nicht nur in einer späten koranischen Sure, sondern im gleichen 7. Jahrhundert auch schon von dem byzantinischen Kaiser-Herrscher Herakleios, der David auf einer Silberplatte als Bezwinger des Riesen Goliath darstellen lässt und dabei seine eigene militärische Leistung der Überwältigung eines überlegenen Gegners im Sinn hat.
In der Renaissance wird David vollends kulturell „vereinnahmt“, er wird zum Nachfahren griechisch-römischer Helden; man denke an Michelangelos Statue, die ihn im Moment seiner Vorbereitung auf den Kampf mit dem überlegenen Gegner als Verkörperung menschlicher Willenskraft darstellt.
In der Theologie wird Davids historische Figur aber überstrahlt von seiner spätantiken, metahistorischen Deutung als messianischer König, dessen Herrschaft „ohne Ende“ sein wird. Die Verheißung der ewig dauernden Herrschaft an das Haus David geht zurück auf 2 Sam 7, 16: „Dein Haus und dein Königtum sollen beständig sein in Ewigkeit vor dir und dein Thron soll ewig bestehen“. Sie wird früh auf Christus übertragen. Schon in der Geburts-Verkündigung an Maria, Lukas 1, 32, wird ihm der Thron Davids verheißen: „Gott der Herr wird ihm den Thron Davids seines Vaters geben und er wird herrschen über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben“. Die Verheißung der David-Nachfolge wird im 4. Jahrhundert festgeschrieben im nizänischen Glaubensbekenntnis, wo es von Christus heißt: hou tes basileias ouk estin telos, „dessen Herrschaft ohne Ende sein wird“.
Diese Verheißung der ewig dauernden Herrschaft an David ist das Rückgrat der Messiashoffnung im Judentum, wo zwar auch der historische David als begnadeter Sänger, ne`im zemirot Yisrael (2 Sam 23, 1), und als Psalmendichter gefeiert wird, wo er aber – schon in einzelnen Qumran-Schriften – vor allem Garant des messianischen Königtums ist. Diese messianische Deutung beherrscht das Denken der Spätantike. Sie hat sich besonders nachhaltig niedergeschlagen in der 15. und 16. Bitte des jüdischen 18-Bitten-Gebets, das in der Substanz bereits auf die Mischna, also die Zeit um 200, zurückgeht. Die beiden Bitten erflehen die Wiederaufrichtung des Thrones Davids: „Nach Jerusalem, deiner Stadt, kehre in Barmherzigkeit zurück und nimm deinen Wohnsitz in ihr, wie Du verheißen hast und erbaue sie in Kürze. Den Thron Davids richte bald in ihr auf. Gepriesen seist du, o Herr, der Jerusalem aufbaut“. „Den Spross Davids, Deines Knechts lasse eilig aus ihr hervorsprießen und sein Horn werde erhöht durch sein Befreiungswerk. Denn auf die Befreiung durch dich hoffen wir alle Tage. Gepriesen seist du o Herr, der das Horn der Befreiung sprießen lässt“.
David präfiguriert den Messias, der Jerusalem wieder aufbauen und sein Volk erlösen wird – wie er in der christlichen Deutung eine Präfiguration Christi ist. Davids metahistorische Präsenz in den beiden Religionen, die seine historische Person in den Hintergrund rückt, wird von keiner anderen biblischen Gestalt erreicht. Diese metahistorische Präsenz Davids ist die gesamte weitere Religionsgeschichte hindurch brisant, denn sie wird in den beiden älteren Religionen von Anfang an exklusivistisch verstanden und erzeugt so eine andauernde Spannung. Mit dieser Spannung ist die koranische Verkündigung schon bald nach ihrem Beginn konfrontiert.
Islam und Spätantike
Zum Verständnis der islamischen David-Tradition müssen wir einen Perspektivwechsel vornehmen. David ist hier Prophet – ein Status, den er bereits in den Qumran-Schriften und in der Apostelgeschichte besitzt –, so dass seine biblische Vita von anstößigen Zügen purgiert ist. So wird die Batsheva-Affäre, die bereits in den Chronik-Büchern verschwiegen wird, nicht berichtet. Vielmehr wird die von David aus ihr gezogene Lehre, die Reue, zum Thema. Denn die koranische Darstellung setzt sich mit der neutestamentlichen und rabbinischen messianischen Deutung des biblischen Berichtes auseinander. In dieser Deutung interessiert an Davids Person zum einen seine Erwähltheit, zum anderen seine Psychologie – konkret seine Bußfertigkeit. Die koranische Gemeinde lernt David in „mittelmekkanischer Zeit“ kennen, konkret: in der Periode der Verkündigung, in der die Auslegung biblischer Geschichten im Vordergrund steht. David – wie auch Salomo – sind hier bereits exegetisch verwandelte Figuren, die in der rabbinischen wie auch syrisch-christlichen Tradition neue Bedeutungsdimensionen erhalten haben. Die Begegnung der Gemeinde mit David geschieht auch nicht in einem beliebigen Moment, sondern findet – wie gezeigt werden kann – in einer ideologisch aufgeheizten Situation statt; der Koran bringt sich hier als eine neue Stimme in eine aktuell-politische Debatte ein. Herausgefordert von der – um die mit David verbundene Wiederherstellung des Gottesreiches kreisenden – byzantinischen Reichsideologie der Zeit entwickelt die koranische Botschaft als Gegenmodell ein eigenes, von mythischen Zügen gereinigtes Herrscherbild. Diese Debatte über den idealen Herrscher bzw. seine im 7. Jahrhundert erfahrenen Verzerrungen ist später, nach dem Durchdringen des Islam, obsolet geworden. Spätere islamische Geschichtsberichte, die die David-Vita selektiv mit erbaulichen Details ausgefüllt haben, wissen nichts mehr von dieser theologisch-politischen Auseinandersetzung der frühen Gemeinde. Sie restituieren die im Koran eliminierten biblischen Daten und präsentieren ein erbauliches David-Bild. Da dieses infolge der Reform um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stark an Autorität verloren hat und heute außerhalb von populären Kontexten praktisch kein Fortleben mehr hat, können wir uns bei unserer Darstellung auf den Koran konzentrieren, dessen besondere Theologie es war, die das Durchdringen des Islam ermöglicht hat. Wie stellt sich David also in der Verkündigung des Propheten Muhammad aus den Jahren 610 – 632 dar?
Der Islam – und mit ihm der Koran – ist ein Spätankömmling in der Religionsgeschichte. Er betritt die Bühne erst in der Spätantike – gemeint nicht als Epoche, sondern als „Denkraum“, in dem Gebildete über die Grenzen von Religionskulturen hinweg ein zentrales Projekt verfolgten, nämlich ihre jeweiligen „antiken“, kanonischen Texte, vor allem die Hebräische Bibel, unter einer veränderten, man könnte sagen: „metahistorischen“ Perspektive, neu zu lesen. Diese Perspektive ist beherrscht vom Wort, vom Logos. Nicht „im Anfang“, sondern „mit dem Anfang“ (d.h. „mit dem Schöpfungswort“) „erschuf Gott Himmel und Erde“, – so interpretiert eine spätantike – auch im Johannes-Prolog reflektierte – Deutung den Text von Gen 1.1. Das Wort geht also der Schöpfung voraus. Nicht mehr Gott allein wirkt in der Geschichte, es ist seine Rede, sein Wort, das wirkt. Faktische Ereignisse haben damit ihre Signifikanz an ihre geistige Bedeutung abgegeben. Die beiden traumatischen – in Jerusalem lokalisierten – Erfahrungen, die die Entstehung der beiden älteren Religionen vorangestoßen hatten, die Kreuzigung Jesu und die Tempelzerstörung, werden von Christen und Juden spirituell verwandelt: die Kreuzigung war durch die Auferstehung verklärt worden, die Tempelzerstörung hatte im Judentum zumindest für einige Zeit die Vorstellung von einem transzendenten, „oberen Jerusalem“ inspiriert, zu dem einzelne exemplarische Fromme in visionären Reisen aufsteigen können. Während aber für die Juden das „obere Jerusalem“ zu keinem Zeitpunkt den Verlust der Stadt und des Tempels aus dem Gedächtnis tilgen konnte, war im christlichen Kontext das in der Johannes-Apokalypse gezeichnete „himmlische Jerusalem“ als Antipode der irdischen Stadt so beherrschend, dass das reale Jerusalem zunächst theologisch kaum eine Rolle spielte.
Erst im 4. Jahrhundert, mit der imperialen Anerkennung des Christentums, trat jene Wende ein, die wir als Hintergrund für die koranische Entwicklung vorauszusetzen haben. Palästina, auf das bis dahin nur die Juden als Erets Israel, als ihr Gelobtes Land, Anspruch erhoben hatten, wurde nun zum christlichen Heiligen Land, zum Land des Herrn (terra sancta/terra domini) umgedeutet und als solches auch dargestellt. Die Madaba-Karte aus dem 5. Jh., die Moses Bild des Gelobten Landes, gesehen vom Berg Nebo, darstellt, bietet eine Übersetzung der biblischen Landschaft in das christliche Heilige Land.
Christliche Exegeten des 4. bis 6. Jahrhunderts traten in eine geschichtstheologische Auseinandersetzung mit den Juden ein, die für Jerusalem eine ihnen allein geltende eschatologische Bedeutung beanspruchten: Biblische Verheißungen wie Ez 36-48 wurden auf den Wiederaufbau des Tempels unter jüdischer Herrschaft gedeutet,, ein Ereignis, dem apokalyptische Kriege vorausgehen würden. Auch die christliche Eschatologie lokalisierte die Ereignisse der Endzeit, die sie chiliastisch in die nahe Zukunft datierten, in Jerusalem. Hier würde nach dem noch auszufechtenden endgültigen Sieg der Christen von dem „letzten römischen Kaiser“ die Herrschaft an Christus übergeben werden. Die Stadt Jerusalem hatte damit religionsübergreifend die Aura des erwarteten Schauplatzes apokalyptischer Ereignisse auf sich gezogen.
Nicht weniger umstritten war die reale Stadt, zu der Juden nur ausnahmsweise, am Gedenktag der Tempelzerstörung, Zugang hatten. Bei solchen Besuchen mussten sie selbst Zeuge der triumphalen Sieges-Architektur – prächtige Kirchen – in Jerusalem werden. Wie die Jerusalem-Darstellung der Madaba-Karte zeigt, galt der Sieg des Christentums über das Judentum als besiegelt. David, der Gründer Jerusalems, war in beiden Religionen enthistorisiert worden; seine historische Gründer-Leistung war in der von Christen dominierten Realität durch das „Neue (christliche) Jerusalem“ abgelöst. Dieses „Neue Jerusalem“ steht in der Tradition der Hadrianischen Neugündung, es trägt deutlich römische Züge wie die beiden säulengerahmten Cardos und die Säule für die Kaiserstatue. Vor allem aber bekräftigt es ideologisch – mit der Exklusion des Tempelbergs, der etwa ein Fünftel der Stadt einnehmen würde, der aber seit römischer Zeit verwüstet war – die anti-jüdische Ausgrenzungspolitik der Römer.
Die koranische David-Perikope
Der Antagonismus zwischen byzantinischem Christentum und Judentum beherrscht das frühe 7. Jahrhundert, das Jahrhundert des Koran, das das Jahrhundert einer „Weltkrise“ ist. James Howard Johnston spricht zu recht von „Weltkrise“, weil die Jahrzehnte lang andauernden Kriege zwischen Byzanz und dem Sassanidenreich, seit 610 geführt von Herakleios, die südmittelmeerischen Gebiete nachhaltig erschütterten. Zwei messianische Bewegungen gerieten in Kollision: die während der Kriege wieder entfachte jüdische und die von den Byzantinern aufrechterhaltene christliche, die das Eintreten der Parousie Christi an imperiale eigene Ansprüche band. Die koranische David-Perikope muss daher unter politischem Aspekt, als eine Stimme in der Auseinandersetzung um die göttlich legitimierte Herrschaft gelesen werden. Es versteht sich dabei von selbst, dass wir den Koran – anders als üblich – als die Mitschrift eines Ereignisses in der Zeit, nicht als ein nur vage datierbares „Buch“ behandeln, dessen Einzeltexte man in beliebiger Folge lesen kann. Die Verkündigung folgt einer wissenschaftlich zu rekonstruierenden Folge von Aussagen, die eine diachrone Lektüre nötig machen. Nicht nur kann man sie inzwischen handschriftlich mit Gewissheit in die erste Hälfte des siebten Jahrhunderts datieren; sie ist aufgrund ihrer stilistischen, vor allem aber hermeneutischen Homogenität als von einem Überbringer stammend anzunehmen. Es ist der islamischen Tradition, die mit Muhammad einen einzigen Verkünder annimmt, also zuzustimmen. Wir wissen durch die neuere Forschung inzwischen sehr viel mehr über die historischen Netzwerke, in die sich die koranische Verkündigung eingebracht hat, als dass wir weiterhin mit von Rätseln und unlösbaren Problemen ausgehen müssten. Um den Koran zu einer uns vertrauten Schrift zu machen, muss es in Zukunft vermehrt um die Wahrnehmung seiner politischen Dimension in seiner Zeit gehen. Die David-Perikope kann als Beispiel dienen.
Die wesentlichen Aussagen über David finden sich konzentriert in Sure 38. Da heißt es – nach einer Klage über den Unglauben der mekkanischen Zeitgenossen – in dem mit biblischen Erzählungen ausgefüllten Mittelteil (V. 17):
17 Sei du geduldig bei dem, was sie sagen!
Und gedenke unseres kraftvollen Dieners David.
Er war bußfertig.
18 Wir machten die Berge dienstbar,
dass sie mit ihm das Lob erschallen lassen,
am Abend und am hellen Morgen,
19 zusammen mit der Schar der Vögel –
ein jeder war mit ihm bußfertig,
20 und wir stärkten seine Herrschaft
und gaben ihm Weisheit und Urteilskraft.
21 Kam zu dir die Kunde der Streitenden?
Damals, als sie über die Mauer in den Palast eindrangen,
22 als sie zu David traten und er vor ihnen erschrak –
da sprachen sie: „Fürchte dich nicht!
Zwei Streitende,
von denen der eine dem anderen Unrecht tat.
Entscheide zwischen uns nach Recht!,
handle nicht willkürlich
und führe uns auf den geraden Weg!“
23 „Dieser mein Bruder hat neunundneunzig Schafe,
ich nur eines. Da sprach er: ‚Vertraue es mir an!’
Und er überwältigte mich in der Rede.“
24 Da sprach er (David): „Er hat dir Unrecht angetan,
dass er dein Schaf zu seinen hinzuforderte“.
Viele, die Besitz zusammenlegen,
tun einander Unrecht. –
Nur die nicht, die glauben und gute Werke tun,
doch wie wenige sind das! –
David ahnte, dass wir ihn prüfen wollten.
Da bat er seinen Herrn um Vergebung,
fiel nieder und kehrte sich ihm demütig zu.
25 Wir vergaben ihm das.
Er ist uns nahe und hat eine schöne Heimkehr.
26 „David!
Wir machen dich zu einem Statthalter auf Erden.
So entscheide du zwischen den Menschen nach Recht
und folge nicht der Willkür,
denn das führt dich ab von Gottes Weg.“
Die von Gottes Weg abweichen
haben eine schwere Strafe zu erwarten
dafür, dass sie den Tag vergaßen,
an dem abgerechnet wird.
Dazu ein kurzer Kommentar: Nicht der aus der Bibel bekannte König David, nicht der charismatische Held, steht vor uns – der koranische David bezaubert allenfalls durch seine Kraft, die Landschaft und die Tierwelt, zum Gotteslob anzustiften (V. 17). Doch auch der anfänglich hymnische Ton wird sogleich von dem ernsthaften Motiv der Bußfertigkeit überstimmt. Die Perikope gehört zusammen mit zwei weiteren über Salomo (V. 30-43) und Hijob (V. 44-45). Alle drei zeichnen sich als „bußfertig“, introspektiv, auwāb, aus, etymologisch abgeleitet von einer Wurzel, die „zurückkehren“ bedeutet. Es geht um den Gedanken der Introspektion und Gewissensprüfung, der sich auch in den Nachbarkulturen mit „Umkehr“ verbindet, hebräisch als teshuva und griechisch als metanoia. Erst der Fortgang zeigt, dass Davids Reue einem besonderen Ereignis in seinem Leben gilt.
Doch zunächst wird in V. 18-9 Davids Lob-Gesang thematisiert. Die für David bewirkte Unterwerfung der Natur und der Tierwelt, vertreten durch die Vögel, lässt David als eine Art Orpheus-Figur erkennen, ein der Christus-Typologie entstammender Gedanke, der aus der Ikonographie bekannt war. Davids schon biblisch bezeugte Begabung zu Harfenspiel und Gesang (1 Chron 23:6, 2 Chron 7:6) hatte ihm in 2 Sam 23:1 den Ruhmestitel ne’im zemirot Yisra’el, der „schönstimmige Sänger Israels“, eingetragen. Im Korantext ist es aber nicht er, der durch seinen Zauber die Natur und Tierwelt unterwirft, sondern es ist Gott, der diese Verwandlung für ihn bewirkt, also keine christologische Referenz.
Von der Inspiration der Landschaft ist in mehreren Psalmen, vor allem in Ps 148:7-10, die Rede: „Berge und alle Hügel, Fruchtbäume und alle Zedern, Wildtiere und alles Vieh, Kriechtiere und geflügelte Vögel… Lobpreisen sollen sie den Namen des Herrn, denn erhaben ist sein Name allein“. Insofern die Psalmen der koranischen Gemeinde als „Davids Schrift“, als seine Rede, gelten, (so in Q 17:55, Q 4:16), könnten diese Aufforderungen biographisch als Davids besondere – die Natur einbeziehende – Akte der Frömmigkeit verstanden werden, die er am Morgen und Abend vollzieht. In der spätantiken Exegese, etwa bei Ephrem von Nisibis (4. Jh.), aber auch im Talmud hat sein Verhältnis zur Natur allerdings eine andere Gewichtung: David erscheint hier als der große Büßer, dessen exzessive Trauer über sein Fehlverhalten sogar von den Vögeln geteilt wird, sie nehmen mit ihm an seinen Bußübungen teil. Gegenüber dieser Bußfertigkeit erscheint sein in V. 20 angesprochenes Königtum zunächst eher marginal.
Auch die einzige im Koran erzählte Episode aus seinem Leben (V. 21-24) soll seine Bußfertigkeit illustrieren: seine Begegnung mit zwei geheimnisvollen Gestalten, die ihm ein Drama vorspielen. Die beiden Männer, die konspirativ in den Palast eingedrungen sind, geben sich als zwei Prozessgegner, khaṣmān, aus und fordern sein Urteil ein. Davids Reaktion, sein Erschaudern, ähnelt demjenigen von Abraham im Angesicht der unbekannten Gäste, die ihn in Mamre aufsuchen. Auch David überkommt Furcht, vielleicht in Vorahnung der nicht menschlichen Natur der beiden Eindringlinge, deren Streitfall er am Ende selbst als eine göttliche Prüfung erkennt, so dass er wie Abraham eingangs mit einem „Fürchte dich nicht!“ besänftigt werden muss.
Der vermeintliche Streitfall, V. 21, entspricht dem Gleichnis Nathans aus 2 Sam 12,1-4, mit dem der Prophet dem König sein Vergehen des Ehebruchs mit der Gattin seines Feldherrn Uriah vorhält: ein reicher Mann, Besitzer großer Herden, bedient sich für sein Gastmahl nicht seiner eigenen Tiere, sondern vergreift sich an dem kargen Besitz seines armen Nachbarn, der nur ein einziges Lamm besitzt, das ihm dazu besonders lieb ist. Das Gleichnis wird in Q 38:22f. aber nicht erzählt, sondern von den beiden Streitenden inszeniert. Anstelle der im biblischen Bericht erwähnten „vielen Schafe und Rinder“ im Besitz des reichen Mannes ist dabei von 99 Schafen die Rede, eine rhetorische Zuspitzung, die eine Rezeption des Jesus-Gleichnisses in Mt 18,12 durchscheinen lässt. In dem Evangeliengleichnis geht es jedoch – ganz unabhängig von der David-Geschichte – um den hohen Wert, den ein Schäfer (Besitzer von hundert Schafen) einem einzigen, verlorenen Schaf beimisst, so dass er sich unter Zurückstellung der gesamten Herde nach ihm auf die Suche macht. Das tertium comparationis bei der Kontextualisierung beider Gleichnisse ist der hohe emotionale Wert des jeweils einen Schafes, den es in den Augen seines Eigentümers besitzt. Während aber das Natan-Gleichnis eine Übersetzung von Davids – vorher berichteten Übergriff auf die eine Frau des Uriah – ist, bleibt das konkrete Vergehen im Koran unausgesprochen.
David geht mit seinem Richtspruch auf den ihm vorgespielten Fall ein, V. 24. Er ahnt jedoch, dass hinter der vorgespielten Entscheidungssuche eine göttliche Prüfung steht und wirft sich demütig nieder, um Vergebung zu erbitten. Die spätantike Lektüre der biblischen Davidgeschichte geht über die biblisch berichtete Zerknirschung Davids hinaus, denn hier geht es um Gewissensprüfung. Im Talmud wird sogar die Übertretung selbst als eine göttliche Prüfung verstanden. Prüfung ist ein Schlüsselbegriff der spätantiken Ethik, die der Innerlichkeit besondere Bedeutung zumisst.
David ist in der Spätantike und so auch koranisch ein „Prophet“, dem charakterliche Integrität eignen sollte. Davids Erschütterung, seine Einsicht in die nicht bestandene göttliche Prüfung, wird dieser Erwartung gerecht. Die nach biblischem Zeugnis mit dem Vergehen verlorene innerweltliche Gunst Gottes, die sein weiteres Schicksal überschattet, wird nicht berührt. Sein Geschick wird vielmehr, nachdem er Vergebung erlangt hat, V. 25, unter einen eschatologischen Aspekt gestellt. Ihn erwartet „eine schöne Heimkehr“, ḥusnu maʾāb, wohl der Eintritt ins Paradies. Maʾāb ist Derivat desselben Verbal-Stammes, von dem auch auwab, ,bußfertig‘, abgeleitet ist. Die Verheißung, dass den zur „Umkehr“ Bereiten (auwab) eine schöne „Heimkehr“ (ma’ab) erwartet, wird also bereits durch die arabische Sprache selbst nahegelegt. Damit ist der historische David im Koran bereits vorgestellt. Aus dem antiken, heroischen und tragischen David ist ein spätantiker eschatologisch orientierter, verinnerlichter David geworden. Dazu passt, dass ihm die Überbringung der Psalmen zugeschrieben wird, die als eine „Schrift“ verstanden werden, eine introspektive Version der Tora, die Mose überbracht hat, und des von Jesus überbrachten Evangeliums.
Weitere Kurzerwähnungen Davids betreffen isolierte Details, etwa seine Fähigkeit, Panzerhemden anzufertigen – ein Können, für das er auch schon in der vorislamischen Legende bekannt war. Auch sein Kampf mit Goliath findet – allerdings erst Jahre später, in einer medinischen Sure – Erwähnung, wobei David als Sieger mit Herrschaft und Weisheit belohnt wird. Diese Details werden in der exegetischen Literatur weiter entfaltet, sie werden jedoch keiner theologischen Stoßrichtung untergeordnet.
Der metahistorische David im Koran
Es folgt mit V. 26 aber noch eine – vielleicht etwas später ergänzte – direkte Anrede an David, die das zentrale (politische) Thema der mittelmekkanischen Verkündigungen aufgreift, nämlich die gerechte Herrschaft, al-ḥukm bi-l-ḥaqq und ihr Verhältnis zu den messianischen Erwartungen der Zeit.
David wird hier – sehr unerwartet nach den vorausgehenden Kontextualisierungen mit dem Naturreich und dem Viehzüchterwesen – als „Statthalter (Gottes) auf Erden“, khalifa, akklamiert, eine einzigartige Auszeichnung, die später, in einem medinischen Vers, nur noch Adam und damit der Menschheit insgesamt zugesprochen wird. Diese Aussage ist innerhalb der Perikope unerwartet politisch. Zieht man aber das Entstehungsmilieu der Verse aus einem von apokalyptischen Erwartungen erschütterten Kontext in Betracht, so ist es kein Zufall, dass David, als einzige historische Gestalt im Koran, mit diesem Titel geehrt wird. Die besondere Auszeichnung als khalīfa muss mit seiner Modellrolle zusammenhängen, die er in der jüdischen und christlichen spätantiken Tradition als Typus des messianischen Königs innehat. Noch der Talmud diskutiert – zu Daniels Beschreibung des Weltgerichts, wo es heißt: „Throne wurden aufgestellt“ – eine messianische Auslegung: Die mehreren Throne seien „zwei Throne“, bestimmt für Gott und den Messiaskönig David“. Wenn sich diese „Zwei Mächte im Himmel“-Theologie bei den Rabbinen auch nicht durchsetzen konnte, so verbindet sich doch mit David für die Juden die nachexilische Hoffnung, dass Gott einen Nachkommen aus dem Haus David erwecken und als zukünftigen irdischen Herrscher einsetzen wird (Jes 11,1; Jer 23,5-6). Der „neue David“ soll über Israel herrschen und wie der von Gott erwählte Gottesdiener David für Recht und Ordnung sorgen: „David, mein Diener soll König über sie sein ….und sie sollen meinen Gesetzen folgen…“. David ist in der Spätantike Symbol einer zukünftigen messianischen Heilszeit.
Der Titel khalīfa, „Stellvertreter“, übersetzt wörtlich aber einen byzantinischen Begriff, „vicarius“, und evoziert damit eine Königtumsvorstellung, die in der byzantinischen politischen Theorie der nach-konstantinischen Zeit eine Gottes-Stellvertreterschaft für den Herrscher reklamierte. In dieser Theorie spielt auch David eine Modellrolle. Gerade diese imperiale Konnotation von Herrschaft wird im Koran nun unterminiert. Hier ist die Auszeichnung mit khalifa/vicarius auf diejenige eines idealen Herrschers zurückgeschnitten, dem keine Zukunftsherrschaft verheißen wird, sondern der den göttlichen Satzungen wie alle anderen Menschen unterliegt, und der sich der Unumstößlichkeit des Jüngsten Gerichts bewusst sein soll. Die Aufforderung, in die Rolle eines musterhaften Königs einzutreten, mündet denn auch ein in eine eschatologische Ermahnung. Von der messianischen Verheißung ist gerade keine Rede.
Die Stadt Davids zwischen den Religionen
Welche Bedeutung fällt nun, wenn in der koranischen Verkündigung schon Davids messianische Bedeutung abgewehrt ist, seiner Stadt, dem im 7. Jahrhundert militärisch und ideologisch so stark umkämpften Jerusalem, zu?
Sure 38 gehört in die mittelmekkanische Zeit, ihre Verkündigung koinzidiert mit den sich zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen Byzanz und dem Sassanidenreich, die schließlich, im Jahre 614, in der Eroberung des byzantinischen Jerusalem durch die Sassaniden kulminieren. Es ist dieses Ereignis, das den katastrophalen Tiefpunkt der einstigen Macht-Fülle der Christen markiert, auf das die koranische Verkündigung antwortet. Die Frage, die sich in dieser Lage stellt, ist: Wessen Erbe ist die – von David gegründete und messianisch in seiner Erwartung stehende – Stadt Jerusalem?
Aus jüdischer Perspektive ist die Antwort eindeutig: Wie das 18-Bitten-Gebet bezeugt, besteht die vitale Erwartung der Rückkehr Gottes in seine Stadt, der Aufrichtung des Thrones Davids und der Herrschaftsübernahme durch einen Messias an seiner Stelle.
Christen könnten Davids messianische Verheißung bereits in dem „Neuen Jerusalem“ bestätigt sehen, in dem die Stadt von christlichen Heiligtümern gefüllt ist. Doch in der politischen Krise, während der andauernden Perserkriege, in denen der status quo gefährdet wird, muss David von neuem für die Gegenwart reklamiert werden. Bei den Hofhistorikern des byzantinischen Herrschers der Zeit erscheint dieser selbst als ein alter ego Davids. Dies manifestiert sich besonders im Kontext des Kampfes um Jerusalem.
Byzantinische Historiker beschreiben die Einnahme Jerusalems im Jahr 614 als ein Ereignis, das mit der Zerstörung von Sakralbauten, der Verschleppung der Reliquie des heiligen Kreuzes und der Ermordung von Gläubigen, die Dimensionen der Zerstörung des davidisch-salomonischen Tempels erreicht hat, ein Bild, das auch im Koran vermittelt wird. Entsprechend wird auch die Rückholung der Kreuzes-Reliquie nach dem Sieg des Herakleios über die Sassaniden im Jahr 630 bei Georgios Pisidis wieder mit David in Verbindung gebracht; Pisidis vergleicht in seinem Gedicht zur Restitution des heiligen Kreuzes (In restitutionem Sanctae Crucis) Herakleios mit dem tanzenden König David, der den Einzug der Bundeslade nach Jerusalem begleitet (2 Samuel 6,5 und 6,14-15), er lässt den Kaiser bei seinem Einzug in Jerusalem mit dem Heiligen Kreuz von tanzenden Engeln begleiten. Diese David-Referenz steht nicht allein. Einen ähnlichen Anspruch auf Verwandtschaft bezeugen die zu Anfang des letzten Jahrhunderts auf Zypern gefundenen Silberplatten aus Herakleios‘ Regierungszeit, auf denen Szenen aus dem Leben Davids dargestellt sind, die typologisch auf Herakleios hinzudeuten scheinen. Sie stellen u.a. Davids Einheirat in die Königsfamilie, und seinen – bereits oben vorgestellten – Sieg über einen übermächtigen Gegner dar. Auch Herakleios hatte in die herrschende Familie eingeheiratet, auch er sollte sich schließlich erfolgreich gegen einem übermächtigen Gegner Chosrow durchsetzen.
Wie wir sahen, spielen gerade diese für die byzantinische Reichsideologie wichtigen, weil auf Herakleios übertragbaren Ereignisse aus dem Leben Davids für das koranische David-Bild gar keine Rolle. So wird der Sieg über Goliath erst Jahre später, in Medina, sehr kurz berichtet. Wenn David vor allem ein Büßer, ein Sänger und eine Art Natur-Magier ist, als Herrscher aber wie jeder andere den Gerichtstag fürchten muss, ist er eine – politisch als solche intendierte – Gegenfigur zu dem byzantinischen Herrscher – und damit geeignet, dessen triumphales Selbstbild als zweiter David zu konterkarieren.
Aber es geht bei der Auseinandersetzung mit Herakleios nicht nur um Polemik. Vielmehr kommt den Ereignissen im byzantinischen Jerusalem eine Schlüsselrolle für die Identitätsbildung der koranischen Gemeinde zu. Wir wissen, ohne dafür koranische Zeugnisse zu besitzen, dass ihre Gebetsrichtung während der mittelmekkanischen Zeit die nach Jerusalem war. Diese Ausrichtung steht in engem Zusammenhang mit einer visionären Erfahrung des Propheten, seiner Nachtreise nach Jerusalem, die in diese Zeit datiert und die im Koran eine prominente Stellung einnimmt: Q 17:1:
Gepriesen sei der seinen Diener nachts reisen ließ
von der heiligen Gebetsstätte (d.h. Mekka) zur fernen Gebetsstätte (d.h. Jerusalem),
die wir ringsum gesegnet haben, um ihm von unseren Zeichen zu zeigen,
Er ist der Hörende, der Wissende.
Der Hintergrund dieser visionären Reise des Propheten, die ihn nach Jerusalem versetzte, ist politisch. Denn die Nachtreise des Propheten dokumentiert eine Annäherung der Gemeinde an das von der Katastrophe 614 heimgesuchte Jerusalem. Die in dieses Jahr datierende Eroberung der christlichen Stadt war für die Monotheisten der südmittelmeerischen Provinzen keine nebensächliche Episode. Angesichts der damit wieder aufflammenden Messias-Erwartungen der Juden und der zeitweiligen Niederschlagung der Aspirationen der Byzantiner war das Ereignis ein Alarmsignal, das auch von der Gemeinde in Mekka eine Stellungnahme herausforderte. Sie manifestiert sich in dem Entrückungsvers, der nun eine „Heiligkeitsachse“ zwischen Mekka und Jerusalem herstellt und damit die mekkanische Gemeinde ein für alle Mal mit Jerusalem verbindet – allerdings nicht mit dem zerstörten Tempel, auch nicht etwa mit den dortigen prächtigen Kirchen, sondern mit der weder jüdischen noch christlichen „ferneren Gebetsstätte“, al-masdjid al-aqsa. Sie ist am ehesten mit dem heiligsten Ort, der bereits von Salomo zur Gebetsrichtung erhoben worden war, dem Tempelberg, zu verbinden, denn sie liegt auf (oder über) dem Areal, „das wir ringsum gesegnet haben“; sie ist jedoch „fern“, also wohl als überirdisch, oder zumindest über dem irdischen Ort schwebend, anzunehmen, als Schauplatz des Gottesdienstes der Engel. Jerusalem ist damit – für etwa ein Jahrzehnt – das sakrale Zentrum der Gemeinde geworden, zu dem hin alle ihre Gebete konvergieren.
Jerusalem der früh-islamischen Gemeinde
Ist Jerusalem für sie – wie für Juden und Christen – der Ort apokalyptischer Ereignisse der Endzeit? Oder ganz apolitisch ein spiritueller Ort des Gottesdienstes? Die islamische Vorstellung lässt sich am ehesten durch eine Gegenüberstellung mit Herakleios‘ Jerusalem-Begriff demonstrieren. Herakleios war es 628 gelungen, die Perser zu besiegen und die Kreuzesreliquie aus Ctesifon zurückzuholen. Im Jahr 630, etwa zeitgleich mit Muhammads Einnahme von Mekka, zieht er wieder in Jerusalem ein. Zu diesem Ereignis, das den Höhepunkt seiner Herrscherkarriere markiert, gibt es eine weitverbreitete Legende, die sein besonderes, am apokalyptischen Denken der Zeit orientiertes Verhältnis zu Jerusalem spiegeln soll. Nach dieser Legende, die u.a. in der Legenda aurea überliefert ist, traf der Kaiser bei seinem Einzug in Jerusalem im Jahre 630, als er die Kreuzesreliquie nach Golgatha zurückbringen will, zunächst auf Hindernisse. Zu Pferd und in kaiserlichem Prunk will er durch das östliche Tor des Tempelbergs einziehen, eben das Tor, durch das nach der Prophezeiung Ezechiels Gott in die Stadt zurückkehren wird, oder – spätantik gedacht – der Messias Ben David eintreten wird. „Doch fielen plötzlich Steine aus dem Tor herunter, so als ob sie es verschließen sollten. Da erschien ein Engel, der ihn zur Demut gemahnt. Der Kaiser legt daraufhin seine Prachtgewänder ab und nähert sich barfüßig dem Tor. Sofort weichen die Steine zurück und lassen ihn passieren.“
Das Szenario nimmt dasjenige der einige Jahrzehnte später redigierten syrischen Pseudo- Methodius-Apokalypse vorweg, nach welcher „der letzte römische Kaiser“ seine Krone vom Haupt nehmen wird und sie dem Gekreuzigten darbringt. Der letzte römische Kaiser wird der chiliastischen Endzeit-Berechnung der Byzantiner zufolge mit der Niederlegung seiner Macht den Weg für das Gottesreich freimachen. Die Legende reflektiert diesen ehrgeizigen apokalyptischen Anspruch, den Herakleios in seiner eigenen Kriegspropaganda zufolge lange Zeit gehegt hat.
Es ist bemerkenswert, dass Muhammad – obwohl faktisch in einem Nachfolge-Verhältnis zu Herakleios stehend, denn die von Herakleios zurückgewonnenen ostmittelmeerischen Provinzen der Byzantiner fielen bereits kurz nach dem Tode des Propheten an die muslimischen Truppen – nicht in die Fußstapfen des „letzten römischen Kaisers“ eintrat und etwa davidische Ansprüche erhob. Ein spätmedinischer Koranvers kann sein ganz anderes Herrscherbild illustrieren: Der aus der gesamten Verkündigung herausragende Vers, der Muhammad für ein einziges Mal eine transzendente Dignität verleiht, ist auch sonst nicht unbeachtet geblieben. Er wird von Abdalmalik, dem Bauherrn des Felsendoms, in seiner großen Bau-Inschrift im Inneren des Baus, in der er auf eigene Namensnennung gänzlich verzichtet, gleich mehrmals zitiert, um den Propheten auf Augenhöhe zu dem theologisch bereits transzendente Dimension besitzenden Jesus zu rücken.
Wieder sind Engel involviert, die ihn als Herrscher, oder besser: als geistigen Führer bestätigen. In Q 33:56 heißt es:
Gott und die Engel beten über dem Propheten,
ihr die ihr glaubt, betet auch ihr über ihm
und wünscht ihm Heil.
Hier ist es aber keine wunderbare Engelerscheinung an einem messianisch konnotierten Ort im irdischen Jerusalem, die den Herrscher bei seinem Einzug in die heilige Stadt unterstützt, sondern ein Engelkollektiv im transzendenten Raum, das seine Würde als geistiges Oberhaupt seiner Gemeinde bestätigt. Der hier eingeblendete Gottesdienst der Engel ist am ehesten im himmlischen Heiligtum, im masdjid al-aqṣā, vorzustellen. Auch hier geht es um gottgewollte Herrschaft, jedoch nicht um imperiale Macht nach byzantinischem Muster oder davidisch-messianisches Königtum, wie von den Juden ersehnt, sondern um die Implementierung der vom Propheten verkündeten sakralen Ordnung, die nicht an eine irdische Herrscherfigur gebunden ist. David, der Prophet, ist zwar historisch ein Vorbild, metahistorisch aber problematisch – eine Herausforderung zum politischen Nachdenken.
Gerade angesichts der politischen Problematik des von zwei Religionen mit David und seiner Stadt verbundenen Messianismus, angesichts der Unversöhntheit von Judentum und Christentum, hat aber das historische Erbe Davids, die Stadt Jerusalem, in kaum zu überschätzender Weise vom Islam profitieren können. Denn die neue islamische sakrale Ordnung hat ca. 60 Jahre nach der Einnahme Jerusalems 638 auch auf das Stadtbild des irdischen Jerusalem ordnend eingewirkt. Nach dieser Einnahme, die laut einem zwischen dem zweiten Kalifen Omar ibn al-Khattab und dem byzantinischen Patriarchen Sophronius abgeschlossenen Vertrag den Christen den Fortbestand ihrer Rechte garantierte, wurde auch den Ansprüchen der Juden Rechnung getragen: nicht nur wurde das Aufenthaltsverbot in der Stadt für sie aufgehoben, es wurde auch der ihnen heilige Ort, der Tempelberg, wieder in die Stadt eingemeindet.
Dem als Bauherrn des 691 fertiggestellten Felsendoms verdienten Abdalmalik ist die bedeutende Leistung zu verdanken, dass der so lange verwüstete, zu einem Zeichen der „Schande“ herabgestufte Tempelberg Salomos wieder mit Gotteshäusern bebaut wurde und das durch das Vakuum augenfällig gemachte Schisma zischen Judentum und Christentum wenigstens architektonisch überbrückt wurde. Der Islam hat sich damit als das erweisen, was er laut einem theologisch herausragenden Koranvers vor allem sein sollte: eine „Gemeinde der Mitte“, man könnte zugespitzt sagen: eine „dazwischentretende Gemeinde“, umma wasat. Es ist erst der islamischen Neu-Ordnung zu verdanken, dass die Schande der sechs Jahrhunderte andauernden Tabuisierung des Tempelbergs, der eigentlichen „Wiege des Monotheismus“, schließlich bedeckt worden ist. Der Bau Abdalmaliks beansprucht dabei nicht viel für die eigene Machtrepräsentation: er zeigt keine imperialen Maßstäbe, ganz anders als der etwa 150 Jahre ältere justinianische „Neue Salomonische Tempel“, die Hagia Sophia in Konstantinopel, sondern rekurriert lediglich mit der identischen Wiederaufnahme des Kuppel-Durchmessers auf die Kirche des lokal am höchsten geehrten Jesus. Auch mit der Auskleidung des Baus mit Mosaiken, die ursprünglich nicht nur innen, sondern auch außen zu sehen waren, wird die Sprache der christlichen Sakralbauten Jerusalems aufgegriffen, mit denen der Bau offenbar in einen Dialog treten soll. Die Inschriften im Inneren – fast durchweg Koranzitate – weisen zwar einzelne christologische Aussagen zurück, lassen aber generell den Tenor einer Harmonisierung, einer auf-Augenhöhe-Stellung von Jesus und Muhammad erkennen.
David zwischen den Religionen
Ein kurzer Rekurs auf die eingangs gestellte Frage nach der Teilhabe des Islam an der jüdisch-christlichen DNA sei an den Schluss gestellt: David spielt bereits zur Zeit der Korangenese in den beiden älteren Religionen unter den biblischen Figuren eine Sonderrolle, insofern er nicht nur historisch Vorbild, sondern als metahistorisch als Herrscher eine Hoffnungsfigur ist. In diesem Punkt erweist sich nun die islamische David-Rezeption als widerständig. Die koranische Verkündigung schließt sich nicht der jüdischen oder christlichen Deutung an, die beide – antagonistisch und daher mit politisch katastrophalen Konsequenzen – David als Präfiguration einer Erlöserfigur in Anspruch nehmen. Der Koran entmythisiert David, stellt ihn zurück in den Kontext der Weisheitsliteratur, den er mit Salomo und Hijob – die beide in derselben Sure zur Sprache kommen – teilt. Sie insistiert auf seinem biblisch bezeugten, aber erst spätantik, d. h. talmudisch und kirchensyrisch fokussierten gottesdienstlichen Eifer und seiner Bußfertigkeit. Vor allem aber stellt sie David als Mittelpunkt, geradezu als Verkörperung des neuralgischen Punktes, der beiden – ebenfalls in der Spätantike herausgebildeten – älteren Religionen dar: David steht im Fokus der für sie charakteristischen messianischen Denkweise, ihrer Annahme eines den Logos verkörpernden und erwarteten Erlösers, der in der Zukunft (wieder)erscheinen wird. Diese „Zwei-Mächte-im-Himmel“-Theologie, die bereits in der rabbinischen Theologie verworfen wurde, stellt in koranischer Sicht die Einheit Gottes infrage. Sie wird daher an allen Stellen, an denen vom Logos die Rede ist, zugunsten der Vorstellung von einer Art „Inverbation“, einer Einkleidung des Logos in verständliches Menschenwort, ausgeschlossen.
Wäre auch der Islam ohne Jerusalem und ohne den Tempel nicht zu denken? Gewiss nicht. Der Islam, konkret die koranische Verkündigung, baut wie die beiden älteren Religionskulturen auf den durch die Tempelzerstörung in Bewegung gesetzten Innovationen auf, auch hier also die Ersetzung des Opfers durch Liturgie, die Fokussierung der himmlischen und dann irdischen Schrift, und eine neue Innerlichkeit. Mit ihrem neuen Heiligtumsbegriff des himmlisch-irdischen Tempels, der „ferneren Gebetsstätte“, des masdjid al-aqsa, stellt sich die koranische Verkündigung in den Kontext spätantiker jüdischer wie christlicher Jerusalem-Vorstellungen. Dass die Entwicklung hier nicht vergleichbar linear verlief, sondern eher dialektisch, erklärt sich aus dem Spät-Hinzugekommen-Sein des Islam, der als Theologumena in einer Zeit des sectarian strife, der theologischen und ideologischen Krise, nicht mehr einfach akzeptiert, sondern auch debattiert zu werden hatte.
David ist also im Koran präsent, aber doch verschieden von seiner biblischen Repräsentation, er ist nur eingeschränkt narrative Figur. Die exegetische und die hagiographische Tradition des Islam, die nachträglich viel biblisches Wissen in seine Vita eingetragen haben, kennen ihn näher als die koranische Gemeinde – nicht aber als menschlich ambivalente Gestalt, sondern eher als emotional vorbildlichen Büßer; sie kennen ihn aber gar nicht mehr als Teil des spätantiken Diskurses, als brisante Figur auf dem Schachbrett einer Argumentation. Der Koran dagegen – das lässt sich an der David-Gestalt von neuem aufzeigen – bietet nicht die Nacherzählung biblischer Geschichten, sondern ist weitgehend auf diesen Geschichten aufbauende politische Theologie, eine kritische, alles mythisch Erscheinende abwehrende Stimme im Konzert zwischen den bereits herausgebildeten Religionen. Dass diese Stimme zu ihrer Zeit nicht gehört worden ist, mag mit der topographischen Marginalität der koranischen Gemeinde begründbar sein. Dass sie auch auf die Dauer nicht gehört worden ist, hängt vor allem mit der rasch erfolgten Tabuisierung des Islam durch frühe christliche Ideologien zusammen, die bereits mit Johannes von Damaskus beginnt. Will man heute aber ernsthaft einen Dialog mit dem Islam beginnen, so wird ein Neubedenken der exklusivistisch aufrechterhaltenen messianischen Ansprüche der beiden älteren Religionen unumgänglich sein. Damit soll nicht die – groteske – Forderung nach der Aufgabe von Messias- bzw. Parusie-Erwartungen erhoben werden, wohl aber daran erinnert werden, dass die hermeneutische Übersetzung der beiden Theologumena in ein inklusivistischeres Denken noch immer ein Desiderat ist.